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Was für eine Horrorvorstellung: als Schauspieler die Stimme – als Fußballspieler die Füße – als Philosoph den Verstand – als Komponist das Gehör – und als Konzertpianist beide Hände zu verlieren! Allein der Gedanke daran reicht aus, um sich wie in einem Alptraum zu fühlen, in Verzweiflung zu geraten oder aus Angst vor einem tief reichenden Identitätsverlust zu erschauern.

 

1924
1924 – Das ist das Jahr, in dem Lenin stirbt, die Türkei die Abschaffung des Kalifats beschließt und J. Edgar Hoover Chef des von ihm initiierten FBI wird. Es ist das Jahr, in dem ein schwacher Sender vom Dach eines Gebäudes in Wien die erste reguläre Rundfunksendung Österreichs ausstrahlt, in Berlin der elektrische S-Bahnbetrieb aufgenommen wird sowie Anton Bruckners „Nullte Sinfonie“ in d-Moll – 28 Jahre nach dessen Tod – und George Gershwins „Rhapsody in Blue“ erstmals aufgeführt werden.

 

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1924 ist auch das Jahr, in dem Drehbuchautor und Regisseur Robert Wiene (1873-1938) seinen Film „Orlacs Hände“ in Wien uraufführt. Vier Jahre zuvor brillierten er und sein Hauptdarsteller Conrad Veidt bereits mit dem bis heute internationalen Kultklassiker und Meisterwerk des expressionistischen Kinos „Das Kabinett des Dr. Caligari“.


Die Kernhandlung von „Orlacs Hände“ ist schnell erzählt: Dem Konzertpianisten Paul Orlac, der bei einem Zugunglück beide Hände verloren hat, werden von einem Arzt die Hände eines Mörders angenäht. Alles kreist nun um die Frage, was es bedeutet, die Körperteile eines Fremden, eines Verbrechers zu erhalten. Das im Plot entwickelte Orlac-Psychogramm steigert sich in Panikattacken und Ängste. Die Vorstellung, dass seinen Händen die Psyche des Gewalttäters innewohnen würde, ruft bei ihm Grausen und Entsetzen hervor, verstärkt durch anonyme Drohbriefe. Schließlich gerät Paul Orlac tatsächlich unter Mordverdacht. Das Komplott klärt sich jedoch ganz logisch und Orlac entlastend auf. Ohne jedwede Mystik löst sich die Anspannung und der Protagonist findet schließlich seine Ruhe.


Die Dramatik prägt die Visualisierung der Geschichte. Uns begegnen auf der Kinoleinwand angespannte Hände und gekrampfte Finger, die das Grauen verdeutlichen. Weit aufgerissene Augen, in denen sich Panik Bahn bricht und psychische, nervliche Verzweiflung widerspiegeln. Die Handschrift war einmal, der Anschlag am Piano scheint Vergangenheit, die Zärtlichkeit, die von den Händen ausgehen konnten, sind nur noch eine schwache Erinnerung. Gibt es eine Zukunft für einen Körper, der mit den Händen eines hingerichteten Mörders lebt?


Zeitgeschichtlich funktioniert der Stummfilm, der sich auf das gleichnamige Buch „Les Mains d’Orlac“ (1920) des französischen Science-Fiction-Schriftstellers und Autors phantastischer Literatur Maurice Renard (1875-1939) bezieht, als Spiegel seiner Zeit. Mit ihrer expressiven Haltung fokussieren Buch und Film die Angst vor medizinischem Fortschritt, im Besonderen vor Transplantation, vor außer Kontrolle laufenden Experimenten und vor einer übernatürlichen Macht, die die Geschehnisse geheimnisvoll steuert, aber auch allgemein vor dem Rätselhaften, dem Unerklärlichen und Phantastischem.

 

2018
Der aus Köln stammende und in Wien lebende Komponist Johannes Kalitzke (*1959) erarbeitet im Auftrag des Stuttgarter Kammerorchesters für diesen Stummfilm eine „Partitur der Ängste“.
Kalitzke hat mit Aufträgen dieser Art kompositorische Erfahrung: Bereits sein 2012 kreierter Musikzyklus zum Stummfilm „Die Weber“ (1927) von Friedrich Zelnik nach dem gleichnamigen Drama (1893/1894) von Gerhart Hauptmann für die Berliner Festspiele zeigt eine musikalisch außerordentliche, eigenständige Kraft. Johannes Kalitzkes Orchestrierung entwickelt eine sehr empfindsame Annäherung sowohl an das Thema als auch das Filmformat, setzt Klangbilder ein, die wie Kritiken und eigenständige Deutungen erscheinen, indem sie über rein deskriptive Elemente hinausgehen und die Expressivität der Bilder unterstützen. Gerade in der Qualität der Kommentierung und Deutung, im musikalischen Thema des langsamen Energieverlusts von Widerstand liegt die künstlerische, souveräne Präsenz dieses Werks.

