Literatur
Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß09

Rudolf flog den Tepual International Airport von Süden an. Zur Rechten konnte Steve die Hafenstadt Puerto Montt erkennen, die in Chile das „Tor zum letzten Drittel” genannt wurde. Das letzte Drittel dieses schmalen Handtuchstaates an der Westküste Südamerikas war dem Rest der Welt als Patagonien bekannt, wobei die Anden das Gebiet in einen chilenischen und einen argentinischen Teil trennten. Der Name Patagonien, das hatte Steve in der Vorbereitung auf sein Treffen mit Malcolm Double U herausgefunden, ging auf den portugiesischen Entdecker Ferdinand Magellan zurück, der den einheimischen Tehuelche-Indianern, denen er 1520 in Feuerland begegnet war, aufgrund ihrer großen Statur den Namen patagones gegeben hatte.

„Von hier aus sind es noch zweihundert Meilen bis zu Malcolms Residenz”, sagte Rudolf, nachdem er Omais „Gemüseschaber”, wie die zweistrahlige Adam A900 unter Tahitianern scherzhaft genannt wurde, aufgesetzt hatte. Tatsächlich erinnerte das Höhenleitwerk an ein überdimensionales Küchengerät, das durch die Seitenleitwerke, welche der Maschine von hinten an die Flügel griffen, mit der siebensitzigen Fahrgastzelle verbunden war. Ein Blaulicht verspritzender, in ein gelb-schwarzes Schachbrettmuster „gewickelter” Combi rauschte heran und setzte sich vor sie. Auf seinem Dach blinkte in leuchtendem Rot eine nicht zu übersehende Botschaft: FOLLOW ME! Im Schlepptau dieses Farbfeuerwerks trudelten sie über die Runway auf das weite Vorfeld des Flughafens, auf dem außer einer älteren Cessna Corvalis nichts parkte, was in Verdacht stand, fliegen zu können. Dennoch wurden sie von einem Mann im phosphorfarbenen Overall auf ihre Position eingewunken. Erst als dieser die Kellen über Kreuz hielt, durften die Maschinen stoppen.
Als Steve und Rudolf das Flugzeug verließen, wartete Malcolm Double U bereits an der Treppe. Er war schlanker als auf den zahlreichen Fotos, die vor dreizehn Jahren im Internet kursierten. Damals war der Mann, der ihnen jetzt so kräftig die Hände schüttelte, noch unumschränkter Herrscher und Inspirator des Spielimperiums ENDGAME, mit dem er Milliarden scheffelte. Steve hatte dieses Computergenie vergöttert. Da war er nicht der Einzige. Malcolm Double U stellte in den Augen seiner Generation den legitimen Nachfolger des großen Steve Jobs dar. Er war jung und er war blass, er schien die Sonne ebenso wenig zu Gesicht zu bekommen, wie die meisten seiner Jünger, die gerne in der Abhängigkeit lebten, in die sie Malcolm geführt hatte. Viele ließen sich sogar ihrem Idol folgend auf der linken Seite des Kopfes die Haare scheren, um ihrer Haarpracht auf der rechten Seite freien Lauf zu lassen.
Steve gehörte nicht zu den Leuten, die Malcolm Double U zu ihrer Mode-Ikone erkoren. Er spielte die ENDGAME-Spiele gerne, das war’s. Vor allem die Warrior-Serie I bis V hatte es ihm angetan. Vielleicht fand er Gelegenheit, mit Malcolm darüber zu sprechen, aber so sah es nicht aus, denn der Mann, der mit ihnen in die Cessna Corvalis stieg, hatte nichts mehr mit der Kultfigur gemein, die er einst gewesen war. Die glatte Blässe war ebenso verschwunden, wie die schläfrige Kälte in seinen Augen, die jetzt erstaunlich wach und freundlich aus einem wettergegerbten Gesicht blickten. Trug Malcolm früher ausnahmslos schwarz, so war er jetzt in eine bunte Wolljacke gekleidet, um den Hals hatte er einen langen roten Baumwollschal gewickelt und den zur Gänze geschorenen Schädel bedeckte eine etwas schräg sitzende Schiebermütze.
