Literatur

Im Rahmen der LiteraTourNord 2023/2024 las der österreichische Schriftsteller Tonio Schachinger, Träger des Deutschen Buchpreises 2023 in der Lübecker Buchhandlung Hugendubel aus seinem preisgekrönten Coming-of-Age-Roman „Echtzeitalter“.

In diesem Roman geht es um den fünfzehnjährigen Till Kokorda, der im Internet ein weltbekannter Gamer ist und sein analoges Dasein im snobistischen Umfeld eines elitären Wiener Internats verbringt.

 

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Schachinger erzählt hier vom Spannungsfeld einer Jugend zwischen Gaming und Klassikerlektüre, vom Drang nach Freiheit in einer Welt eingefleischter Traditionalisten und er stellt die Frage, ob es reales Glück ist, eine Online-Berühmtheit zu sein. Moderiert wurde der Abend in Lübeck von Caren Heuer, der stellvertretenden Leiterin des Buddenbrookhauses.

 

„Es geht um die Reproduktion von Elite“, erläuterte Caren Heuer eingangs die Funktion und gesellschaftliche Bedeutung des Wiener Eliteinternats Marianum, dessen Schüler Protagonist Till ist und das sich (im Roman) in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger befindet. Hier werden die Schüler und Schülerinnen - allesamt Kinder besserverdienender Eltern - gedrillt und auf ihren künftigen Platz in der Gesellschaft, auf ihre zukünftigen hohen Ämter und Karrieren vorbereitet. Till versucht beharrlich, sich jeglichem schulischen Stress zu entziehen. Er versucht sich durchzumogeln und sich Autoritäten nicht zu widersetzen. Till ist niemand, der sich in den Vordergrund drängt, er übt sich eher in der Kunst des Nichtauffallens. Das klappt allerdings mehr schlecht als recht. Als der Vater stirbt, taucht Till ab in die Welt von AOE (Age of Empires), ein sogenanntes Echtzeit-Strategiespiel. Und plötzlich ist Till mit seinen gerade mal fünfzehn Jahren eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Macht ihn das glücklich(er)? Das ist eine der großen Fragen, die „Echtzeitalter“ aufwirft.

 

Schachinger Echtzeitalter COVER„Das Buch ist eine Erzählung über das Erwachsenwerden“, so Moderatorin Caren Heuer. Es gehe auch darum, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, Überlebensstrategien zu entwickeln. Wir Lesende begleiten Till über einen Zeitraum von acht Jahren bis zur Matura. Wir sind sogar von Anfang an dabei, wenn sich Till und seine Mutter am Abend nach der Besichtigung des Internats und nach Aufstellung einer objektiven Liste für das Marianum entscheiden: „Vielleicht ist es normal für ein Kind, das seine Vorstellung von Internaten den Harry-Potter-Filmen und den Harry-Potter-Computerspielen verdankt, einen Ort zu sehen, an den es nicht gehört, und sich vorzustellen, es könne der dorthin passende Mensch werden. Vielleicht denkt Till auch einfach nicht darüber nach, weil er sich während der Besichtigung vorstellt, wie er vom Boden zur Dachrinne und von dort zum oberen Fenstersims springt, auf das höhere Nebengebäude klettert, über die Dächer zur Karlskirche läuft, um von ihrer Kuppel einen Köpfler mit angelegten Armen hinunter zu machen.“

 

Till glaubt, das Marianum sei die beste schulische Option und seine in Vollzeit arbeitende Mutter freut sich, ihren Sohn betreut zu wissen. Szenen wie diese kennzeichnen den gediegenen, feinen Humor, den der Autor durchgängig benutzt und dessen Umgang er perfekt beherrscht. Nie ist dieser Humor grob und verletzend, nie wird irgendjemand, wird irgendetwas ins Lächerliche gezogen; selbst die merkwürdigsten Charakteristiken eines Menschen werden ernsthaft - also wertschätzend – wahrgenommen und beschrieben. Die Prise Witz ist die Würze: Sie schafft eine wohltuende Nähe zwischen ProtagonistInnen und LeserInnen. Dieser spezielle Humor und überraschende Wendungen machen Echtzeitalter zu einer echt guten Geschichte.

