Das 22. Japan Filmfest Hamburg läuft seit einigen Tagen als Online-Festival und es lohnt sich, einen Blick auf die japanischen Filmproduktionen der letzten beiden Jahre zu werfen.
„One Cut in the Life“ ist als Naginata-Film angekündigt; das bedeutet Genre Action und Horror. Beides wird in der Tat erschöpfend geliefert. Der aus dem Jahr 2020 stammende Film ist kurz – nur 77 Minuten. Vielleicht wäre mehr nicht zu ertragen gewesen?
Shintarō Hocchi hat das Drehbuch geschrieben, Regie geführt und den Film selbst produziert. Kameramann Ryo Okamura zeigt die Geschehnisse statisch, lakonisch, teilweise geradezu uninteressiert. Manchmal befinden sich die handelnden Personen für einen Moment nicht mal exakt im Bild, der Zuschauer möchte gern alles zurechtschieben, um zu sehen, was da gerade passiert.
Das Thema ist Gewalt – und wie sie entsteht. Durch Acht- und Lieblosigkeit, durch erlernte und erlebte Gewalt, aus Wut und Rachebedürfnis. Oder, wie das Mädchen mit der großen Narbe im Gesicht, Yuka (Rio Kanno), vermutet: „Sie müssen Schmerzen bereiten, um sich selbst zu finden.“
Ein Amoklauf an einer Universität. Wir werden von der ersten Sekunde an hineingeschleudert, ohne Vorbereitung. Wir beobachten weder die Planung noch die Anfahrt, nicht das Eindringen der Amokläufer in die Universität oder das erste Entsetzen, das sie verbreiten.
Als wir dazukommen, liegen bereits ungefähr fünf tote Studenten auf dem Boden der Mensa und die beiden jugendlichen Mörder wirken ein wenig ermüdet, als wäre die erste große Erregung inzwischen bei ihnen vorbei. Sie würfeln darum, welches der beiden in Angststarre an die Wand gepressten Mädchen als nächste erschossen werden soll. Yuka, die eine der beiden, hat also das Spiel verloren – aber dann gibt es Probleme mit dem Gewehr, das Mädchen neben Yuka springt auf, versucht, zu fliehen und wird in den Rücken geschossen.
Weil die Attentäter den Raum verlassen, rangelt sich ein Student, Rintaro (Yuto Kobayashi), unter einem toten Kommilitonen hervor und versucht gemeinsam mit Yuka, der Angeschossenen zu helfen. Doch sofort kommen die beiden Amokläufer zurück und verhindern die Rettung des Mädchens. Jetzt ist ihnen etwas Neues eingefallen: Rintaro bekommt ein Messer – wie scharf es ist, wird ihm kurz an seiner Hand demonstriert – und den Befehl, entweder Yuka oder sich selbst damit umzubringen.
Rintaro ist, das werden wir später noch sehen, ein friedliebender Feingeist. Er fühlt sich mit der Situation und diesem Ansinnen ganz besonders überfordert. Und plötzlich, als ob er die Spannung zerschneiden will oder als wäre es für die Peiniger genug, wenn überhaupt Blut fließt, fährt er Yuka mit dem Messer ins Gesicht und bringt ihr eine tiefe Wunde bei.
Vielleicht wird ihm dadurch erst bewusst, dass er ja nun bewaffnet ist. Vielleicht sind die Täter auch bekifft, das würde ihr seltsam schläfriges Verhalten erklären. Auf jeden Fall gelingt es Rintaro, zuerst den tonangebenden Mörder und dann seinen dicken, willfährigen Kumpan mit dem Messer zu töten. Auf den zweiten jungen Mann sticht er nun immer wilder ein, nachdem der vermutlich längst tot ist. Ein vernünftiger Mensch würde ihm sagen, er sollte es gut sein lassen. Aber vielleicht ist es wirklich etwas viel verlangt, dass jemand in dieser Situation die Contenance bewahren, nur das Nötige tun (töten) und das Überflüssige lassen soll, weil es unappetitlich und übertrieben ist.
