Packendes Kammerspiel mit zwei exzellenten Schauspielern, die nach dem Schlussapplaus strahlten wie nach einem gelungenen Coup: Sophie von Kessel und Michele Cuciuffo brillieren in „Heilig Abend“, Daniel Kehlmanns „Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr“ im St. Pauli Theater.
Einhellige Begeisterung für das Gastspiel des Münchner Residenztheaters, das Nikolaus Besch zum Hamburger Theater Festival an die Elbe holte.
Ein karger Raum mit schlampig abgeklebten Fensterscheiben und einem kleinen Waschbecken mit Spiegel. Hinter einer Plastikfolie lugt eine Leiter hervor. Eine Baustelle also. Und hier soll ein Verhör stattfinden? Am späten Heiligabend? Ja, ganz offensichtlich. Die Frage ist nur, ob das Kommissariat gerade umgebaut wird und tatsächlich keine anständigen Räume zur Verfügung hat oder ob der Polizist gar keiner ist - vielmehr ein Kidnapper und Psychopath, der an diesem einsamen, unwirtlichen Ort unschuldige Opfer quält. Wer kettet seine Verdächtige schon am Siphon an?! Schon gar eine so elegante Erscheinung wie Judith, die attraktive Philosophieprofessorin. Da hockt sie wie ein Häufchen Elend, während hoch über der Bühne eine Digitaluhr die Zeit ansagt: 22.30 Uhr. Noch 90 Minuten bis Mitternacht. Noch 90 Minuten bis zum Showdown. Dann soll irgendwo eine Bombe platzen.
Anfangs erscheint dieser Verdacht, dass die junge Intellektuelle etwas mit Terrorismus zu tun haben soll, völlig absurd. Judith ist schließlich Inhaberin eines Lehrstuhls für Philosophie. Eine kultivierte, gebildete, überaus begabte Frau, die sich mit struktureller Gewalt auseinandersetzt. Rein theoretisch, natürlich. Sie hat über den farbigen französischen Psychiater und revolutionären Politiker Frantz-Fanon (1925-1961) geforscht, sich mit einer Arbeit über dessen Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“ habilitiert, einem Werk, das auch heute noch als Manifest des Antikolonialismus gilt. Intellektuell ist sie dem Polizisten Thomas, der sich über „Frantz mit tz“ mokiert, aber noch nicht mal den Nachnamen korrekt aussprechen kann, haushoch überlegen.
Sophie von Kessel spielt die Judith mit der subtilen Noblesse der Oberschicht, die das Selbstbewusstsein ihres Standes mit der Flasche aufgesogen hat. Sie braucht ihre Überlegenheit gar nicht groß zur Schau stellen, es scheint anfangs völlig klar, dass sie hier im falschen Film gelandet ist, bloß, weil auf ihrem Computer das Szenario mit der Bombe um Mitternacht auftaucht, begleitet von dem Satz „Wir bekennen uns zu dieser Aktion“. Alles ein riesiges Missverständnis – oder etwa nicht?
Michele Cuciuffos Polizist Thomas ist der kongeniale Gegenspieler. Ein Bauchmensch, ein Kraftmensch, ein Gewaltmensch, ein Genussmensch. Ein Mann aus dem Volk, bauernschlau, gewieft, routiniert und – wenn es sein muss – gnadenlos brutal. In ihm spiegeln sich alle Facetten bekannter TV-Bullen, seine netten Seiten erinnern an Commissario Brunetti, Colombo, auch Leonetti und Gallien (für alle, die sich noch an Lino Ventura erinnern). Die weniger netten an irgendwelche durchgeknallten US-Cops. Das Katz-und-Maus-Spiel beherrscht er perfekt, die Eröffnung des Verhörs mit Kaffee und Zigaretten. Harmloses Geplauder über die geschiedene Frau und die Tochter, philosophische Fragen zum Sein an sich. Man weiß lange nicht, vorauf das Ganze hinausläuft. Mal scheint Judith die Oberhand zu gewinnen, mal Thomas, der ihre Habilitationsschrift in Fetzen zerreißt, demonstriert, dass er auch ohne Probleme zu Foltern versteht, aber offenbar alles, einfach alles über Judiths Leben weiß.
Eine überraschende Wendung nimmt das von Thomas Birkmeir mit präzisem Timing inszenierte Stück, als Judith erfährt, dass ihr Ex-Mann Peter, mit dem sie den Anschlag geplant haben soll, in der Zelle nebenan verhört wird. Da ist es mit der Souveränität auf einmal vorbei, da wird es persönlich, geht ins Eingemachte, da zeigt Sophie von Kessel, wie beredt Augen sprechen können. Und währenddessen verrinnt die Zeit, steigt die Nervosität von Sekunde zu Sekunde. Punkt Mitternacht zerreißt tatsächlich ein Anschlag den Heiligen Abend - doch ein ganz anderer als erwartet.
Mit „Heilig Abend“ ist Daniel Kehlmann ein Stück gelungen, zu dem der Begriff „Krimi“ passt, wie ein schlechtsitzender Anzug. „Heilig Abend“ ist vielmehr ein als Krimi getarntes philosophisches Werk, in dem Fragen nach Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, staatlicher Gewalt und Menschenwürde angesprochen werden. Manche Zitate hören sich, wie Thomas zwischendurch bemerkt, tatsächlich an, als seien sie den 1970er Jahren entsprungen. Manche zeigen die extreme Zerrissenheit der Person Judiths. In jedem Fall aber regen sie zum Denken an - und zur Auseinandersetzung. Oder würden Sie Judiths Aussage, „vielleicht ist es manchmal besser, etwas Falsches zu tun als nichts zu tun“, widerspruchslos hinnehmen?
Heilig Abend
von Daniel KehlmannEin Stück für zwei Schauspieler und eine Uhr. Eine Produktion des Residenztheaters München
Mit: Sophie von Kessel, Michele Cuciuffo,
Regie: Thomas Birkmeir, Bühne: Andreas Lungenschmid, Kostüme: Irmgard Kersting, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Laura Olivi
Abbildungsnachweis:
Header und Fotos im Fließtext: Thomas Aurin
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