 

Der Alltag von Till und dessen Mitschülern ist bestimmt von Strafen, Angst und Demütigungen. Denn über die Schüler der Klasse 1 b herrscht Klassenlehrer Dolinar, ein antiquierter und despotischer Mann, „der sich allen Anforderungen der modernen Welt, allen Kompetenzorientierungen gegenüber verhält wie ein unbeugsames gallisches Dorf. […] Der Dolinar verbietet seinen Schülern, Freifächer und unverbindliche Übungen zu belegen, er verbietet ihnen den Kontakt zu anderen Klassen, verbietet ihren Eltern, sich in seine Erziehung einzumischen, er verbietet jede schlechte Leistung, in Deutsch oder Französisch ebenso wie in irgendeinem der anderen Fächer, und jegliche Disziplinlosigkeit, jedes ausgebliebene Grüßen auf dem Gang, jedes zu langsame Aufstehen, jedes zu rasche Gehen wird bestraft. […]“

 

Der Dolinar braucht seine Schüler (und er missbraucht sie, wenn man es genau nimmt). Was er vor allem braucht, ist deren volle Aufmerksamkeit, „[…]deshalb, so meint er, muss er das Leben seiner Schüler einschränken, und er braucht sie nicht nur für Grammatik und Orthographie, die in sein Aufgabengebiet gehören, oder für all die anderen Themen, die er unterrichtet, weil sie ihn persönlich interessieren…“ Er braucht sie auch für sein Interesse an Belcanto-Opern, europäischen Herrscherfamilien, der Katholischen Kirche, Ballett und Architekturgeschichte. Vor allem aber braucht er sie für einen Bereich, der zwar durchaus zu seinen Lehrinhalten gehört, den er aber ganz anders interpretiert, als im Lehrplan vorgesehen: die Literatur.

 

Immerhin ist der Dolinar einer der wenigen Lehrkräfte, die überhaupt noch Literatur lehren, wenn auch in sehr begrenztem Rahmen und mit stark eingeschränktem Fokus: „Die drei goldenen Regeln, nach denen er seine Klassenlektüre auswählt, lauten: nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist. […] Der Dolinar lebt in der Vorstellung, es sei für Menschen, deren Eltern es sich leisten können, sechshundert Euro Schulgeld pro Monat zu zahlen, wichtig, einen Mörike, einen de La Motte Fouqué und einen Anzengruber gelesen zu haben, nicht um daraus «etwas mitzunehmen», wie man es neuerdings ausdrückt, sondern um sagen zu können, man kenne es. Um es einzuordnen.“ Ach, man möchte noch viel mehr von dem zitieren, was Schriftsteller Schachinger so alles über diesen Dolinar schreibt, der bei aller Griesgrämigkeit und Grausamkeit durchaus auch sympathische Seiten hat und der trotz aller Einschränkungen viel über Literatur zu vermitteln weiß. Was hält Tonio Schachinger persönlich von dieser Art der Literaturvermittlung, wollte Moderatorin Caren Heuer wissen. „Dolinar hat kein Gefühl für moderne Literatur, er hat das Gefühl, das sind seine Feinde“, antwortete Tonio Schachinger.

 

Tonio Schachinger F Marion Hinz

Tonio Schachinger beim Signieren. Foto: Marion Hinz

 