Als sie Richtung Startbahn rollten, warf ihr Gastgeber noch einen Blick auf Omais Staatstaxi. „Fühlt sich merkwürdig an, diese geriffelte Außenhaut”, sagte er, „wozu ist die gut?”
„Das Material ist der Haifischhaut nachempfunden”, antwortete Rudolf. „Die Haut eines Haifisches ist mit mikroskopisch feinen, in Strömungsrichtung verlaufenden Rillen versehen. Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt hatte man herausgefunden, dass die feinen Rillen bremsende Querströmungen verhindern und den Treibstoffverbrauch drastisch senken. Merkwürdig, dass diese Erkenntnis bei den großen Flugzeugbauern wie Airbus und Boeing nie angekommen ist. Naja, deren Zeit ist ja sowieso vorbei…”
Malcolm klopfte auf die Sichtblende über den Armaturen. „Dieses alte Baby braucht keine Haifischhaut. Wir fliegen ja lediglich in einem Umkreis von dreihundert Meilen spazieren. Aber auf kalt gepresstes Öl habe ich sie natürlich schon umrüsten lassen. Funktioniert hervorragend und stinkt bei weitem nicht so wie Flugbenzin. Wieso nennt man Sie eigentlich Rudolf? Sie sind doch Tahitianer.”
„Ich war zwei Jahre in Deutschland. Seitdem werde ich so genannt. Rudolf klingt für die Tahitianer sehr exotisch.” Sie flogen eine Schleife über Puerto Montt und steuerten auf die vierzig Meilen breite Bucht hinaus. „Wie spricht man Sie eigentlich an”, fragte Rudolf. „Malcolm? Oder doch eher Double U?”
„Double U ist Geschichte. Hier nennt man mich El Luchador – der Kämpfer. Für Sie bin ich schlicht Malcolm. Apropos Geschichte: Steve, ich weiß, dass Sie es bei Warrior V unter die letzten Hundert geschafft hatten, und das bei über eine Milliarde Teilnehmern. Ihr Plan, eine Ökodiktatur zu installieren und der Bevölkerungsexplosion mit einer flächendeckenden Massensterilisation auf allen Kontinenten zu begegnen, war zweifellos der radikalste aller Vorschläge zur Rettung der Welt. Sie hätten das Spiel gewinnen können. Warum sind Sie ausgestiegen?”
Steve war sichtlich verblüfft. Dass Malcolm seine Spielerlegende kannte, machte ihn sprachlos.
„Ich habe das recherchiert, nachdem ich ein Fan von MAEVAS REISE geworden war”, hörte er Malcolm sagen. „Also: Warum sind Sie damals ausgestiegen?”
„Ich weiß nicht mehr so genau”, antwortete Steve. „Ich befand mich auf Tahiti. Ich hatte dort Freunde gewonnen, die interessierte nicht, was ich machte, die haben mich sogar ausgelacht wegen meiner Spielsucht. Wir sind surfen gegangen, waren viel in der Natur unterwegs …”
„Exakt! Auf den Punkt. Sie haben sich für das wahre Leben entschieden. Das habe ich auch getan. Die Natur hilft, wieder zu uns selbst zu finden. In der Natur werden wir allmählich immer gefestigter. Tatsächlich macht uns die Natur nur auf etwas aufmerksam, was wir für immer verloren zu haben glaubten.”
