Cinefest Hamburg 2014: Gegen-Öffentlichkeiten im Dokumentarfilm
- Geschrieben von Mirjam Kappes -
Das Hamburger Cinefest widmet sich dieses Jahr dem Dokumentarfilm: Beleuchtet wird die Entwicklung der Gattung an historischen Beispielen der deutschen und europäischen Filmgeschichte.
Leichte, mobile 16mm-Kameras und tragbare Tonbandgeräte: Durch neue technische Möglichkeiten begann für den Dokumentarfilm in den 1960er-Jahren eine besonders produktive Phase. Dadurch, dass dokumentarische Aufzeichnungssituationen und -prozesse für Filmemacher nun flexibler gestaltbar wurden, änderten sich auch filmische Darstellungspraktiken und Herangehensweisen. Gleichzeitig markierten die 60er auch eine Zeit großer politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen: Proteste gegen den Vietnamkrieg, gegen Atomkraft oder für eine liberalere Gesellschaftsordnung prägten den öffentlichen Diskurs.
Im brisanten Machtgefüge von konservativem Obrigkeitsstaat, Mainstream-Medienlandschaft und oppositionellen Gruppierungen fungierte der Dokumentarfilm nicht nur als Informations- und Aufklärungsinstrument, um realweltliche Ereignisse fürs Publikum beweis- und nachvollziehbar auf Zelluloid zu bannen, sondern wurde zugleich – auch durch die Weiterentwicklung seiner künstlerischen Formen – zum zentralen Medium, um dominierende Diskurse zu hinterfragen (bzw. zu durchbrechen) und mögliche Gegenmeinungen zu artikulieren.
Unter dem Motto „Gegen? Öffentlichkeit! Neue Wege des Dokumentarischen“ werden beim diesjährigen Cinefest, dem Internationalen Festival des deutschen Film-Erbes, genau diese Entwicklungen in den Fokus gerückt. Im Rahmen der neuntägigen Veranstaltungsreihe, die vom 15. bis 23. November 2014 in Hamburg stattfindet, wird ein Blick auf das deutsche und europäische Dokumentarfilmschaffen von 1960 bis in die frühen 2000er-Jahre geworfen – inklusive Rahmenprogramm mit Diskussionsforum, Fachkongress und einer Begleitausstellung, die in der Zentralbibliothek der Hamburger Bücherhallen anzusehen ist.
Entsprechend des gewählten Mottos liegt es nahe, dass das Cinefest gerade dem politisch motivierten Dokumentarfilm viel Aufmerksamkeit schenkt. Schon nach den ersten Festivaltagen sind dazu einige Produktionen aus dem Programm besonders hervorgestochen, zum Beispiel „Von der Revolte zur Revolution“ (BRD 1968/69), der Formen studentischen Protestes dokumentiert: u.a. nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, wo Studenten vor dem Springer-Haus in Hamburg protestierten, ebenso wie bei alternativen Demonstrationen zur DGB-Maifeier oder dem „Sternmarsch nach Bonn“, der gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze gerichtet war. Auch „Rote Fahnen sieht man besser“ (BRD 1970/71), bei dessen Screening Regisseur Rolf Schübel selbst anwesend gewesen ist, hat Eindruck hinterlassen: Der Film zeigt die Stilllegung des Krefelder Chemiewerks Phrix AG und begleitet vier Betroffene auf ihrem Weg, zeigt ihre Ängste und Nöte, bis zum traurigen Ende in die Arbeitslosigkeit. Oder der Film „Der Kandidat“ (BRD 1979/80), das bissige Polit-Porträt über Skandalpolitiker Franz Josef Strauß, der vom vierköpfigen Regie-Kollektiv um Alexander Kluge und Volker Schlöndorff gezielt dazu gedreht wurde, um Strauß’ Wahl zum Bundeskanzler zu sabotieren. In den nächsten Tagen will das Cinefest weitere prominente Beispiele des politischen Dokumentarfilms zeigen, darunter „Starbuck Holger Meins“ (D 2001) über das RAF-Mitglied Holger Meins, „Leipzig im Herbst“ (DDR 1989), der die Massendemonstrationen in den letzten Tagen vor dem Fall der Mauer illustriert, oder „Gorleben: Der Traum von einer Sache“ (BRD 1980/81), der das Aufeinandertreffen von Atomkraftgegnern und Polizei dokumentiert.
