Festivals, Medien & TV
Noorderlicht – an ocean of possibilities

Es gehört zu den eindruckvollsten, internationalen Dokumentarfotografie-Festivals in Europa – und das seit vielen Jahren: das Noorderlicht International Photofestival.
Die Qualität betrifft nicht allein die der Fotos, die sorgsam ausgewählten thematischen Inhalte und die politisch-gesellschaftlichen Fragestellungen, es betrifft auch die ausgewählten, sehr unterschiedlichen Orte im niederländischen Leeuwarden und Groningen, die jeweils eine nachvollziehbare Verbindung zwischen Inhalt und Präsentation eingehen.

„An Ocean of Possibilities” als Gesamttitel ist noch recht indifferent, um auszuloten, wie unsere gemeinsame Zukunft und die, nach dem heutigen Stand der teilweise fatalen Entwicklung in Sachen Ökonomie, Ökologie und den politischen Verhältnissen aussehen könnte. Doch die sieben weiteren Untertitel oder Kategorien sind es nicht. Sie präzisieren den Anspruch, den das Festival seit je her hat. Es will anhand der Fotografie nicht eine massenmediale Bilderflut bedienen, es zeigt vielmehr Alternativen und Nischen zur vorherrschenden Meinung und zum Mainstream. Hierin liegt die Kontinuität des Festivals und vor allem dessen Leistung.
Neben „An Ocean of Possibilities" heißen die Unterthemen: „Solitude” (Einsamkeit), „Call of the Wild” (Ruf der Wildnis), „Rise” (Aufstieg, Steigerung), „Sustainability” (Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit), „Subcultures” (Subkulturen) und „Tribute” (Ehrung).

Galerie - Bitte Bild klicken
Im vor einem Jahr neu eröffneten Fries Museum in Leeuwarden ist die Hauptausstellung beheimatet und zeigt Fotografien, die sich mit Zukunftsformen eines gemeinsamen Lebens beschäftigt, das nicht nur nach bekannten Mustern abläuft. Die abgelichteten Serien beschäftigen sich mit Gegenpolen zu den beherrschenden Formen und Auffassungen. Zwischen bekannten Resten von Utopien aus der Vergangenheit – der Niederländer Jan Banning fotografierte in Italien, Portugal und Spanien Büros kommunistischer Parteien oder das was davon übrig ist – finden sich beispielsweise Reportagen von Sozialprojekten wie „The Village" aus Frankreich. Cyril Marcilhacy dokumentiert in einem Waldstück bei Fontainebleau, außerhalb von Paris, über mehrere Jahre ein selbst gezimmertes und organisiertes Dorf für Obdachlose, in denen es nach eigenen, durchaus strengen Regeln das Leben erträglich macht. Vor allem geht es um ein soziales Miteinander in sehr prekären Lebenssituationen.

Douglas Gayeton spürt seit 2009 einem „Solar Thermal Energy”-Projekt in den USA nach, das ein umweltbewusstes ‚New Face of Food and Farming’ ermöglicht. Seine Bilder sind mit Texten überschrieben und generieren sich im Untertitel als „Lexicon of Sustainability“.
Demgegenüber stehen erschreckende Fantasien: Wenn Zhao Renhui aus Singapur etwa Fische, Fleisch oder Früchte fotografiert und anschließend digital bearbeitet, entstehen verpackungsgerechte Formen: das Fleisch und die Fische lassen sich besser in rechteckige Displays stapeln, die Äpfel erhalten die vermeintliche Idealform, die dafür sorgt, dass möglichst viele Einzelteile in einen Karton passen. Oder in der Serie „Are you sure you want to Log Out?“ lichtet der Spanier Herms Roc Menschen ab, die nach mehrwöchiger Computer-Arbeit oder -Spiel zu ersten Mal wieder Tageslicht sehen – verschüchterte, geblendete Gestalten. Es sind jene, die einen großen Teil ihrer Zeit virtuell leben, in einer „Second Nature“ existieren.

Fast alle Reportagen und Fotodokumentationen sind Beobachtungen über eine mehrjährige Entwicklung und bemerkenswert auch deshalb, weil es sich bei den Projekten fast ausschließlich um Initiativen von Non-Governmental-Organisationen handelt. Sie zeigen wie jeder einzelne sich engagieren kann und wie ausgefallen und innovativ einige sind. Da sind nicht etwa nur Menschen zu sehen, die Hippie-like in selbst gestrickten Socken wie noch vor 30 bis 40 Jahren ihr persönliches Glück suchen. Es sind hoch gebildete Menschen zu sehen, die in High-Tech-Berufen arbeiten und ihr Wissen anders einsetzen möchten als für die bekannten wirtschaftlichen und kapitalistischen Ordnungen. So sehen die Besucher der Ausstellung auch alternative IT-Initiativen aus Afrika oder ein Projekt aus Hongkong mit dem Titel „Fresh Breeze“, in dem es um den Austausch von Produkten zwischen Stadt und Land geht bis hin zu einer Dokumentation von "Occupy Wall Street".