Irgendwann, so erzählte Malcolm, hatte er von dem inzwischen verstorbenen Douglas Tompkins erfahren, der sein Modeimperium, bestehend aus den Marken Esprit und The North Face, verkauft und sich mit dem stattlichen Erlös Ländereien in Patagonien gekauft hatte. Schon bald war Tompkins der größte private Grundeigentümer der Welt. Sein Land erstreckte sich vom Stillen Ozean bis zu den Höhenzügen der Anden. Über ein verschachteltes System von Stiftungen hatte der Multimillionär Dutzende Farmen erworben, die er nun wie ein Puzzle zu einem gigantischen Naturpark zusammenfügte. „Wenn man ein Ökosystem bewahren will”, sagte Malcolm, „kann das Schutzgebiet gar nicht groß genug sein. Das ist der Grund, warum ich dort angeknüpft habe, wo Tompkins aufgehört hat. Ich hoffe, dass noch viele, deren Reichtum ihre innere Leere immer größer werden lässt, diesem Beispiel folgen werden.”
Steve traute seinen Ohren nicht. Ihr Gastgeber hatte soeben en passant zu verstehen gegeben, was Maeva schon vor sechs Jahren im Kopf hatte und weswegen er überhaupt hergeschickt worden war. In Maevas Plänen spielte Malcolm eine herausragende Rolle. Er sollte die Verbindung zu jener Klientel herstellen, die angesichts der dramatischen Weltlage bereit war, ihr enormes Vermögen sinnstiftend einzusetzen. Die Aussichten, Malcolm als Vermittler gewinnen zu können, standen offensichtlich nicht schlecht. Bei dem Gedanken, Maeva von Malcolms Zusicherung berichten zu können, schlug Steves Herz einmal kräftig aus. Aber noch war nichts entschieden.
„Wenn Sie an Ihr altes Leben zurückdenken, Malcolm, schämen Sie sich gelegentlich für das, was Sie getan haben?”, fragte er, um seine hitzige Vorfreude auf Betriebstemperatur zu drosseln. Das war nun nicht gerade diplomatisch formuliert und eventuell sogar beleidigend, aber Malcolm reagierte sehr entspannt.
„Nein”, antwortete er lachend, „zu keinem Zeitpunkt. Schließlich war es ja erst mein Megaerfolg, der mir den Ausbruch ins wahre Leben ermöglicht hat. Der Kapitalismus ist eine grausame Maschine, die ständig mehr will, und das immer schneller und immer größer. Erst als ich mit Geld regelrecht überschüttet wurde, wurde mir bewusst, was für ein Jammerdasein ich führte. Das Streben nach noch mehr Geld und noch mehr Macht zwingt die meisten, die sich auf dieses Spiel einlassen, in eine nie endende Aufwärtsspirale. Ich hatte Glück, ich konnte entkommen. Seien wir ehrlich, die Spiele, die ENDGAME auf die Kids in aller Welt losgelassen hat, brauchte doch kein Mensch. Auf der anderen Seite bin ich froh um meine unternehmerische Erfahrung, sie hilft mir heute enorm. Den Teufel kannst du nur mit dessen eigenen Waffen schlagen, mit Geld und mit Management.”
Sie flogen in etwa hundert Meter Höhe. Schwärme von Flamingos erhoben sich vor ihnen aufgeschreckt in die Lüfte, Alligatoren glitten ins Wasser, ein Ameisenbär trabte über die Savanne. „Ich stelle Wildnis her”, sagte Malcolm, „so wie ein Architekt historische Bauten restauriert…”
„Sind Sie stolz darauf?”, fragte Steve.
