Eine unerwartete Aktualität hat in diesen Tagen die Studie „Masse und Macht“ gewonnen, die der spätere Nobelpreisträger Elias Canetti 1960 erscheinen ließ. In mehrfacher Hinsicht ist die Thematik des Buches für uns Heutige wichtig. Zunächst wegen seines Hauptthemas, der Masse, aber auch wegen der Corona-Krise, auf die man nach der Lektüre des Buches vielleicht ein wenig anders blickt.
1960 lag der Brand des Wiener Justizpalastes, der Canetti zu seinen Forschungen anregte, immerhin schon dreiunddreißig Jahre zurück. Bereits für Heimito von Doderer, der denselben Vorgang in seinem Roman „Die Dämonen“ behandelte, war dieses Ereignis epochal, bedeutete für ihn nämlich das Ende der ersten österreichischen Demokratie. Canetti seinerseits stand jahrzehntelang unter dem Eindruck seines eigenen Massenerlebnisses. Wie hatte es dazu kommen können, dass selbst ein Individualist wie er mitgerissen wurde? Wie kam es, dass selbst er als ein gebildeter Mensch die Kontrolle über sein Handeln derart weit verlieren konnte? Sicherlich haben noch andere Teilnehmer dieser Vorgänge sich dieselben Fragen gestellt, aber es gab nur einen, der nach der Antwort mit großer Energie und, noch wichtiger, mit einer solch zähen Geduld suchte. Über viele Jahre hinweg dachte Canetti nach, las zum Thema – historische Bücher, alte Reiseberichte, psychiatrische Literatur oder ethnologische Forschungen – und ordnete sein Material. Dazu kamen dann noch die zeitgenössischen Ereignisse, besonders natürlich der Aufstieg des Nationalsozialismus.
Große Teile des Buches sind beschreibend, indem der Autor die Erzählungen verschiedenster Autoren, in diverse Gruppen unterschieden, in lakonischer, betont schmuckloser Prosa zusammenfasst. Für den Leser bringt das den Vorteil mit sich, dass er viel Material geboten, dazu aber auch die Quellen genannt bekommt und damit die Chance erhält, sie selbst zu lesen, selbstständig auszudeuten und ebenso selbstständig weiterzudenken und weiterzuforschen.
Canetti unterscheidet zum Beispiel verschiedene „Meuten“, zu denen unter anderem neben den (religiösen) Klage- und den Jagd- noch die Hetzmeuten zählen; er ordnet die verschiedenen Massen nach der Form und dem Rhythmus ihrer Bewegung; er schreibt über die Bedeutung der Hand und ihrer Gesten oder schildert die Paranoia der Herrscher. Besonders eindrucksvoll sind die Erzählungen über den Sultan von Delhi, der als ein hochgebildeter Mensch ein groteskes Schreckensregime errichtet hatte.
Ich bekam das Buch 1989 in die Hand und hatte dadurch das Vergnügen, die Triftigkeit und Relevanz seiner Überlegungen im Fernsehen vorgeführt zu bekommen. Nicolae Ceaușescu, der rumänische Diktator, hätte vorzüglich in den Reigen der Schreckensgestalten gepasst, die Canetti dem Leser vorführt. Auch dieser Massenmörder sah sich von Feinden umzingelt und stellte sich (vor allem wohl vor sich selbst) als „Überlebenden“ dar, wie Canetti den psychotischen Herrscher sieht und bezeichnet. Sinnfälliger Ausdruck dieser Mischung aus Angst vor der unmittelbaren Umgebung und ihrem Überlebenswillen ist der fanatische Jagdtrieb. Fast alle von ihnen sind besessene Jäger, die Unmengen von Wildtieren zur Strecke bringen; alles liegt tot in einer Reihe, nur er allein überlebte und schaut auf sie hinab… Das Zentralkomitee der SED war ebenfalls in dieser Weise engagiert, aber wenn auch Honecker und Konsorten viel und ziemlich sinnlos herumknallten, es war doch nichts im Vergleich zu dem, was Ceaușescu niederstreckte. Besonders auf Bären hatte er es abgesehen, von denen er wie ein Besessener einen nach dem anderen erlegte, kaum, dass ihm die bedauernswerten Tiere vor den Hochsitz getrieben worden waren.
