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Die von Jakob Leiner zusammengestellte und herausgegebene Anthologie „Ah, ein Herz, verstehe“ bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Medizin und Lyrik. So wie das Heilen eine Kunst ist, ist es auch das Dichten – ob barock, romantisch verklärt oder anatomisch beobachtet

 

Fünf Jahre hat der Herausgeber, der selbst Mediziner und Lyriker ist, an diesem Gedichtband gearbeitet, der nun im Quintus Verlag erschienen ist.

 

Vertreten sind 101 Dichter aus 500 Jahren mit 236 Gedichten. Darunter die Elite der europäischen Dichtkunst von Baudelaire bis Bachmann über Goethe und Schiller, Celan und Hölderlin, Emely Dickinson, John Keats, Heinrich Heine, Nikolaus Lenau und Eduard Mörike bis hin zu heutigen Dichtern wie Ursula Krechel, Rainald Goetz, Ulrike Draesner, Sabine Schiffner und Uwe Tellkamp. Auch Dichter, deren Namen uns Heutigen nicht (mehr) so geläufig sind, steuern treffliche Gedichte zu diesem lesenswerten Band bei.

 

Schillerndes Spektrum von Lyrik und Medizin

„Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren“ lautet der Untertitel dieser Anthologie. Ein „Vorwort in sieben Windungen“ hat Leiner dem Buch vorausgestellt. Das passt: In sieben Windungen schlängelt sich ja auch die Natter um den Stab des Äskulaps im antiken Griechenland. Dieser Äskulapstab ist heute noch das Symbol für Medizin und Heilung. Am Ende des Gedichtbandes werden im Appendix Anmerkungen zu Gedichten geliefert, Biogramme der Autoren und Autorinnen, Nachweise über Texte und sonstige Literatur. Dazwischen befinden sich die mannigfaltigen Gedichte, allesamt angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Krankheit und Gesundheit.

 

COVER und Jakob Leiner F Andreas Heideker

Buchumschlag und Jakob Leiner. Foto: Andreas Heideker

 

Ein Kompendium also, das sich als schillerndes Spektrum eines kulturellen Gedächtnisses auftut. Aufgezeigt werden sowohl die Kunst des Heilens als auch die Aspekte des Krankseins und des Leidens - bis hin zum meist gefürchteten, mitunter herbeigesehnten, immer aber unwiderruflichen Tod. Eingefangen wird in den Gedichten zudem der jeweilige medizinische und lyrische Zeitgeist. Jakob Leiner will mit dieser seiner Gedichtsammlung auch einen Beitrag leisten zur weiteren Beforschung der Themenfelder „Dichterärzt:innen“, „Literatur und Medizin“ und „Arts vor Health“.

 

Waren über Jahrtausende das Wort, die Pflanze und das Messer hilfreiche Utensilien beim Heilen, so müsste Ersteres – also das Wort – laut Leiner aktualisiert werden, wieder mehr an Bedeutung gewinnen. „Deswegen ist diese Anthologie auch als Plädoyer für eine sprechende psychosomatische Medizin der Zukunft zu verstehen. Denn hinter dem Wort und zum Beispiel in der Gesprächstherapie kommt das Menschliche zum Tragen, das sich in Beziehung setzt und ausdrückt“, so Leiner. „Beobachtungen entstehen nie ohne Beobachter:innen. An dieser Stelle knüpft das heilende Ich an ein wissendes lyrisches Ich an. Die (eigene) Sprache trägt sich selbst – sie kann ein Kurort sein.“ Soweit an dieser Stelle die Stimme des Herausgebers der Gedichtsammlung „Ah, ein Herz, verstehe“.