„Stolz bin ich auf meine Fähigkeit, traurig zu sein. Wenn mehr Menschen diese Fähigkeit in sich entdecken würden, sähe die Welt anders aus.” Er massierte kurz seine Augenlider. „Südlich unseres Nationalparks sollen fünf Kraftwerke entstehen”, sagte er. „Am Río Cuervo, Río Baker und Río Pascua. Wenn es dazu kommt, werden fast sechstausend Hektar Wald überflutet. Der Strom, der für Santiago gedacht ist, soll in einer zweitausendzweihundert Kilometer langen Leitung nordwärts fließen, das wäre die längste Hochspannungsleitung der Welt, gehalten von siebzig Meter hohen Masten, die auf einer Trasse von hundertfünfzig Meter Breite durch zwölf Naturreservate marschieren würden. Dabei ist die Lage in Patagonien schon jetzt äußerst bedrohlich. Wenn sich die chilenische Agroindustrie hier weiterhin so schamlos bedient, ist es bald vorbei mit unserem Wasserreichtum. Die Schätze der Savanne werden von riesigen Rinderherden zertrampelt und was die Dürre nicht schafft, das besorgt die Zelluloseindustrie, deren gigantische Eukalyptusplantagen die Böden auslaugen. Ich beschäftige fünfhundert Leute auf der Estancia El Socorro, mit deren Hilfe ich die Folgen des Raubbaus rückgängig zu machen versuche. Wir holzen den Eukalyptus ab, leiten begradigte Bäche und Flüsse in ihr ursprüngliches Bett zurück und verwandeln Weideland in Savannen.”
Plötzlich legte er die Maschine zur Seite und drückte sie in die Tiefe. „Eine Lachsfarm! Interessant, die kenn ich noch nicht!”, rief er ins Mikrofon. „Die Eigner sind meist Norweger. Sie reisen bis ans Ende der Welt, um das tun zu können, was ihnen zu Hause verboten ist. So eine Norwegerfarm produziert die gleiche Menge Mastlachs wie alle chilenischen Farmen zusammengenommen. Mit dem Unterschied, dass die Norweger auf einer einzigen Farm pro Jahr achthundert Tonnen Antibiotika verfüttern und die Chilenen alles in allem knapp hundert.”
Malcolm drehte eine weitere Runde, als könnte er nicht fassen, was er dort unten zu sehen bekam. „Sie geben den Lachsen Farbstoffe zu fressen, damit ihr Fleisch schön rosa wird”, sagte er, „sie setzen Fungizide ein, Pestizide, Desinfektionsmittel – sie schrecken vor keiner Perversion zurück, wenn es ums schnelle Geld geht. Eine Lachsmast produziert so viel Scheiße wie eine Stadt von fünfundsechzigtausend Einwohnern.”
Er zog die Cessna hoch und flog in Sichtweite der schneebedeckten Anden Richtung Süden. Nach einer halben Stunde setzten sie auf einer Flussinsel im Parque Pumalín zur Landung an. Als Malcolm den Motor abgestellt hatte, blieb er noch eine Weile regungslos sitzen.
„Diese Trauer, die ich meine, wirst du nie mehr los”, sagte er. Dann öffnete er die Tür. Auf der Graspiste hatten sich einige Landarbeiter zur Begrüßung eingefunden. Sie reichten den Ankömmlingen Kürbisschalen mit heißem Matetee und klagten über die monatelange Dürre, die ihnen und ihren Familien zu schaffen machte.
„Viele Sümpfe im Park sind ausgetrocknet, die Feuchtwiesen verwandeln sich allmählich in Steppen”, erklärte Malcolm seinen Gästen auf dem Weg in die Lodge, die einst Douglas Tompkins gehörte. „Alles eine Folge des dramatischen Klimawandels, dessen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind.” Er öffnete die schwere Holztür, bat Steve und Rudolf hinein und ließ sich erschöpft in einen Sessel sinken. „›Wenn ein Mann so zart wie eine Blume ist, so scharf wie ein Schwert und so verletzlich wie ein Blütenblatt, dann erst ist er ein ganzer Mensch.‹ Wer hat das gesagt? Helft mir. Na egal. Ich glaube, es war Konfuzius. Was er damit meinte, ist klar. Zart und hart muss man sein, dann ist man unteilbar. Dann ist man wirklich ein Individuum. Individuum: das Unteilbare. Man ist heimgekehrt, man ist eins geworden. Jetzt kann man sich ausruhen und entspannen.” Malcolm streckte die Füße von sich und lachte. „Für dieses Jahrhundert bin ich Pessimist”, sagte er, „für das kommende Jahrhundert bin ich allerdings sehr optimistisch gestimmt!”
