Die Eröffnung der Hamburger Ballett-Tage ohne eine Neumeier-Choreografie? Bislang undenkbar!
Mit der Uraufführung der „Shakespeare-Sonette“ von Marc Jubete, Aleix Martinez und Edwin Revazov ist das Undenkbare nun eingetreten: Die drei Neumeier-Zöglinge eröffneten mit ihrer Choreografie-Assemblage zu den Meisterwerken der englischen Renaissance-Dichtung die 45. Hamburger Ballett-Tage.
John Neumeier muss wirklich großes Vertrauen in die drei jungen Choreografen setzen. Aus drei ganz unterschiedlichen Interpretationsansätzen des shakespeareschen Gedichtzyklus‘ und noch viel unterschiedlicheren Musikstücken von 13 Komponisten quer durch die Jahrhunderte (vom Minnesang bis zum zeitgenössischen Pop) ein abendfüllendes Stück mit einer einigermaßen schlüssigen dramaturgischen Abfolge auf die Bühne zu stellen, ist fraglos ein Kunststück. Marc Jubete, Aleix Martinez und Edwin Revazov haben es geschafft - auch wenn ihr Bilderbogen eher einer Traumlogik als einem rational nachvollziehbaren Handlungsstrang folgt, die Übergänge mitunter hapern und das Ende viel zu sehr in die Länge gezogen wird – wahrscheinlich, weil alle drei „ihr“ Ende verwirklicht sehen wollten.
Aus dem Programmheft erfährt man die unterschiedlichen Ansätze der drei, die übrigens als Solisten des Hamburg Balletts den Zuschauern wohlbekannt sind: Während sich Marc Jubete mit der Liebe an sich befasst, mit ihren Herzschmerzen, Enttäuschungen, Verletzungen und Eifersüchteleien, widmet sich Edwin Revazov dem elisabethanischen Zeitalter mit ihren Pestepidemien und Klassenschranken.
Aleix Martinez wiederum hinterfragt Schönheitsideale. Das äußere Erscheinungsbild, die oberflächliche Perfektion, die William Shakespeare in seinem großartigen Gedicht-Zyklus von 1609 wortreich beschreibt. Seine Sonette richten sich nicht etwa an eine engelsgleich-schöne Frau, sondern sind einem jungen Mann gewidmet. Einem wunderschönen Jüngling als Sinnbild reiner Unschuld, aber auch als Sinnbild unterschwelliger homoerotischer Sehnsüchte. Was für ein Skandal zur damaligen Zeit!
In Hamburg ist der Junge fast noch ein Kind. Meist als Beobachter des Geschehens taucht er im Laufe des Abends immer wieder auf, Ebenso ein weiß gekalktes Paar(großartig Yaiza Coll und Lizhang Wang), animalisch wirkende Kreaturen, gleichermaßen ursprünglich wie künstlich. Es könnten Adam und Eva sein, gerade aus dem Paradies vertrieben. Oder Androide, bzw. Cyborgs, die dabei sind das Menschsein zu lernen, indem sie sich erkunden, regelrecht ineinander hineinkriechen. Vielleicht sind es ja missratene Mischwesen aus der „Fabrik“, die sich im ersten Bild hinter der raumhohen Spiegelwand auftut. Hier werden sie gebaut, die perfekten Körper des Aleix Martinez, dessen Akkordarbeiter*Innen in langen Gummischürzen und Gummistiefeln Körperteile umhertragen und –fahren. Die fertigen Produkte sieht man dann in großen gläsernen Vitrinen. Bewegliche „Puppen“ mit uniform weißen Gesichtsmasken, die als Reminiszenz an Shakespeare die typischen Halskrausen seiner Zeit tragen.
In hartem Kontrast zu lieblichen Renaissanceklängen bilden die avantgardistischen anmutenden Fabrikszenen zweifellos die stärksten und visionärsten Momente des Abends. Kompliment für Bühne und Kostüme an dieser Stelle, die das Choreographen-Team ebenfalls gemeinsam kreiert hat.
Die Menschen-Klone produzierende Fabrik bildet gleichsam das Gerüst des Abends. Und mit ihr ein sanfter, anfangs fast unscheinbarer Mann (Lloyd Riggins), der – neben dem Jungen - das einzige menschliche Wesen in dieser merkwürdigen Welt zu sein scheint. Einer Welt, die außerhalb der Fabrik apokalyptische Züge annimmt. Einmal formiert sich vor rotgefärbtem Himmel eine martialische Truppe (Das Bewegungsrepertoire des Ensembles ähnelt hier am stärksten dem Vorbild Neumeiers). Dann wieder kriechen Nebelschwaden über den Boden, während Menschen mit Vogelmasken auf halbhohen Stelzen zwischen völlig verhüllten Gestalten umherstaksen. Unschwer ist die Autorenschaft von Edwin Revazov zu erkennen, der sensible, wenn auch ein wenig kitschige Bilder für die Pest gefunden hat.
Fazit: Auch wenn noch nicht alles „aus einem Guss“ wirkt, fasziniert dieses Ballettstück. Das liegt zum einen an dem wunderbaren Ensemble und überragenden Solisten, wie Anna Laudere oder Lloyd Riggins, der in „A Fancy I“ (mit Madoka Sugai und Christopher Evans) und „Solitude“ (mit Yaiza Coll und Lizhong Wang) die schönsten, innigsten Momente des Abends liefert.
Das liegt aber auch an der Fülle intensiver, verstörender Momente, die das Choreografen-Team geschaffen hat. Die drei haben sich dabei nicht nur von Shakespeare, sondern in erstaunlichem Maße auch von Neumeiers Bewegungsrepertoire gelöst. Das könnte zukunftsweisend sein.
45. Hamburger Ballett-Tage
16. Juni bis zum 30. Juni 2019Staatsoper Hamburg, Großes Haus
Shakespeare – Sonette
Mit seinen einzigartigen Dichtungen hat William Shakespeare über Jahrhunderte Künstler verschiedenster Genres zu immer neuen Schöpfungen angeregt. Inspiriert von den Sonetten des englischen Dichters, gestalten Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov die Premiere der 45. Hamburger Ballett-Tage. Alle drei Choreografen sind erfahrene Tänzer des Hamburg Ballett, bei deren bisherigen Kreationen John Neumeier eine vielversprechende Entwicklung ausgemacht hat: "Mich interessiert Kreativität. In unserer vernetzten Welt tendieren die Werke junger Choreografen dazu, einander zu ähneln. Ich suche nach Balletten mit einer persönlichen Vision."
Musik: David Lang, Claudio Monteverdi, Henry Purcell, Jordi Savall
Choreografie, Bühnenbild und Kostüme: Marc Jubete, Aleix Martínez und Edvin Revazov
Musik vom Tonträger
2 Stunden 45 Minuten | 1 Pause
Nächste Vorführung:
Freitag 20.09.2019, 19.30 - 22.15 Uhr | Großes Haus
Weitere Informationen
Abbildungsnachweis:
Alle Szenenfotos: © Kiran West
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