Das Thema „Solitude“ ist sinniger Weise im Natuurmuseum Fryslân zu sehen. Einsamkeit suchen Menschen entweder aus religiösen Gründen, um sich selbst oder die absolute Freiheit zu finden. Allein in der Wildnis zu leben bedeutet vieles aufzugeben, aber auch einiges dabei zu gewinnen. Danila Tkachenko, der gerade die Fotoschule in Moskau absolvierte und den World Press Photo Award 2014 erhielt, begleitete junge russische Aussteiger nach Rußland und in die Ukraine und dokumentiert unter dem Titel "Escape" ihr Leben zwischen Idylle, Eremitendasein und Überlebenskampf. Auch die Niederländerin Marrigje de Maar hat sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Sie fotografierte den 1.400 Kilometer langen buddhistischen Pilgerpfad auf Japans Insel Shikoku. Auch einen Pfad der Aborigines in Australien, der seit tausenden von Jahren benutzt wird, diente ihr als fotografischer Weg. Das Ergebnis ist mystisch und archaisch.

Auch „Call of the Wild“ in einem leeren Ladenlokal in der Innenstadt von Leeuwarden geht in die Richtung des Aussteigens. Dana Matthews aus den USA zeigt Farmer-Familien, die so leben wie vor 100 Jahren, abgeschieden und autark. Dies scheint auch auf ein Tal in Nordschweden zuzutreffen, in denen die Menschen noch die alte Wikingersprache sprechen. Das „Alvdalen“ zu deutsch Flusstal beherbergt 3.000 Menschen, aber nur wenige Jugendliche. Maja Daniels dokumentiert seit zwei Jahren das Leben der 49 jungen Bewohner.

Das Blokhuispoort ist das ehemalige Gefängnis der Verwaltungshauptstadt der Provinz Friesland. Heute dient das mächtige Gebäude Künstlern, Musikern und Theaterleuten als Atelier-, Übungs- und Ausstellungsort. Es haben sich dort kleine Start-Up-Unternehmen niedergelassen oder kulturwirtschaftliche Firmen arbeiten in einem kreativen Umfeld.
Im zweiten Innenhof präsentiert das Noorderlicht Photofestival eine Open-Air-Galerie zum Thema „Subcultures“. Hier finden sich Hipster aus New York, Cosplay-Kostümierte in Japan und sogenannte 'Mod Couples' aus Großbritannien. Der amerikanische Fotograf Matthew Niederhauser fotografierte die Pekinger Musikuntergrund-Szene, die scheinbar alles das in kürzester Zeit durchmacht was Europa und Nordamerika in zwanzig Jahren durchlebte: von Rockn’Roll über Punk bis Grunch und Indie-Rock. Niederhauser ist es wichtig mit seinen Fotos zu zeigen, wie frei und unabhängig die Szene in Chinas Hauptstadt ist.

Ein paar Kilometer weiter und man ist in Groningen. In der Noorderlicht Fotogalerie sind wunderbare Schwarz-Weiß-Fotos von Olivier Richon und Karen Knorr zu sehen. Ihre Punks sind Geschichte, aufgenommen 1976 bis 1977. Eine der Ehrungen des Bereichs „Tribute“ dient ihnen – ein zweiter dem Fotografen Larry Fink. Seine Serie „The Beats“ aus den Jahren 1968 und 69 zeigt Künstler, Literaten und Musiker aus New York. Er begleitete sie auf ihren Reisen. Fink erklärt zu seinen Fotos: „The group desperately needed a photographer to be with them, to give them gravity, to live with them, record and encode their wary but benighted existence.“

Das Noorderlicht International Photofestival 2014 ist ein Muß für alle Fotografieliebhaber mit Anspruch. Es ist noch bis zum 26. Oktober zu sehen im Fries Museum, Zaailand, Natuurmuseum Fryslân und Blokhuispoort in Leeuwarden (Friesland) sowie in der Noorderlicht Fotogalerie in Groningen.
Die Hauptausstellung "An Ocean of Possibilities" ist eine Kooperation mit dem Singapore Photo Festival und wird dort vom 31. Oktober bis 28. Dezember 2014 gezeigt.
Zum Festival gibt es einen Katalog mit 80 Seiten.
Weitere Informationen zum Festival.
Weitere Informationen zu Noorderlicht.

KulturPort.De dankt der DB Bahn für die Unterstützung.
Lesen sie Artikel zu den vergangenen Noorderlicht Festivals.


Abbildungsnachweis: Alle © Noorderlicht International Photofestival 2014
Header: Renhui Zhao; Guide to the flora and fauna of the world: „World Goldfish“, 2012 (Titelmotiv)
Galerie:
01. Douglas Gayeton; Local: The New Face of Food and Farmning in America, The Lexicon of Sustainability, 2009-2014 (An Ocean of Possililities)
02. Cyril Marcilhacy; The Village, 2013-2014 (An Ocean of Possililities)
03. José Luis Cuevas-García; New Era, Mexico, 2009-2014 (An Ocean of Possililities)
04. Tomasz Tomaszewski; Elmina, Ghana, 2012 (An Ocean of Possililities)
05. Danila Tkachenko, Escape, Russland, 2011-2013 (Solitude)
06. Maja Daniels; River Valley Vernacular, Sweden, 2012-2014 (Call of the Wild)
07. Dana Matthews; One Farm, One Decade, USA, 2006-2014 (Call of the Wild)
08. Aneglos Tzortzinis; Greece in Crisis, 2010-2013 (Rise)
09. Sasha bezzubov, Occupy Wall Street, USA 2012 (Rise)
10. Denis Rouvre; Cosplay, Japan 2011-2013 (Subcultures)
11. Carlotta Cardana; Mod Couples, UK, 2012-2014 (Subcultures)
12. Larry Fink, Beatniks, USA 1968-1969 (Tribute)
13. Olivier Richon, Karen Knorr; Punks, UK, 1976-1977 (Tribute)

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.