„Guten Morgen!” begrüßte Malcolm seine Gäste. „Gut geschlafen?”
„Fantastisch”, antwortete Steve. Rudolf pflichtete ihm bei.
„Kaffee oder Tee?”
„Für mich Kaffee.”
„Rudolf?”
„Auch.”
„Okay, setzt euch, Frühstück ist gleich fertig.”
Steve, der gerade Platz nehmen wollte, entdeckte neben dem Kamin einen Bildband über den kalifornischen Yosemite-Nationalpark, dessen Begründer Malcolms erklärtes Vorbild war. John Muir (1838-1914) galt als Urvater der Deep Ecology. Das Engagement dieses Mannes, den seine Verehrer gerne den „Wildnispropheten” nannten, hatte sogar den US-Präsidenten Theodore Roosevelt beeindruckt, mit dem Muir 1903 in Yosemite auf eine mehrtägige Campingtour gegangen war. Drei Jahre später wurde das Tal auf Betreiben Roosevelts der Bundesregierung übertragen und stark erweitert als Nationalpark ausgewiesen. Daran erfreuen konnte sich heute niemand mehr. Yosemite befand sich in ECOCA und in der Ökodiktatur war es den Menschen verboten, die sogenannten „Schutzgebiete” zu betreten, die fast achtzig Prozent des Staatsgebiets ausmachten.
„Großartige Bilder, oder?”, fragte Malcolm, als er den Kaffee einschenkte. „In gewisser Weise kann ich sogar nachvollziehen, dass der Ökorat seinen Bürgern den Zutritt verbietet. Der Mensch hat viel zu lange auf der Natur herumgetrampelt, um es mal milde auszudrücken. Dabei brauchen wir die Natur so nötig wie die Luft zum Atmen. Aber wie gesagt, ich verstehe, warum man ihr eine Verschnaufpause gönnt. Trotzdem: Wir machen das anders. Wir sperren die Menschen nicht aus, wir lassen sie teilhaben an der natürlichen Pracht. Weil wir glauben, dass diese Pracht wie ein Zauber auf sie wirken wird. Schaut euch die maroden Megastädte an, in denen sie leben müssen. Santiago zum Beispiel. Von den einundzwanzig Millionen Chilenen leben über die Hälfte in Santiago. In den Vorstädten und Favelas hat die Stadtverwaltung gigantische LED-Bildschirme installiert, auf denen Sonnenuntergänge, brausende Brandungen oder stille Wälder zu sehen sind. Das Placebo wirkt, die Kriminalitätsrate ist rückläufig. Pervers, aber wahr.”
Malcolms Reich umfasste mittlerweile zwei Millionen Hektar, vor Kurzem erst hatte er in der argentinischen Provinz Corrientes sechzehn ehemalige Rinderfarmen und Reisplantagen aufgekauft, die er renaturieren und dem Nationalpark einverleiben wollte. Im Park lebten siebenundfünfzig Säugetierarten und zweiundneunzig Vogelarten. Es gab hundertzwölf Seen, vierundzwanzig Berge und drei Vulkane auf dem Gebiet. Über fünfhundert Menschen arbeiteten hier: Bauern, Imker, Bootsführer, Botaniker, Sekretärinnen. Die Zukunft, davon war Malcolm überzeugt, ist ein Gewebe aus kleinen, dezentralen Einheiten – wirtschaftlich, politisch und kulturell.
