Ein Vater-Sohn-Konflikt, ein dunkles Geheimnis:
In seinem neuen Entwicklungsroman „Vor der Wand“ verarbeitet Michael Göring eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Deutschen in Italien – das Massaker 1944 in Sant‘ Anna di Strazzema.
Ein Gespräch über Schuld und Sühne, den Umgang mit einem belasteten Namen und die Kraft der Musik.
Isabelle Hofmann (IH): Das Massaker in Sant’Anna in der Toskana, bei dem die SS mehr als 560 Frauen, Kinder und alte Menschen ermordete, ist in Deutschland kaum bekannt. Sie erfuhren 2006 davon, als man Sie – als Vorsitzenden der Zeit-Stiftung – um Finanzierung einer Friedensorgel für das Dorf bat. Warum hat Sie gerade dieses NS-Verbrechen so beschäftigt?
Michael Göring (MG): Ich glaube, es war die persönliche Beziehung, die ich zu diesem Ort entwickelte. Ich war zur Einweihung der Orgel in Sant‘ Anna und traf dort einen der wenigen Überlebenden, Enio Mancini. Er war eines von sechs Kindern, die von einem ganz jungen blonden SS-Mann in den Wald geführt wurden mit dem Auftrag, sie dort zu erschießen. Der Mann schoss dann aber in die Luft und bedeutete den Kindern, sich zu verstecken. Enio hatte es kapiert, die sechs haben so überlebt.
IH: Wie fühlten Sie sich, als Sie die Geschichte hörten?
MG: Ich fühlte mich nach Israel versetzt, wo ich früher öfter war. Ich sitze jemandem gegenüber, wir reden, ich sehe die Auschwitz-Nummer und der Mann fragt mich nach meinem Namen. Ich zögere und sage meinen Vornamen. Als er insistiert, nenne ich meinen Nachnamen, der Mann steht wortlos auf und lässt mich allein mit meinem Glas Wein auf der Terrasse sitzen. Das sind Momente, in denen man merkt, die Vergangenheit wird einen nie loslassen.
IH: Reichsmarschall Hermann Göring war der zweite Mann im Hitler-Staat. Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Gründer der Gestapo, verantwortlich für die Einrichtung der ersten Konzentrationslager. Sie sind nicht mit ihm verwandt, doch Sie tragen den belasteten Namen. Wann wurde Ihnen das bewusst?
MG: Sehr früh. Großmutter hat viel erzählt. Mit 13 Jahren war ich dann das erste Mal in England, ein Schüleraustausch zwischen Yorkshire und Westfalen. Mein Gastvater sagte, dass er bei dem Namen ,Göring‘ gestutzt hätte, weil er glaubte, der Name würde gar nicht mehr existieren. Durch ihn erfuhr ich erstmals, dass auf Geheiß von Hermann Göring englische Städte angegriffen wurden. Und dann kam dieser Schreckensmoment, als ich „Die Ermittlung“ von Peter Weiss las. Die Auschwitz-Prozesse 1965 hatte ich nicht mitbekommen, da war ich zu jung. Aber als das Weiss-Drama herauskam, wurde mir sehr bewusst, was dieses Deutschland an Schuld auf sich geladen hat.
IH: „Alle Väter waren Täter“ knallt der 16-jährige Georg in Ihrem Roman seinem eisern schweigenden Vater an den Kopf. War das Ihr Spruch in den 70er-Jahren?
MG: Nein. Ich finde den Satz eigentlich fürchterlich, völlig undifferenziert. Die Väter haben darunter gelitten wie die Hunde. Aber dieser Satz hat auch dazu geführt, dass die Väter mit ihrer NS-Vergangenheit aufräumen mussten. Mein Vater ist Jahrgang 1930. Er war erst 14 Jahre alt, als der Krieg zu Ende war.
IH: Sie haben doch sicher gefragt, was er von den Judendeportationen wusste?
MG: Ich bekam immer die Standartantwort: „Wir wussten nichts“. Es stimmt wohl auch. Mein Vater war zu jung. Und es gab keine Verwandtschaft zu Hermann Göring. Er stammte aus Bayern, unser Zweig aus Thüringen.
IH: An dem Massaker von Sant’Anna war auch ein Göring beteiligt. Ein Maschinengewehrführer mit Vornamen Ludwig.