Drei Jahre später arbeitet Yuka in der Verwaltung einer Kindertagesstätte, in der sie immer wieder von Kolleginnen gebeten wird, nicht direkt mit den Kindern zu sprechen. Die haben nämlich Angst vor ihrem Narbengesicht – oder verspotten sie deswegen.
Ein bisschen merkwürdig kam mir vor, dass diese Kolleginnen von Yuka, wenn sie so laut über sie reden, dass wir alle (auch Yuka) es hören können, Mutmaßungen darüber anstellen, wie sie wohl zu der Narbe gekommen ist. Es hätte mal geheißen, sie habe die Verletzung bei einem Kriminalfall an der Uni erlitten.
Bitte?! Wir haben bereits in der Mensa etliche Leichen herumliegen sehen, es wirkte ganz so, als wären noch viel mehr im Gebäude verstreut gewesen – über so etwas wird weltweit berichtet. Da wissen die Mädels nach drei Jahren nicht mehr, was passiert ist?
Genauso sonderbar mutet es an, dass Rintaro, der inzwischen bei der Jugendbehörde arbeitet, von seinem Boss gefragt wird, ob er schon einmal einen Toten gesehen hätte. (Bevor beide im hohen Gras ein von den Eltern getötetes Kind finden.) Der junge Sozialarbeiter hat immerhin zwei Menschen umgebracht, wenn auch natürlich in Notwehr. Und davon hat sein Arbeitgeber keine Ahnung?
Unter ihrer entstellenden Narbe leidet Yuka sehr, nicht nur, weil sie ein Kinderschreck geworden ist, sondern auch, weil kein Mann sich jetzt mehr für sie interessiert. Als sie nachts noch unterwegs ist und von einem jungen Mann angemacht wird – hätte sie auch den Zug nach Hause verpasst? – kann sie sich sehr praktisch dadurch vor einer ernsthaften Belästigung retten, dass sie einfach die Narbenseite zeigt. Der Frechling erbleicht und verschwindet.
Trotzdem muss gesagt werden, dass diese Narbe nicht annährend so verunstaltend wirkt, wie fortgesetzt getan wird. Hier hat der Maskenbildner sich nicht wirklich gehen lassen.
Wir sehen Ehefrauen, die in Gegenwart der Kinder (die zwischendurch auch kurz was abkriegen) verprügelt werden; wir hören von einer Oma, die Opa erwürgt hat, weil er ein Pflegefall war, mit dem sie nicht mehr klarkam – während der Enkel daneben saß und sich einem Computerspiel widmete. Als ein Kind verschwindet, verabreden sich mehrere Jugendliche, um dessen Vater abzumurksen und das zu posten. (Kommentar der Betrachter: „Guckt es euch an, das wird bestimmt schnell gelöscht!“).
Und Yuka wird doch noch vergewaltigt, und zwar von einem Freund, dem sie früher viel abgewinnen konnte und der nun mit einer anderen Frau zusammen ist. Die schläft im Nebenzimmer und darf nicht aufwachen – weshalb Yuka, die Rücksichtsvolle, sich nur leise und nicht sehr effektiv wehren kann. Das ist frustrierend anzuschauen und vielleicht für manchen Betrachter schwer verständlich, dürfte jedoch genau so sehr häufig passieren. Einen Fremden abzuwehren ist gewiss allemal leichter, als jemanden am Haar zu reißen oder in die Augen zu spucken, den man doch kennt und der eigentlich kein Feind ist. Auf diese Art entsteht garantiert oft der Tatbestand von ‚einvernehmlichem Sex‘.
So sind die ganzen 77 Minuten vollgestopft mit Gewalt jeder Art und Schattierung, und es wird deutlich, wie sie sich fortpflanzt – beispielsweise beobachtet Yuka den gequälten kleinen Jungen allein auf dem Spielplatz, wie er wild herumstampft. Als sie später nachschaut, sieht sie, dass er Käfer zertreten hat…
Trotz allem endet One Cut in the Life mit einer etwas versöhnlicheren Szene. Der Film ist, alles in allen, schrecklich – und beeindruckend.
22. Japan Filmfest Hamburg
Das Online-Festival ist bis 1.9.2021 zu sehen.
Streaming über Leihkarte.de (Lizenzcodes bis 2.9. gültig.)
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