Schachinger, der 1992 im indischen Neu Delhi geboren wurde und heute in Wien lebt, kennt sich aus mit Lehrern. Er hat nicht nur wie sein Protagonist Till ein renommiertes Internat in Wien besucht, er hat auch Germanistik und Sprachkunst auf Lehramt in Wien studiert. Kein Wunder also, dass die Lehrkräfte in „Echtzeitalter“ allesamt trefflich beschrieben sind. Schachinger lässt mit ihnen ein Panoptikum von Personen auftreten, die jeder für sich und alle zusammen zwar recht merkwürdig sind, die aber im System recht gut funktionieren. Denn: Sie haben ihren Platz längst gefunden. Die SchülerInnen des Marianums hingegen sind noch auf der Suche. Was lässt sich hier fürs Leben lernen, fragt sich dementsprechend auch der pubertierende Till, der mit der analogen Welt seiner Umgebung - weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld – viel anfangen kann und lieber in die digitale Welt flüchtet. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, vor allem das Echtzeit-Strategiespiel „Age of Empires 2“. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon weiß, ist Till mit fünfzehn bereits eine Online-Berühmtheit: Er ist der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Doch wie real ist ein solches Glück? Was überhaupt ist Glück? Ist Glück vielleicht am ehesten in zwischenmenschlichen Beziehungen, in der Liebe zu finden? Im Laufe unserer Lesezeit stoßen zu all den heranwachsenden männlichen Schulkameraden, die wir durch Till kennengelernt haben, zwei Mädchen: Feli und Fina. Und somit spielt nun auch die Liebe eine Rolle im Buch. Gab es hier reale Vorbilder? wollte die Moderatorin der Lübecker Lesung wissen. Schachingers Antwort: „Na ja, ich habe schon ein paar Mädchen kennengelernt.“ Das Publikum freut`s.

 

Die Romanfiguren Feli, Fina und Till lernen sich jedenfalls in der Raucherecke kennen, dem einzigen Freiheitsraum im gesamten Schulkomplex. Ob und wie sich die Liebe zwischen Till und Feli entfaltet, entwickelt, soll hier nicht verraten werden. Nur dies: „Die Liebe ist wohl schon das wichtigste Thema in diesem Roman“, so Tonio Schachinger. Abgesehen vielleicht von der grundsätzlichen Frage, was im Leben wirklich wichtig ist. „Eigentlich ist das Leben wichtig und nicht das Schreiben“, überlegte er am Ende der Lesung in Lübeck und bekannte, „wenn ich mich für das eine oder andere entscheiden müsste, würde ich das Leben wählen“. Wir Lesende dürfen hoffen, dass für Tonio Schachinger letztendlich Leben und Schreiben zu einer Einheit werden, die nicht mehr zu trennen ist und wir bald mehr von ihm lesen werden. Immerhin stand sein erster Roman „Nicht wie ihr“ bereits auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019. Diesmal hat`s geklappt. Die Buchpreis-Jury 2023 begründete ihre Entscheidung so: Schachinger spiegele in seiner Coming-of-Age-Geschichte mit feinsinniger Ironie die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart und verhandele auf erzählerisch herausragende Weise die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur.

 

Auch interessant zu wissen: Es gibt professionell-kritische Stimmen, die Tonio Schachingers preisgekrönten Roman „Echtzeitalter“ lediglich als „nett, aber harmlos“ (Die Welt) bewerten. Andere Stimmen hingegen loben es als „kluges, höchst amüsantes und herzerwärmendes Buch (FAZ). Der heimische ORF bezeichnet das Buch als einen Roman, „der grundsätzlich den richtigen Ton trifft, zwischen spöttischer Distanz, Analyse und Einfühlung, so dass sich das herzerwärmende Tschick-Gefühl von Wolfgang Herrndorf einstellt“. So oder so: Ein gutes Buch lässt sich immer auf verschiedene Weise lesen. Es lohnt sich, diesen Roman als Lektüre zu wählen. Denn Lesespaß bietet „Echtzeitalter“ allemal.


Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Verlag: Rowohlt Buchverlag
Roman

Hardcover mit Schutzumschlag, 368 Seiten / e-Book

ISBN: ISBN: 978-3-498-00317-3

Weitere Informationen (Verlag)

Auch als Hörbuch erhältlich beim Argon-Verlag

 

Weitere Lesungen:

29.11.2023: Universitätsbibliothek Wien, Universitätsring 1, A-1010 Wien

30.11.2023: Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 80333 München

07.12.2023: Kuppelsaal der Deutschen Bank, Königsallee 45-47, 40212 Düsseldorf

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