MG: Sie sind die erste, die mich darauf anspricht. Ja, das stimmt und es hat mich umgeworfen. Als Jugendlicher hatte ich mir gesagt: Man muss alles tun, damit dieser Name wieder ohne diesen Schatten geführt werden kann. Ich habe mir als Kind gewünscht, Bürgermeister von Lippstadt zu werden und dachte, dann ist der Name rehabilitiert. - Und dann fahre ich 2007 nach Sant‘ Anna, sehe die Gedenkstätte, sehe die Bilder von den Kindern und Frauen, die umgebracht wurden und lese, dass ein Mensch mit meinem Namen damals Mitschütze war. Das knallt rein.
IH: War Ludwig Göring ein Verwandter?
MG: Nein. Ich habe auch nie versucht herauszukriegen, zu welchem Familienzweig er gehört. Nie! Aber das kommt irgendwann.
IH: Diese verflixte Namensgleichheit hat Sie nicht losgelassen. Deshalb das Buch, stimmt‘s?
MG: Natürlich hängt das auch mit dieser Namensgeschichte zusammen. Das Buch bringt kein Kind wieder auf die Welt. Aber ich möchte einfach nicht, dass so etwas in Vergessenheit gerät. Und 2006 war es noch vergessen. Erst seitdem der Bundespräsident 2013 in Sant‘ Anna war, wissen viel mehr Leute von dem Verbrechen.
IH: 60 Jahre lang lag ein Mantel des Schweigens über dem Massaker. Erst 2004 eröffnete das Militärgericht in La Spezia den Prozess. Unverständlich, denn es gab Opferverbände und Anwälte. Warum wurde so lange gewartet? Warum gab es nicht mehr Druck seitens der Öffentlichkeit?
MG: Die Akten über die deutschen Kriegsverbrechen in Italien lagen Jahrzehnte lang im sogenannten „Schrank der Schande“ in Rom verborgen und wurden erst 1994 wiederentdeckt. Dann waren auch die Partisanen zerstritten. Die bürgerlichen Kräfte hatten Angst vor den Kommunisten. Und es gab viele Kollaborateure. Männer, die nicht wussten, ob es noch ein Faschisten-Comeback geben würde.
IH: Bis zur Landung der Alliierten 1943 war Italien faschistisch und Deutschlands Verbündeter. Als Hitler-Freund Mussolini abgesetzt und inhaftiert wurde, besetzten deutsche Truppen Italien, befreiten den „Duce“ und installierten unter seiner Führung eine Marionettenregierung im Norden. Nach dem Krieg gab es zwar vereinzelt Prozesse, aber die verliefen im Sande.
MG: Vielleicht auch aus Angst, dass sich die faschistische Vergangenheit nachträglich auf die Gegenwart auswirkt. Die Verbindungen zwischen Deutschland und Italien waren ja bald nach dem Krieg schon wieder sehr eng. Schon 1956 fuhren vier Millionen deutscher Urlauber mit ihren VW-Käfern über den Brenner. Dann kamen italienische Gastarbeiter nach Deutschland.
IH: Die Italiener verurteilten 2005 zehn Mitglieder der 16. Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS" wegen des „fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit" zu lebenslanger Haft. Für die deutschen Täter blieb das ohne jede Konsequenz. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft stellte am 1. Oktober 2012 den Prozess ein. Wie kann das sein? Mord verjährt nicht.
MG: Die Staatsanwaltschaft war rechtlich auf der richtigen Seite. 1968 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Kriegsverbrechen dieser Art, wie in Sant‘ Anna, als Totschlag einstuft. Und Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Das Gesetz stammt übrigens von Eduard Dreher, einem alten Nazi, der in den 60er-Jahren ein berühmter Strafrechtler war.
IH: Die Frage stellt sich, warum man Gesetze mit solchen Urhebern nicht überdenkt. Nun ist Ludwig Göring tot, doch ein anderer Täter, Gerhard Sommer, lebt hochbetagt in einem Hamburger Altersheim. Hatten Sie jemals den Wunsch, mit ihm zu sprechen?
MG: Nein, wie ich erfuhr, ist er dement. Ich will auch diese Männer nicht verurteilen. Ich weiß nicht, warum Helmut Kohl für „die Gnade der späten Geburt“ so kritisiert wurde. Ich bin einfach heilfroh, nicht 1926, sondern 1956 auf die Welt gekommen zu sein. Ich frage mich immer, wie ich als junger, ambitionierter Mann gehandelt hätte. Hätte ich jemanden verraten, um weiterzukommen? Wäre ich sauber geblieben? Deshalb bin ich ein wirklich überzeugter Bundesrepublikaner: Ich konnte mich entscheiden – gegen den Militärdienst.
IH: Jeder trägt wohl das Böse in sich. In Extremsituationen wie Krieg kommt es nur leichter zum Vorschein, oder?
