Theater - Tanz
Orpheus eine musische Bastardtragödie

Mit einem berauschend sinnlichen, wunderbar poetischen und philosophischen, dabei total abgedrehten Pop-Techno-Bühnenmärchen begeistert Theatermagier Antú Romero Nunes zum Saisonauftakt im Hamburger Thalia Theater: „Orpheus – Eine musische Bastardtragödie“ gleicht in seiner bildgewaltigen Opulenz phasenweise einer Musicalshow, schon allein wegen der Live-Band und der tollen Tanzeinlagen.
Wenn alle Antikenspektakel so sexy wären, würden die Kids die griechische Mythologie in- und auswendig kennen.

Ach, könnte man das viele dumme Geschwätz, das einem täglich zu Ohren kommt, doch einfach abstellen. Mit so einem kleinen rotleuchtenden Zauberding, wie es Hermes in der Hand hat. Erst gibt der Gott der Diebe und der Kaufleute, der nebenbei auch noch der Gott der Redekunst ist, der taubstummen Eurydike im Hades ihr Gehör und ihre Sprache wieder, doch als er sich die Banalitäten, die da in bestem Salzburger Dialekt aus ihr heraussprudeln, anhören muss, drückt er rasch wieder auf den Ausknopf. „Wer redet, verliert das Geheimnis“, sagt Hermes, der sich „in die Wüste“ wünscht, um endlich Ruhe zu haben. Dieser Wunsch wird am Abend gleich zweimal geäußert, wohl, weil er Antú Romero Nunes aus der Seele spricht.
Und so beginnt Thalias Hausregisseur, der zurecht immer mehr der Kraft seiner Bilder als der Kraft der Worte vertraute, die bekannte Liebestragödie ganz schweigsam auf einer leeren Drehbühne, auf der eine zarte, androgyn wirkende Person gegen die Zeit läuft. Lange Zeit fällt kaum ein Wort. Auch nicht, als Orpheus (Lisa Hagmeister) auf Eurydike stößt (Marie Löcker), eine selbstbewusste Frau mit wildem, rotem Wuschelkopf, die rasch klar macht, keinen Ton zu vernehmen. Anders als alle Welt kann sich die Geliebte hier nicht verzaubern lassen von Orpheus‘ betörendem Gesang, der sogar die Steine zum Weinen bringt. Hier sind es zart hingehauchte französische Chansons, begleitet von einer großartige fünfköpfige Frauenband im Hintergrund (von denen einige offenbar auch den Gesangspart übernehmen).

Nunes hat aus dem mythologischen Paar also ein lesbisches Paar gemacht: Zwei Frauen, die eine magnetische Erotik aufeinander ausüben und ihre Leidenschaft lustvoll-lasziv auf dem Klavier ausleben.
Soviel irdisches Glück bleibt natürlich auch den Göttern nicht verborgen. Auf dem Olymp wird man neidisch und Dionysos und Apollon gehen eine perfide Wette über den Wert der Liebe ein. Ist die Liebe eine wahrhaftige Kraft? Oder doch nur ein kurzes Trugbild und eine Lüge, wie Dionysos meint. Eurydike ist als Opfer auserkoren. Sie muss sterben, denn es geht in dem mythologischen Stoff bekanntlich nicht nur um Liebe, sondern um den Verlust eines geliebten Menschen und den unmöglichen Versuch, durch Liebe den Tod zu besiegen.

Mit Auftritt der Götter nimmt die Inszenierung Fahrt auf – und martialische Züge an. Der „Roadtrip“ in die Unterwelt beginnt mit dröhnenden Technobeats und Orgelklängen. Was ist diese Götterschar für ein irrer Haufen! Lauter goldig-glitzernde Schreckensgestalten mit weißgekalkten Visagen und verkleisterten Haaren, mehr Ausgeburten der Hölle als des Himmels. Überhaupt beginnt das Stück nun regelrecht eklektisch zu werden. Es wimmelt nur so von Verweisen und Anspielungen quer durch die Film- und Literaturgeschichte: Dionysos, der Gott des Rausches (Sebastian Zimmler) gleicht mit seinem überbreiten Grinsen Stephen Kings Horror-Clown, Licht-Gott Apollon (Sven Schelker) einem Elbenkönig aus „Herr der Ringe“. Auch Hermes (Bekim Latifi) scheint Tolkins Saga entsprungen zu sein, wenn er wie Gollum durch den Hades kriecht. Der einzig Sympathische ist Björn Meyers gewichtiger, dabei überaus leichtfüßiger Amor, der Opheus mit „Matrix“-Pillen später den Weg ins Jenseits ermöglicht. Und Zeus alias Pascal Houdus? Der Göttervater, wie könnte es anders sein, ist der Ober-Hedonist, der Obermacho in der Männerriege. Zeus, das weiß man ja hat ja noch nie etwas anbrennen lassen, weder bei Europa noch anderswo. Ovids Sage nach war es zwar Aristaios, der Eurydike vergewaltigte (die dann an einem Schlangenbiss starb). Jetzt vergewaltigt und malträtiert ein vor Hass verzerrter Größenwahnsinniger die junge Frau so brutal, dass sie den Weg in die Unterwelt antreten muss. Später, in einer atemberaubenden Hetzjagd, wird Zeus um Vergebung flehen und ihr nachschreien: „Die Zeit zerstört alles.“

