Die Ausstellung „Untold Stories“ im Kunstpalast Düsseldorf und im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg ist die erste, einzige und letzte eigen-kuratierte Werkschau von Peter Lindbergh (1944-2019), dem Mann, der zwar seinen Namen der Modefotografie verdankt, der aber in dieser Ausstellung – die übrigens nahezu identisch, und etwas früher eröffnet, bis 12.7.2020 im Kunstpalast Düsseldorf läuft – uns allen eines Besseren belehrt. Er beschenkt uns mit dieser Ausstellung, die er selbst nicht mehr erleben durfte.
Die große Erkenntnis beider Ausstellungen ist, dass Lindbergh mehr Künstler als Fotograf war, dass die Modewelt ihn förderte und nicht umgekehrt und dass er ein Geschichtenerzähler war, der mit Mitteln der Fotografie in narrativen Strängen dachte, die mehr mit Film zu tun haben als mit Stills.
Schon nach einer kurzen Zeit in der Ausstellung wird der Besucher gewahr, dass die gut 140 Bilder miteinander zu leben scheinen, wie in einer Wohngemeinschaft. Zwar hat jede Aufnahme ihr eigenes individuelles Leben, sie alle stammen aus jeweils unterschiedlichen Zeiten (von den 1980ern bis zu Lindberghs Tod 2019), sind an unterschiedlichen Orten und mit verschiedenen Protagonisten gemacht, aber sie verbindet eine Handschrift, die schwarz-weiß Reduktion – diese historische Entrückung – und ein ausgeprägtes Interesse an Kommunikation. Das geht so weit, dass die Besucher der Ausstellung die Frage zu beantworten haben: Wer schaut eigentlich wen an? Wir die Portraitierten oder vielmehr die Portraitierten uns? Die intensiven Blicke sind atemberaubend.
Dass der 1944 im polnischen Leszno (dt. Lissa/Wartheland) geborene und in Duisburg aufgewachsene Peter Brodbeck einmal zu den bekanntesten Fotografen gehören würde, war kaum vorhersehbar, obwohl er seit 1962 mit einer Kunst- und später Fotoausbildung früh im Genre ein Zuhause fand. 1973 eröffnete er sein eigenes Fotowerbeatelier, er änderte, internationalisierte seinen Namen in Lindbergh und arbeitete schließlich bis zu seinem Tod, Anfang September 2019, von Paris aus.
Die Verortungen der Fotografien in der Ausstellung zeigt den üblichen Wanderzirkus der Teams von Lindbergh: New York, Los Angeles, Madrid, Paris, London, Ibiza und die französische Provinz u.a.
Wie schwierig es ist, aus einem schier unüberschaubaren Konvolut eine Auswahl für diese „Untold Stories“-Ausstellung zusammenzustellen, weiß jeder, der sich kuratorisch bewähren muss. Auch für Lindbergh war zunächst die zweijährige Auswahl aus dem eigenen Schaffen eine Herausforderung, die eigentliche, viel größere war jedoch, die Reduktion auf eine ausstellbare Summe zu kommen, denn Felix Krämer, Leiter des Kunstpalasts Düsseldorf überließ zwar die Auswahlprozesse Lindbergh vollständig, aber bestand konsequent auf eine maximale Anzahl von um 120 Einzelobjekten.
Im Museum für Kunst und Gewerbe (MKG) fallen sofort die großformatigen tapezierten Fotos im repräsentativen Rotundenaufgang auf. 28, überwiegend Portraits, sorgen dort beeindruckend, obwohl mit einfachsten Mitteln, für einen adäquaten Empfang wie in einer Antikensammlung des Klassizismus. Diese grundsätzliche auf direkte Kommunikation basierende Machart zieht sich dann auch weiter im zweiten Ausstellungsbereich, in dem ebenfalls tapeziert – auf Kante – die Ausstellungsbesucher in das Geschehnis Fotografie ganzkörperlich einbezogen werden. Gerade in diesem Raum wächst das Verständnis für das Denken Lindberghs. Ihn interessiert die einzelne Figur, der Mensch oder kleine interagierende Menschengruppen, die Inszenierungen in den Bildern und im Ausstellungsraum sprechen davon. Sichtbares Interagieren und darüber hinaus, auch jenseits des Fotos, ein Menschenbild auf Augenhöhe. Die Bandbreite im jeweiligen Ausdruck zwischen „Verletzlichkeit, Zerrissenheit oder auch Ruhe und Gelassenheit“, wie es Tulga Beyerle, Direktorin des MKG, mehrfach schrieb und erläuterte, „zeigt die „Essenz von Peter Lindberghs Arbeit: einen durchdringenden und warmen Humanismus“.