„Dass diese Zukunft nicht einfach zu haben ist, davon kann ich ein Lied singen”, sagte er und erzählte von den Widerständen, denen er seit Jahren ausgesetzt war. „Ich kaufe Land, um es vor Abholzung, Überweidung, Überbauung und Erosion zu schützen. Manchmal kaufe ich auch Land, das bereits verwüstet ist. Wir bestücken es mit einheimischen Bäumen, die in unseren Baumschulen gezogen werden.
Mein ursprünglicher Plan sah vor, das renaturierte Land dem chilenischen oder argentinischen Staat zu schenken – unter der Bedingung, dass der Staat es zum Nationalpark erklärt. Damit haben die Regierungen allerdings ihre Schwierigkeiten. Sie sehen in mir eine Gefahr für die nationalen Interessen, wie man die wirtschaftliche Ausbeutung des Regenwaldes zu nennen pflegt. Vor allem die Unternehmerverbände üben Druck auf die Regierungen aus. In Argentinien streuen sie das Gerücht, dass ich als Strohmann der US-Regierung agiere, die es auf die strategisch wichtigen Süßwasservorräte des vom Rio Paraná gespeisten Schwemmgebiets abgesehen habe. Die katholische Kirche, welche in Südamerika noch immer eine immense Rolle spielt, verurteilt mich als Menschenverächter, weil ich für eine strikte Geburtenkontrolle eintrete. Sogar die Umweltschutzorganisationen Chiles und Argentiniens sehen in mir eher einen Feind als einen Freund. Sie glauben ja noch immer an das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung zwischen Ökonomie und Ökologie. Natur und Wirtschaftswachstum aber lassen sich nicht versöhnen, weil das herrschende Wirtschaftsmodell auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen basiert. Ein solches Argument lassen die gekauften Umweltschützer allerdings nicht gelten …
Wie schmeckt der Honig, Rudolf? Nicht schlecht, oder?”
Malcolm steckte, wie Steve wusste, einen großen Teil seines Reichtums in eine Stiftung, die von Douglas Tompkins gegründet worden war und deren Namen er von Foundation for New Thinking in Foundation for Deep Ecology umbenannt hatte. Deep Ecology war eine spirituell ausgerichtete Naturphilosophie, die anstelle rein wissenschaftlicher Antworten auf die ökologischen Probleme ein tieferes, ganzheitliches Denken einforderte. Steve sah zu Malcolm hinüber, der eine seiner trächtigen Pausen eingelegt hatte, wobei er das linke Knie gegen die Tischkante stemmte, während er mit dem Stuhl gerade so weit nach hinten kippte, dass er die Balance bewahrte, ohne der Schwerkraft in den Rachen zu fallen. Steve mochte diese kindlichen Attitüden, die ihr Gastgeber häufiger an den Tag legte.
„Was halten Sie von folgender Idee?”, sagte Malcolm plötzlich. „Ich spiele schon seit längerer Zeit mit dem Gedanken, mich bei der URP um eine Mitgliedschaft zu bewerben. Als autonome Region Pumalín. Was meinen Sie, hätte so ein Antrag Aussicht auf Erfolg? Schließlich handelt es sich hier um Privatbesitz. Soviel ich weiß, hatten die einen solchen Fall noch nicht in der URP…”
Ähnlich wie gestern im Flugzeug, als Malcolm seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, dass auch andere aus der Gattung der Superreichen seinem Beispiel folgen könnten, hatte Steve auch jetzt das Gefühl, dass ihm das Schicksal in die Karten spielte. Und wieder schlug ihm das Herz bis zum Hals. Die Situation, vor der er sich bei seiner Abreise noch gefürchtet hatte und von der er nicht wusste, wie er sie einfädeln sollte, hatte sich von ganz alleine ergeben – im doppelten Wortsinn, wie er fand. Er entschuldigte sich, ging auf sein Zimmer und kam mit dem Brief zurück, den er Malcolm im Auftrage Maevas übergeben sollte, was er ohne weitere Erklärung tat.
