Das Bühnenbild zeigt Zerfall. Stéphane Laimé sorgt dafür, dass einem zuerst Venedig in den Sinn kommt anstelle von Sevilla. Zugemauerte Fenster geben alten Palazzi, von denen der Putz blättert, die triste Anmutung hoffnungslosen Zerfalls und fehlender Perspektiven.
„Don Giovanni“ ist der Abgesang für eine Gesellschaftsordnung, die keine zehn Jahre nach der Prager Uraufführung von „Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni“ in ganz Europa heftig von den Stürmen der französischen Revolution durchgeschüttelt werden wird. In ihrem Verlauf werden der französische König und seine aus Österreich stammende Königin enthauptet, Staaten ausradiert, Besitz- und Machtverhältnisse auf den Kopf gestellt, um am Ende – dem Adel entwunden – dem Bürgertum dienlich zu sein.
Die Vorboten einer Revolution: Viel weniger ist es nämlich nicht, was Wolfgang Amadeus Mozart und sein umtriebiger Librettist Lorenzo Da Ponte da auf die Bühnen geschoben haben. Ihr Don Giovanni ist ein gesetzloser Bursche, der seine eigenen Regeln lebt und die der Gemeinschaft bricht, wann immer es ihm sinnvoll und eigennützlich erscheint – und schlägt damit fast mühelos den Bogen ins Heute, das sich mit der Ausbreitung ähnlicher Haltungen herumschlagen muss. Gleich zu Beginn erdolcht Giovanni den Komtur, Donna Annas und Repräsentant der alten Ordnung. Er lügt, betrügt, und ist in dem, was er für Liebe hält, unersättlich. Doch genau diese Frage – was ist das eigentlich, Liebe? – und die unterschiedlichen Antworten in dieser Oper machen sie so reizvoll und spannend weit über den zeitgebundenen Anlass hinaus.
Ist es die Liebe zwischen Donna Anna und ihrem grundanständigen Don Ottavio, den bürgerlichen Regeln konform, aber auch ein wenig kontur- und spannungslos? Die durch Betrug und Flucht beendete Beziehung von Don Giovanni und Donna Elvira, die nun rächend über der Handlung schwebt? Ist es Don Giovannis gewalttätiger Angriff auf Donna Anna, der im Mord an ihrem Vater endet und ein augenscheinliches Unrecht durch ein viel Größeres ersetzt? Oder war zwischen Donna Anna und Don Giovanni, wie die Exegeten gern raunen, weniger Gewalt im Spiel, als man denken sollte? Triumphiert am Ende die starke und sturmerprobte Liebe zwischen Zerlina und ihrem Masetto, die gerade lernen, sich immer neu zusammenzuraufen? Oder steckt die Liebe gar in der Lust auf interessante Seitenwege, die Zerlina gern erproben würde - allzu leichtgläubig gegenüber den Hoffnungen, die Don Giovanni ihr zu machen scheint. Und was war mit den mehr als 2000 Frauen, die Don Giovanni verführt haben will, wie es sein Alter Ego Leporello höhnisch buchhaltert?
Eine Oper über die Liebe also. Aber am Ende wird immer noch wenig geklärt sein, was Liebe nun ist. Selbst wenn Don Giovanni nicht in eine rotglühende Hölle hinab fährt, sondern in den Armen einer geisterhaften weißen Frau stirbt. Aber davon später.
Mozart/Da Pontes Sevilla jedenfalls hat seine Zukunft zum Zeitpunkt der Handlung offenbar hinter sich. Oder ist das, was man vorschnell als Verfall und Sittenlosigkeit einordnen möchte, nicht auch wieder eine Wahrnehmung derer, die bloß nicht weiter vorausschauen können? Die nur nicht sehen, was hinter dem Gewitter sich an Raum öffnet für neue Entwicklungen und die Endzeitstimmungen erleben, wo doch gleichzeitig die Keime des Neuen zu sprießen beginnen? Don Giovannis hektisches und gesetzloses Treiben korrespondiert vielleicht vor allem mit dieser Orientierungslosigkeit.