Lindbergh sprach von der Natürlichkeit des in sich ruhenden Menschen, die Schönheit produziere und dadurch seinen Fotografien so etwas wie Zeitlosigkeit gäben. Die digitale Bildbearbeitung habe Gesichter massakriert, sagte er einmal, und ihm hätte noch niemand bewiesen, dass man Make-up und Hairstyling brauche, um Schönheit zu entdecken. Mit solchen und weiteren Aussagen brachte er seine Haltung auf den Punkt.
Gerade in den langgestreckten Hauptausstellungsräumen im MKG wird in der rahmenberührenden Blockhängung deutlich dieses erwähnte Beziehungsgeflecht weiter auf- und ausgebaut. Etwas zwischen situativer, teilweise dramatischer Motivik, Einzel- und Gruppenportraits und urbanem- oder Landschaftsraum sowie stilllebenartigen Details, die zeitvergessene Ruhe ausstrahlen.
Durch das häufige Reisen ist Peter Lindbergh mit vielen und sehr unterschiedlichen Menschen in Berührung gekommen. Ihn wunderte in Gesprächen mit Freunden und Bekannten, vor allem in den USA immer wieder, warum eine überwiegende Mehrheit die Todesstrafe für etwas Gutes und Gerechtes halten und diese verteidigten. Er war sich da nicht sicher, ob das Konzept der Todesstrafe gut oder schlecht sei und suchte nach Antwort. Das Thema beschäftige ihn so sehr, dass er anfing, sich mit Fragen von Schuld und Sühne, von Bestrafung und den äußeren Faktoren, die zu Gewaltverbrechen führen, auseinanderzusetzen. Er studierte Fälle, las Gerichtsakten und Gutachten. Schließlich kulminiert das Studierte mit dem vorher beschriebenen Menschenbild und führte regelrecht zu einer Ahrend’schen Konklusion der Trivialität und Banalität des Bösen. Die Verbindung zur Introspektion als Voraussetzung des eigenen Erkennens ist in der Video- und Fotoarbeit „Testament“ (2013) angelegt. Elmer Carroll, ein 1990 in Florida zum Tode verurteilter Mörder stand Lindbergh eine halbe Stunde lang zur Verfügung und ließ sich durch einen Einwegspiegel, den man aus Verhörräumen kennt, ablichten. Er sollte es schaffen, so die Aufgabe, sich selbst in diesem Zeitraum zu betrachten. Wir Betrachter sehen ihn in der Ausstellung aus der Spiegelperspektive, nicht wissend was er denkt, entdeckt, ob und welche Erfahrung er möglicherweise während dieser Zeit gemacht hat. Lindberghs nicht-kommentierende Neutralität, hilft dabei, uns auf das nahezu rein erscheinende Abbild des Menschen Carroll einzulassen. Die Frage nach dessen Schuld verschiebt sich langsam in den Hintergrund und wir erkennen dessen Antlitz, im ursprünglichen Sinn des Wortes: das, was einem entgegenschaut.
Nun sind diese Geschichten auch erzählt.
Peter Lindbergh: Untold Stories
Zu sehen bis 27. September 2020 im
Kunstpalast Düsseldorf, Ehrenhof 4-5, in 40479 Düsseldorf
Geöffnet: Di-So 11-18 Uhr, Do 11-21 Uhr, Mo geschlossen
Eintritt: 10-14€ / ermäßigt: 8-11€, unter 18 Jahren frei
Bitte buchen Sie für den Besuch der Ausstellung Tickets und zusätzlich kostenlose Zeitfenstertickets in unserem Online-Shop, da Sie andernfalls wegen des großen Besucherinteresses an manchen Tagen mit Wartezeiten am Eingang rechnen müssen.
Zu sehen bis 1. November 2020 im
Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, 20099 Hamburg
Geöffnet: Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr
Eintritt: 12 € / ermäßigt 8€, unter 18 Jahren frei
Begleitend zur Ausstellung erscheint im Taschen Verlag ein 320 Seiten umfassender Katalog mit einem Interview zwischen Felix Krämer und Peter Lindbergh sowie einem Text von Wim Wenders. (deutsch/englisch/französisch)
Eine Ausstellung des Kunstpalastes, Düsseldorf, in Kooperation mit dem Peter Lindbergh Studio, mit Stationen im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Hessisches Landesmuseum, Darmstadt und MADRE in Neapel.
YouTube-Videos:
- „Peter Lindbergh: Untold Stories“ im MK&G (0:44)
- In Fashion: Peter Lindbergh interview, uncut footage, 2017 (engl., 1:14:54)
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