 

Wie Johannes Kalitzke „Orlacs Hände“ zum Klingen bringt
Die Komposition für „Orlacs Hände“ schafft, nach Aussage von Johannes Kalitzke, eine wiederum eigene Verbindung von expressionistischem Stummfilm und neuer musikalischer Textur.
„Stummfilme“, so Kalitzke „verstehen sich als genuine Kunstform und explizit nicht als Entertainment. Es ist also nicht damit getan, das bewegte Bild zu illustrieren oder einfach nur zu verdoppeln. Es geht darum, die psychologischen Hintergründe zu kommentieren. ‚Orlac‘ besteht zum größten Teil aus Projektion und Angstneurosen; Verlustängste als Künstler und Pianist. Film wie Musik stellen das Innenleben dieser Person dar. Dieses dreht sich konsequent um das Klavier. Die gesamte musikalische Textur wird vom Innenleben des Klaviers aufgezogen. Insofern ist meine musikalische Betrachtung auf die psychologische Prozedur fokussiert.“


„Bestimmt der Wille den Körper oder wird der Wille vom Körper korrumpiert? Die Antwort liefert der Film nicht“, meint Kalitzke. Dies aber interessiere ihn. Auch wie sich die Umwelt Orlacs auf all das einstelle. „Die Innenaufnahmen im Stummfilm bestehen aus unbewohnbaren Räumlichkeiten. Es gibt darin keinen einzigen Raum, in dem sich Schauspieler oder Zuschauer wohl- oder gar heimisch fühlen könnten.“
Und zu Recht verweist der Komponist darauf, dass im Film Räume und Objekte zu groß, zu grob erscheinen und nicht richtig funktionieren. Diese Unbewohnbarkeit ist das künstlerische Ausdrucks- und Stilmittel Robert Wienes, das den expressiv-theatralisch agierenden Filmdarstellern gegenübersteht und die Szenerien prägt. Auch das findet bei Kalitzke seine musikalische Entsprechung.

 

Was kann die Musik dem Film hinzufügen?
Es gibt konkrete Hinweise auf Kompositionen im Stummfilm, mit denen sich Paul Orlac beschäftigt hat – mit Liszt und Chopin. Eines der konkreten stummfilmisch-musikalischen Zeichen ist der Moment, als sich Orlac eine Schellackplatte auflegt, die er selbst einmal eingespielt hat. Auf ihr ist zu lesen: „Friedrich Chopin: ‚Nocturno‘, Op. 55, Nr. 2, I. Teil“. Ansonsten bleibt das Klavier als Instrument das zentrale Symbol für Orlacs berufliche Existenz und persönliche Identität.


Bei der zum Stummfilm entstandenen Komposition spaltet sich das Instrument: „Das Klavier wird nun auf drei verschiedene Instrumente aufgeteilt. Es gibt ein normales Klavier – das wird im Sinn von Chopin benutzt. Dann gibt es ein präpariertes Klavier, quasi ein ‚gepierctes‘, welches die normalen Klavierklänge denaturiert, ein gewissermaßen ‚dunkles Schattenklavier‘. Und schließlich gibt es noch einen elektronischen Sampler, in dem das Klangmaterial aus dem Innenraum des Klaviers (perkussiv, Flageolett-artig etc.) ein Eigenleben führen kann“, erläutert Kaltizke.
„Akustisch gibt es im Film für mich eine Stelle“, führt er beispielhaft aus, „in der Orlac ein Klavier erbricht – und das klingt tatsächlich so, als ob aus dem Pianisten ein Klavier herausfällt, zerkracht, zersplittert. Solche Elemente stelle ich elektronisch her, natürlich nicht ganz so plakativ, wie ich es hier beschreibe… Wie sonst sollte man die drastischen Phobien des Orlac klanglich nachzeichnen?“


Am Ende, so scheint es, hat sich Johannes Kalitzke im Jahr 2018 in den Kopf und in das Klavier des Paul Orlac von 1924 hineinversetzt. Mit Hilfe dieser Filmfigur bringt er dem Zuhörer von heute nicht nur das phantastische cineastische Werk von Robert Wiene musikalisch nahe, sondern schafft den Spagat, unsere postmodernen Zeiten kommentierend zum Klingen zu bringen.


Aspekte Festival: Orlacs Hände

28. April 2018, 19:30 bis 21:00 Uhr im republic, Anton-Neumayr-Platz 2, A-5020 Salzburg
Johannes Kalitzke: Musik zum Stummfilm „Orlacs Hände“ von Robert Wiene (1924) (UA)
Kompositionsauftrag des Stuttgarter Kammerorchesters
Stuttgarter Kammerorchester,
Leitung: Johannes Kalitzke
Einzelkarten: € 20,- / €10,- *
* Der reduzierte Preis gilt für Schüler, Studierende bis 26 Jahre und Präsenz- und Zivildiener, nach Vorlage eines gültigen Nachweises.
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis Galerie:
01. Johannes Kalitzke. Foto: Nafez Rerhuf
02. Stuttgarter Kammerorchester. Foto-Copyright: Reiner Pfisterer
03.-04. Orlacs Hände
, 1924; Filmstills

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