Regisseur Jan Bosse inszeniert nicht nur den Verfall und das Böse, das Untergehende und das Fassadenhafte. Sondern auch den übertriebenen glitzernden Prunk, den Don Giovanni auffahren lässt, um wenigstens Zerlina, das Bauernmädchen, beeindrucken zu können. Verführung – eine unwirkliche Show – so wie Don Giovannis kurzes Leben. Eine Show für Zerlina, eine Show für Donna Anna und ihren Verlobten, und am Ende eine knallharte Show im Abgang zur Hölle.
Für den und den nötigen Grusel sorgt zwar der Steinerne Gast vom Grabmal des toten Komturs, aber schließlich ist es die rätselhafte stumme Figur, die sich zum Original-Personal der Oper gesellt und die im Programm als Amor/Tod auftaucht (Anne Müller) und die den Missetäter – ja, was denn? - schützt? Straft? Belohnt? Liebt? Weiteren Nachstellungen entzieht?
Amor/Tod hangelt sich anfangs als eine Art Spiderwoman über den Bühnenvorhang, sie kommentiert wortlos das Geschehen um den Bösewicht. Anne Müller als gelenkige wortlosem Geistwesen gelingt das eindrucksvoll. Man sollte sich davon aber nicht zu viel erwarten - es ist eine nette Idee, so wie die beiden ein wenig altbacken wirkenden Szenen-Anfänge aus den ersten Reihen des Parketts heraus. Kann man die Trennung zwischen Bühne und Publikum wirklich nicht anders überwinden? Die zahlreichen Videoprojektionen kriegen das ja auch hin. Und wer jetzt bei Drehbühne und Dauer-Video automatisch an Christoph Schlingensief und seinen sehr rotativen Bayreuther „Parsifal“ denkt: Jan Bosse hat seine Videomotive klug und ruhig erklärend gewählt, und die rotierende Bühne führt in den wechselnden, aber fast beliebigen Schauplätzen vor, wie sich die eigentlich aus Stein gebaute Ordnung auflöst zur flatternden Stofffassade, hinter der ihre Theaterhaftigkeit sichtbar bleibt. Am Ende bleiben beeindruckende starke Bilder. Denk-Bilder, die sich aber nie vor die Musik drängen.
Denn das ist „Don Giovanni“ ja vor allem: eine Oper. Und zu der liefert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der eleganten, meist dezent zurückgenommenen, aber hin und wieder auch explosiven Stabführung von Adam Fischer pures Mozart-Gold. Nicht verstaubtes Altgold, nicht überscharf gezeichnetes Currentzis-Funkeln, sondern eine fast hypnotische Musik, die die Handlung voran treibt, immer wieder auf das Thema „Liebe“ fokussiert und alles, wirklich alles für die Unterstützung der Singstimmen tut. Und nebenbei eine mögliche Antwort darauf gibt, welche wahre Harmonie einen Weg aus Zerfall und Unrecht weisen könnte.
Und gerade bei den Sängerinnen und Sängern zeigt sich, warum dieser Hamburger „Don Giovanni“ allererste Sahne ist. Verblüffend und großartig die Homogenität im Zusammenklang der Stimmen. Alle singen auf Augen- und Ohrenhöhe – etwas, das auch in bedeutenderen Häusern keineswegs selbstverständlich ist.
Wunderbar vielseitig, zupackend hart, verführerisch weich, spielstark als Don Giovanni: André Schuen. Sein Giovanni ist facettenreich und kein eindimensionaler Tinder-Experte. Mit vielen ironischen Untertönen und sehr bühnenpräsent: Kyle Ketelsen als Leporello. Eine klare Schmelzstimme von hoher Ensemblefähigkeit steuert Julia Kleiter als Donna Anna bei. Und einen statuarischen, machtvollen Komtur Alexander Tsymbalyuk. Federica Lombardi ist eine harte und gar nicht so hilflose Gegenspielerin des Triebtäters, und Masetto ein knuddeliger Bauer, den man einfach mögen muss.