„Masse und Macht“ war niemals ganz unumstritten. Besonders heftig kritisiert wurde Canetti für seine Deutung von Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“. In den Phantasien des hochrangigen schizophrenen Juristen, die dieser zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach langen Klinikaufenthalten herausgebracht hatte, sah Canetti den Nationalsozialismus vorweggenommen. Darin mochten ihm viele Kritiker nicht folgen.
Hier kommt es jetzt besonders darauf an, wie Canetti die Halluzinationen der Alkoholkranken schildert, die diese im Tremens delirium erfahren. Er stand dabei ganz unter dem Eindruck der Schriften von Emil Kraepelin (1856-1926) und Eugen Bleuler (1857-1939), den beiden Gründungsvätern der modernen Psychiatrie, die in ihren klassischen Lehrwerken die Wahnbilder und Alpträume der Kranken in extenso vorführen. Diese Gespenster boten Canetti die „Gelegenheit, die Masse zu studieren, so wie sie in den Vorstellungen des einzelnen erscheint“. Es sind auch heute noch große Mengen meist kleiner Tiere, die die Kranken quälen, es ist Ungeziefer, das sich auf dem Körper bewegt, und so sind es zunächst die halluzinierten Sensationen des Getasts, unter denen die Deliranten leiden.
Das erste also ist das „Massengefühl der Haut“, das Kribbeln und Krabbeln, als wimmelten Kerbtiere, das zweite die Verkleinerung von allen möglichen Tieren. Die Kleinheit, ja Winzigkeit dieser Wesen ist das Entscheidende. Canetti selbst spricht von „Bazillen“, von denen das breitere Publikum erst seit dem späten 19. Jahrhundert weiß; zuvor erlebte man deshalb Käfer, Ameisen und andere Insekten. Aber sobald sie von ihnen wussten, erlebten auch Kranke im Delirium die unsichtbaren Bazillen: „Die Bazillen aber waren viel kleiner als Ungeziefer, mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen und vermehrten sich noch rascher. Einem größeren und isolierteren Menschen stand eine größere Masse von verschwindend kleinen Geschöpfen gegenüber.“ (Ich muss immer, wenn ich davon lese, an den Reinlichkeitswahn Adolf Hitlers denken, der gar nicht oft genug duschen konnte – fast wie Lady Macbeth, die sich manisch die Hände wusch.)
Es wäre eine ziemlich steile These, wenn man sagen wollte, dass wir heute dem Corona-Virus gegenüberstehen wie ein Alkohol-Delirant-Kranker seinen halluzinierten Bazillen. Aber es gibt doch Gemeinsamkeiten, und diese können (müssen?) dafür verantwortlich sein, dass diese Pandemie viele Menschen psychisch so schwer belastet. Denn ist es nicht so, dass nur die wenigsten von uns wirklich einem Corona-Kranken begegnet sind? Eigentlich erleben wir die Pandemie doch gar nicht… Ich selbst kenne zum Beispiel nicht einmal Leute, die ihrerseits von Corona-Kranken in ihrer Umgebung gehört haben. Wenn ich es nicht jeden Tag, jede Stunde von der grassierenden Krankheit aus Presse, Funk und Fernsehen hörte, würde ich niemals auf den Gedanken kommen, hier herrschte eine Pandemie, vergleichbar der Spanischen Grippe ausgangs des 1. Weltkrieges oder gar der Pest. Wird also etwas wie eine Urangst in uns angesprochen?
Gerade auch im Vergleich mit dem Schreckensregime von Muhammad Tughlak, dem Sultan von Delhi, wird der Unterschied deutlich, den es aber zweifellos auch gibt, wenn man auf vergangene Pandemien schaut. Der Terror, den der Sultan verbreitete, beruhte auf Anschauung – wollten seine Untertanen vor ihm erscheinen und um etwas bitten, so schritten sie an den Leichen der Hingerichteten vorbei, die am Tor des Palastes verwesten. (Ähnliches gab es, ganz nebenbei, in jeder mittelalterlichen Stadt Europas.) Der Schrecken aber, vor dem wir zittern, ist vollkommen unanschaulich, denn die Bilder der Corona-Kranken werden vor uns verborgen, wir selbst leben in Quarantäne, und so haben wir von der Krankheit zwar gehört und lesen über sie, sie aber keinesfalls erlebt.