MG: Ich habe volles Verständnis dafür, dass ein Soldat auf einen anderen Soldaten schießt. Da heißt es, er oder ich. Aber dass da Menschen am Schreibtisch sitzen und mit ein paar Überlegungen die „Entjudung des Reiches“ planen und genau wissen, was das bedeutet! Dieses Perverse, das war immer die Wand, vor der ich stand.
IH: Ein Kapitel haben Sie überschrieben mit einem Zitat aus Mendelssohns Elias-Oratorium: „Der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied“.
MG: Diese eine Stelle hat mich schon als Chorknabe in Lippstadt beschäftigt: Ob das, was damals den Menschen angetan wurde, von späteren Generationen gesühnt werden muss. Nach dem Alten Testament werden uns diese fürchterlichen Taten noch in Generationen verfolgen. Drei Mal bring ich diesen „Elias“ rein, damit es auch jeder begreift.
IH: Geistliche Musik spielt eine herausragende Rolle in Ihren Büchern. Im „Seiltänzer“, Ihrem ersten Coming-of-Age-Roman, lassen Sie den jungen Andreas sagen: Durch die Musik spricht Gott zu mir. Auch zu Ihnen?
MG: Ich glaube, Andreas hat Recht. In der Musik habe ich das Gefühl, da werden Dinge in einem angesprochen, die sonst nur in tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen angesprochen werden. Es ist so, als würde da jemand anders zu mir sprechen.
IH: Sie haben sich schon früh für sakrale Musik begeistert. Sehr ungewöhnlich für einen Teenager der 70er-Jahre. Das war doch die Zeit von Jimi Hendrix, Santana, Jethro Tull und Frank Zappa. Die Zeit der Vietnam-Demos und von „Make Love not War“. Wie waren Sie als 16-Jähriger?
MG: Ich war schon etwas abgesondert. Stiller als die meisten, nicht sehr aufmüpfig, ein Fan von Willy Brandt. Ich las viel und hatte einen anderen Musikgeschmack. Das ganz Laute der Politik damals war nicht meine Welt. Ich war in dieser Zeit vielmehr verunsichert, wozu dieses Deutschland fähig war.
IH: Der typische Klassenprimus?
MG: Ich glaube eher ein ganz normaler Jugendlicher, der sich vielleicht ein bisschen mehr Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht hat als andere.
IH: Welche Musikstücke geben Ihnen heute Kraft?
MG: Immer wieder Bach, die h-Moll-Messe, die Passionen. Mozarts Requiem, das Verdi-Requiem, sehr viel geistliche Musik. Auch Schubert und Wagner. Ich habe schon als Jugendlicher viele dieser Werke gesungen und eine so große Liebe zu der deutschen Kultur entwickelt. Und dann bin ich in Bayreuth und lese, wie Hitler beim „Tannhäuser“ geweint hat. Genau an den Stellen, an denen es auch mir den Rücken runter läuft. Und ich frage mich wieder: Was ist der Mensch? Wozu ist er fähig, wenn er irregeleitet ist? Tja, das ist und bleibt ein Rätsel.
IH: Ein schönes Schlusswort. Aber bitte noch einen Ausblick: „Vor der Wand“ ist der zweite Teil ihrer Trilogie aus der westfälischen Provinz. Was folgt als Drittes?
MG: Es wird im weitesten Sinne um das Thema Gewalt gehen. Gewalt Erwachsener gegenüber Kindern, auch Gewalt von Kindern untereinander. Auf jeden Fall möchte ich wieder eine ergreifende Geschichte erzählen.
IH: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Michael Göring: "Vor der Wand"
Osburg-Verlag
319 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-955100230
auch als E-Book erschienen
Leseprobe
Michael Göring liest aus „Vor der Wand“ am
Mittwoch, 12.3. 19.00 Uhr Berlin, Italienisches Kulturinstitut, Hildebrandstr. 2
Donnerstag, 10. 4. 19.00 Uhr Stuttgart, Theodor-Heuss-Haus
Sonntag, 13.4. 11.15 Uhr Herdecke, Carl Dörken Galerie, Wetterstraße 60
Samstag, 3. 5. 19.00 Uhr Iserlohn, Literaturhotel Franzosenhohl
Dienstag, 13.5. 19.30 Uhr Paderborn, Buchhandlung Linnemann, Westernstraße 31
Abbildungsnachweis:
Header: Michael Göring. Foto: Roman Pawlowski
Galerie:
01. Buch-Cover
02. Portait Michael Göring Foto: Isabelle Hofmann
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