Vom Regiekonzept Jan Bosses profitieren indes am stärksten Zerlina und Don Ottavio. Letzterer, weil er nicht als unentschiedenes Weichei das Racheverlangen seiner Verlobten wieder und wieder an sich vorbeiziehen lassen muss, da seine Handlungsanteile nur schwach ausgeprägt sind. Hier in Hamburg bekommt er seine Würde zurück als honoriger, dezenter, aber gefühlstiefer Bald-Ehemann – ein Rolle, die Dovlet Nurgeldiyev mit seinem vollen, tragfähigen und nuancenreichen Tenor eindrucksvoll unterstreicht.
Vom kleinen, netten, verführbaren Dummchen zur eigenständigen jungen Frau mit einerseits Bindungswillen, andererseits aber auch einer gehörigen Portion Entdeckerfreude und – nicht zu unterschätzen – ausgestattet mit der seltenen Fähigkeit, den malträtierten Partner aufzufangen. Das ist Bosses Zerlina. Eine attraktive junge Frau, die glaubt, dem Bösewicht Paroli bieten zu können, deren Illusionen aber auf dem inszenierten Fest Don Giovannis in einem markerschütternden Schrei zerplatzen. Stark gesungen, stark gespielt und vom Rand in die Mitte geholt von Anna Lucia Richter.
Dieser „Don Giovanni“ hatte es bei der Premiere nicht leicht. Premierenpublikum ist immer etwas ungnädiger, vor allem gern wenn’s gegen den Regisseur geht. Das hatte sich aber in der zweiten Vorstellung längst wieder gelegt, der einzige Buh-Ruf dort hatte keine Chance mehr gegen die Wellen begeisterten Applauses für diese Oper, die zum Besten auf dem gegenwärtigen Spielplan gehört.
Wer nach diesem Bericht immer noch daran zweifelt, dass dieser „Giovanni“ zu einem lang glänzenden Goldstück im Repertoire der Staatsoper werden wird, kann ja mal in den Internet-Trailer zur Oper hineinschauen:
Auf der Homepage der Staatsoper Hamburg erklären die Gesangssolisten, ganz ohne pädagogischen Zeigefinger, wer die Figuren sind, die sie in dieser Oper singen.
Eine reizvolle Vorbereitung zum Opernbesuch.
Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni
BesetzungEine Pause von ca. 25 Minuten nach dem ersten Akt
In italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertexten
Staatsoper Hamburg, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
- Termine und Karten
- Weitere Informationen
YouTube-Video
Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni
Abbildungsnachweis: Alle Fotos: Brinkhoff/Mögenburg
Header: Anne Müller, Anna Lucia Richter, Andrè Schuen
Galerie:
01. Kyle Ketelsen, Julia Kleiter, Andrè Schuen, Anne Müller
02. Andrè Schuen, Kyle Ketelsen; Projektion: Federica Lombardi
03. vorne: Komparserie, Kyle Ketelsen, Anna Lucia Richter, Andrè Schuen, Alexander Roslavets; Mitte: Chor der Hamburgischen Staatsoper; hinten: Anne Müller; Projektion: Alexander Roslavets
04. Julia Kleiter, Dovlet Nurgeldiyev, Projektion: Andrè Schuen
05. vorne Mitte: Dovlet Nurgeldiyev, Julia Kleiter, Federica Lombardi, Anna Lucia Richter, Andrè Schuen, Kyle Ketelsen; hinten: Komparserie; links und rechts außen sowie hinten: Bühnenmusiker des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg
06. Andrè Schuen, Alexander Roslavets
07. Andrè Schuen, Alexander Tsymbalyuk, Anne Müller; Projektion: Anne Müller
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