 

Lauschen wir jetzt anderen Stimmen. Es lohnt sich. Denn die im Buch vertretenen Dichter bieten uns Gedankenräume für die unterschiedlichsten Aspekte zum Thema Lyrik und Medizin. Oftmals ist es die Auseinandersetzung mit eigenen medizinischen Erfahrungen, Annahmen und Diagnosen, die in und aus diesen Gedichten spricht. Robert Burton (1577–1640) beispielsweise erzählt uns von der (wahrscheinlich seinerseits empfundenen) „Melancholie – Abriß des Autors“. So lautet der Titel seines Gedichts, in dem es heißt: […] Anderes Leid – Gold gegen die/schmerzvollste Last: Melancholie, und als eine Art Refrain, etwas anders gestaltet, wird die ganze Palette der Melancholie deutlich: […] Anderes Glück vergällt mir die süßeste Last: Melancholie. Eine Zeitreise später nimmt Mary Wortley Montagnu (1689–1762) auf humorvoll-freche Weise „abschied von Bath“: […] auf wiedersehn Deard`s und all ihr zeug/das in ihrem laden glitzert/verblödungsfallen für girls und boys/ein warenhaus der hipster“. Wir nehmen erstaunt zur Kenntnis, das Wort „hipster“ gab es schon anno dazumal. Und wir freuen uns schon jetzt – wir befinden uns ja noch am Anfang der 500 Jahre Lyrik-Zeitreise - über die Mannigfaltigkeit der von Leiner zusammengestellten Gedichte.

 

Johann Christian Günther (1695–1723) beispielsweise stellt in seinem melancholischen Liebesgedicht „Im Rausche“ launig-verliebt fest: […] Küsse sind der Weg zum Leben,/Und der Geist der Poesie […]. Das liest sich hübsch und soll gerne stimmen… Hübsch liest sich auch die Einführung, die der Dichter Albrecht von Haller (1708–1777) seinem Gedicht „Ueber Marianens anscheinende Besserung“ vorangestellt hat: Den 16. Oktober 1736 / Dieses kleine Gedicht, worin die Poesie schwach und nichts als die Rührung des Herzens noch einigermaßen poetisch ist, hat die Zeichen einer Besserung zum Vorwurf, die nach der Ankunft und klugen Sorge des erfahrnen und glücklichen Arztes, Herrn Leib-Medici Werlhofs, sich an dieser geliebten Kranken gewiesen hatten. Es war die Arbeit einer einsamen Stunde, und zwei Tage darauf machte ein unverhoffter Tod der Freude des Ehemannes ein trauriges Ende. Erst dann folgt das eigentliche, gut zwei Seiten umfassende Gedicht, das man nach dieser Einführung gespannt liest.

 

Und unser aller hochverehrter und höchst bekannter Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) schreibt am 6. November offenbar verliebt aus Frankfurt „An Mademoiselle Oeser zu Leipzig“ […] Bald lustig wie ein Bräutigam/Leb`ich und bin halb krank und halb gesund. Am ganzen Leibe wohl, nur in dem Halse wund, Sehr missvergnügt, daß meine Lunge/Nicht so viel Athem reicht, als meine Zunge/Zu manchen Zeiten braucht, wenn sie mit Stolz erzählt/Was ich bei Euch gehabt, und was mir jetzt hier fehl t[…]. Weniger bekannt dürfte den meisten von uns David Ferdinand Koreff (1783­–1853) sein, er spricht uns „Muth“ zu und hat eine Empfehlung für uns: Fühlst du wirklich den Muth,/Nackt Wahrheit die wahre zu schauen?/Spiele mit den Kindern, mein Freund, Habe mit Kranken zu thun. John Keats (1795-1821) hingegen klagt in seiner „Ode an die Nachtigall“ […] Auch Phantasie kann nicht Erlösung bringen,/Wenn ihr nicht Hoffnung einen Weg gebahnt.“

 

Wir könnten hier noch viele der in diesem Band versammelten Dichter und Dichterinnen zu Wort kommen lassen. Doch lesen Sie selbst „Ah, ein Herz, verstehe“. Sie werden mit und in diesen Gedichten viele lohnenswerte Entdeckungen machen. Oder – um es mit einem anonymen Autor und seinem 1818 erschienen Gedicht „Der Doktor Eisenbart“ zu sagen: Das ist die Art, wie ich kurier`,/Sie ist probat, ich bürg` dafür./Daß jedes Mittel Wirkung thut,/Schwör` ich bei meinem Doktorhut.“


Jakob Leiner (Hrg.): „Ah, ein Herz, verstehe“

Gedichte von Heilenden und Kranken aus 500 Jahren

Verlag Quintus Berlin

280 Seiten

ISBN 978-3-96982-102-2

Weitere Informationen (Verlag)

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