Die Winzigkeit des Bazillus (des Virus) ist eines seiner Charakteristika; das andere ist seine Ort- und Gesichtslosigkeit. Ganz offensichtlich ist es völlig egal, ob das Virus aus China kommt oder von sonst woher. Es kennt keine Nationalität, und es akzeptiert keine Grenzen, wenn es mit rasender Geschwindigkeit über den Erdball jagt. Das bringt mich zu einem anderen Vergleich.
Ort- und gesichtslos ist auch der Terrorist, vor allem im Unterschied zum Partisanen oder zum Amokläufer. Wie das Virus, so kennt auch der Terrorist kein Ziel. Sein Wesen sind bloße Zerstörung und blinder Hass. Anders als der Partisan, der einfach nur eine Besatzungsmacht vertreiben will, besitzt er weder eine Heimat – oft irrt er in der Welt umher – noch ein Gesicht; selbst sein Name wechselt mit den Gelegenheiten. Er mag auf Steckbriefen gesucht werden, aber wenn man ihn endlich findet, dann sieht er ganz anders aus, denn er ist ein Proteus, eine sich ständig verwandelnde, nicht greifbare Figur, die sich allein über ihre gegen alles und nichts richtende Aggressivität definiert.
Wer erinnert sich noch an den „Sniper“? So wurde jemand genannt, der in Washington aus dem Gebüsch heraus im Oktober 2002 ihm gänzlich gleichgültige Menschen erschoss. Seine Opfer waren für diesen Mörder unbekannte Gestalten in einem öffentlichen Raum von fahler Bedeutungslosigkeit, manchmal nur Schatten zwischen geparkten Autos, Silhouetten vor einem Schaufenster oder Schemen hinter spiegelnden Frontscheiben, und von keinem seiner Opfer konnte dieser Mensch mehr wissen als Geschlecht und ungefähres Alter, wenn er es aus sicherer Entfernung abschoss. Das Motiv des „Snipers“ blieb immer unbekannt; es scheint fast, als habe er keines gehabt, und eben diese Sinnlosigkeit seines Tuns lässt ihn zu dem Urbild eines Terroristen werden.
So hat das Virus mit dem Terroristen zunächst Ort- und Gesichtslosigkeit gemeinsam, zusätzlich noch eine völlig ungerichtete Wut und endlich das (von Anfang an erstrebte?) Resultat ihrer Aktivitäten: die Vernichtung des öffentlichen Raumes, wie wir sie eben jetzt aus ganz anderen Gründen beobachten müssen. Die leeren Straßen; die soziale Distanzierung mit der Einsamkeit besonders der älteren Menschen; die Einschränkung aller politischen Aktivitäten – eine Welt ohne Demonstrationen und ohne parlamentarische Debatten. Allein das Fernsehen bietet noch eine sich Talkshow nennende Simulation der Öffentlichkeit.
Es war ein italienischer Kommunalpolitiker, der das Virus mit unserem Urbild des Terroristen, dem „Sniper“, in Verbindung bringt (Welt online vom 30. März): „Die Gemeinde Vó in Norditalien hat es geschafft, Corona in nur zwei Wochen zu isolieren und dann die Einschränkungen für die Bürger wieder zu lockern. Der Bürgermeister erklärt, wie das ging und warum man sich das Virus wie einen Scharfschützen vorstellen müsse.“
Elias Canetti: Masse und Macht
FISCHER Taschenbuch
592 Seiten,
ISBN: 978-3-596-26544-2
Sowie als E-Book-Ausgabe erhältlich und antiquarisch sind sowohl die gebundene als auch die Taschenbuchausgabe problemlos zu erhalten. Im Internet findet sich eine PDF-Version des Textes.
Hinweis: Die Inhalte der Kolumne geben die Meinung der jeweiligen Autoren wieder. Diese muss nicht im Einklang mit der Meinung der Redaktion stehen.
Abbildungsnachweis:
Portrait Elias Canetti. Quelle: Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau (ANEFO), 1945-1989. Gemeinfrei
Buchumschlag. Fischer Verlag
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