Antú Romero Nunes und sein Team haben unglaublich eindringliche, berührende Bilder für diesen Höllentrip gefunden. Ein wogendes Meer aus Plastikplanen legt sich über Eurydike, die sich langsam darunter wieder aufrichtet. Orpheus steht verzweifelt vor ihr, doch das Plastiktuch trennt sie unwiederbringlich. Gemeinsam mit Amor, der ihr erst nüchtern an den Kopf wirft: „Du wusstest doch, dass es irgendwann vorbei ist“, singt sie dann das schönste Lied des Abends. „Azul“ von Anna Bauer und Johannes Hofmann (musikalische Leitung) komponiert: „Wenn ich von deiner Liebe singe, möchte ich dir einen Himmel bauen, der dich beschützt“, heißt es da.
Es sind vor allem diese ruhigen Momente, die in Erinnerung bleiben. Momente, die Zeit zum Luftholen lassen in dem wilden, lauten Spektakel, das sich im Hardes auftut. Mit fauchenden Hunden und kriechenden Schreckensgestalten, die Orpheus jedoch nicht aufhalten können: „Je chante jus qu’à la fin“, singt sie und dreht unbeirrt ihre Kreise auf dem kleinen Rad. „Ich singe bis zum Ende“.

Ein Ende jedoch gibt es nicht. Es gibt vielmehr zwei Enden. Als Orpheus das erste Mal „Dreh Dich nicht um“ hört, tut sie im Affekt genau das und es wird schlagartig dunkel im Saal. Beim zweiten Mal hört sie auf Eurydike, die wie als Todesengel mit großen schwarzen Flügeln hinter ihr geht. Der Spuk, der Hokuspokus ist vorbei. Nunes hat alle Register gezogen: Die Götter haben statuenhaft Nietzsche und Schiller zitiert, Hermes ist durch die Lüfte gesaust, die Ausgeburten der Hölle tanzten, was das Zeug hielt. Es war die ganz große Schau. Nun ist sie vorbei und beide sind wieder allein. Beide? Nein. Eurydike verschwindet langsam. Orpheus geht und geht und dreht sich nicht um… Der Lebenskreis schließt sich.

Fazit: Dieser „Orpheus“ ist ein unterirdisch gutes Stück über das Leben. Fantastische Schauspieler, großartige Unterhaltung, viel Stoff zum Nachdenken. Und wir lernen: Nicht die Hoffnung, die Liebe stirbt zuletzt.

Orpheus – Eine musische Bastardtragödie

Regie: Antú Romero Nunes
Komposition: Anna Bauer, Johannes Hofmann
Musikalische Leitung: Johannes Hofmann
Choreografie: Eyal Dadon
Live-Musik: Anna Bauer (Klavier, Synthesizer, Orgel, Gesang, Gesang-Einstudierung), Carolina Bigge (Bandleitung, Drums, Marimbaphon, Toy-Piano, Gesang), Natascha Protze (Saxophone, Bassklarinette, Gesang), Kerstin Sund (Gitarren, E-Bass, Synhesiszer-Bass, Gesang), Anita Wälti (Trompete, Flügelhorn, Basstrompete, Gesang)
Ausstattung: Jennifer Jenkins, Matthias Koch
Dramaturgie : Christina Bellingen
Darsteller: Lisa Hagmeister (Orpheus), Pascal Houdus (Zeus), Bekim Latifi (Hermes), Marie Löcker (Eurydike), Björn Meyer (Amor), Sven Schelker (Apollon), Sebastian Zimmler (Dionysos) sowie Tänzerinnen und Tänzer: João Assmann, Lena Boneß, Nora Elberfeld, Victoria Gonzáles Chávez, Moe Gotoda, Ida Hørlyck, Nana Anine Jørgensen, Kristina Schleicher,
Sophia Schönert, Elvan Tekin, Tirza Ben Zvi

Thalia Theater Hamburg

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