Gegen-Öffentlichkeit, das bedeutet aber auch: Alltagsrealitäten zeigen, in die man sonst keine Einblicke hat, und denjenigen zu Wort kommen lassen, die sonst nicht gehört werden. Dazu liegt ein weiterer Schwerpunkt des Festivals auf Dokumentarfilmen über Arbeitswelten, die seit den 1950er Jahren starken Veränderungen unterworfen waren – von der Handarbeit zur technisierten und automatisierten Massenproduktion und der nachfolgenden grundlegenden Neustrukturierung von Betrieben und Arbeitsplätzen, was angesichts der drohenden Arbeitslosigkeit Gewerkschaftsaktivitäten und Streiks nach sich zog. Dazu zeigt das Cinefest Filme wie „Der VW-Komplex“ (BRD/F 1988/89) über die Fließbandarbeit im Werk des Automobilherstellers, oder die Langzeitdokumentation „Leben in Wittstock“ (DDR 1984), in der drei Textilfabrik-Arbeiterinnen sehr offen ihre Kritik über ihre Situation äußern. Weitere Einblicke in die DDR-Arbeitswelt werden mit „Die Wäscherinnen“ (DDR 1972) oder der Bergwerks-Dokumentation „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann“ (DDR 1989) gegeben. Den Blick über den Teich wirft die Filmreihe „British Film in Opposition“, die verschiedene Produktionen aus den Jahren 1971 bzw. 1984 über streikende Arbeiterbewegungen zeigt.
Der Dokumentarfilm selbst ist jedoch niemals nur reines Darstellungsmedium. Er ist immer auch ein künstlerisch gestaltetes Produkt, das im Bestreben des „authentischen“ Festhaltens gesellschaftlicher Umbruchssituationen immer wieder neue ästhetische, dramaturgische und narrative Wege beschritten hat. Eine zentrale Entwicklung ist hier der Essay-Film, der das Gezeigte – meist kompilierte Mischformen aus fiktivem und dokumentarischem Bildmaterial – mit Hilfe stark subjektiver Erzählweise und assoziativer Montage, inszeniert. Beim Cinefest läuft dazu unter anderem „Sans Soleil“ (F 1982) von Regisseur Chris Marker, eine collagenhafte Zusammenstellung von Gedanken, Gedichten, Reisebeschreibungen, reflexiven Überlegungen und Anekdoten.
Die bisherigen Festivaltage haben gezeigt, dass der Dokumentarfilm keinesfalls an Relevanz eingebüßt hat. In den geführten Diskussionen zwischen Publikum, Regisseuren, Branchenkennern und institutionellen Vertretern klingt immer wieder an: Angesichts zeitgenössischer Protestbewegungen rund um die Welt und dem nach wie vor bestehenden Machtverhältnis zwischen politischer Entscheidungsgewalt und gesellschaftlichem Artikulationsimpetus dient gerade die Reflexion historischer Dokumentarfilme als zentraler Denkanstoß, der gegenwärtige Debatten neue Impulse geben kann.
Cinefest, XI. Internationales Festival des deutschen Film-Erbes, vom 15.-23.11.2014 in Hamburg.
Das Filmprogramm zum Herunterladen
Mehr Informationen: www.cinefest.de
Zum Festivaltrailer
Abbildungsnachweis:
Header: Katalog-Cover
Galerie:
01. und 02. "Der Kandidat" (D 1979/80, Stefan Aust, Alexander von Eschwege, Volker Schlöndorff, Alexander Kluge). Quelle: CineGraph, Hamburg
03. Starbuck Holger Meins" (D 2001, Gerd Conradt). Quelle: Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin
04. "Leipzig im Herbst" (DDR 1989, Andreas Voigt, Gerd Kroske). Quelle: Quelle: Bundesarchiv - Filmarchiv, Berlin
05. "Der VW-Komplex" (D/F 1988/89, Hartmut Bitomsky). Quelle: CineGraph, Hamburg
06. "Leben in Wittstock" (DDR 1984, Volker Koepp). Quelle: CineGraph, Hamburg
07. "Die Wäscherinnen" (DDR 1972, Jürgen Böttcher). Quelle: Bundesarchiv - Filmarchiv, Berlin
08. "Sans Soleil" (FR 1982, Chris Marker). Quelle: Deutsches Filminstitut - DIF, Frankfurt.
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