Malcolm öffnete das Couvert und las. Als er fertig gelesen hatte, faltete er das Schreiben zusammen und steckte es unter den Brotkorb. „Was soll das?”, fragte er sichtlich verärgert. „Wenn die URP meine Hilfe benötigt, kann sie mich ganz normal fragen und dann überlege ich mir, was ich antworte. Man muss mich nicht mit so einem billigen Märchen zu ködern versuchen, das ist respektlos. Der Verstorbenen gegenüber und auch mir gegenüber…”
„Das ist kein Märchen”, antwortete Steve. „Maeva lebt, es ist ihre Handschrift. Rudolf kann das bestätigen, er war dabei, als das Flugzeug mit Maeva an Bord vor der Kokosinsel abstürzte, wie es offiziell hieß. Erzähl es ihm, Rudolf, erzähl jedes Detail der Geschichte.”
Nachdem der Tahitianer die Gründe für die Aktion erläutert hatte, mit der die Arioi unter Führung Omais und Rauuras Maeva aus dem Spiel genommen haben, nachdem er auch die Einzelheiten des inszenierten „Absturzes” vor der Kokosinsel geschildert hatte, herrschte bedrückendes Schweigen am Tisch. Schließlich bat Malcolm darum, ihm den Brief noch einmal laut vorzulesen.
Steve, der zwar wusste, um was es ging, das Schreiben aber selbst nicht kannte, hatte Mühe, seine Hände ruhig zu halten. Er räusperte sich und begann:
„Lieber Malcolm Double U!
Leider ist es damals nicht zu unserem vereinbarten Treffen gekommen. Sicher haben Ihnen Steve und Rudolf bereits die Wahrheit über meinen ›Tod‹ erzählt, der eben dies verhindert hatte. Unnötig zu erwähnen, dass ich – falls man mich denn gefragt hätte – niemals einverstanden gewesen wäre. Inzwischen erkenne ich die lauteren Motive meiner Entführer und ich erkenne sie an.
Ich bin seit Kurzem wieder an der Spitze der URP aktiv. Ich wirke zwar im Geheimen, aber doch in enger Zusammenarbeit mit der Vorsitzenden Rajani Bala. Wir alle wissen, dass der Zusammenbruch der zivilisierten Welt nicht mehr aufzuhalten ist. Vor diesem Hintergrund wächst aber auch die Chance, auf unseren Rettungsinseln, als die ich die URP-Regionen gerne bezeichne, ein neues Bewusstsein zur Blüte zu bringen, auf das die Erde so lange vergeblich gewartet hat. Dazu bedarf es sowohl wissenschaftlicher als auch spiritueller Hilfe. Vor wenigen Wochen erst hatten wir auf Tahiti einhundertachtundachtzig Schamanen und Weise unserer Zeit zu Gast, die sich mir gegenüber dazu verpflichtet haben, ihr Wissen unseren Regionen zur Verfügung zu stellen, wann und wo immer es benötigt wird.
Das alles lässt sich gut an. Woran es der URP mangelt, ist ein gesundes Finanzpolster, das es erlauben würde, schnell und unbürokratisch dort zu helfen, wo Hilfe dringend erforderlich ist. Deshalb wiederhole ich die Frage, die ich Ihnen bereits vor sechs Jahren stellen wollte: Wäre es möglich, unter den Milliardären dieser Welt, von denen Ihnen ja viele persönlich bekannt sind, die Bereitschaft zu wecken, der URP finanzielle Unterstützung zu gewähren? Ich schätze Ihr persönliches Engagement über alle Maßen. Und ich traue Ihnen zu, dass Sie in der Lage sind, den maßlos Wohlhabenden zu erklären, worin der wirkliche Gewinn des Lebens besteht…
Alles Liebe
Maeva
PS: Sie sind jederzeit herzlich eingeladen, mich auf Tahiti zu besuchen.”
Malcolm hatte bei geschlossenen Augen zugehört. Und als müsse er die Worte erst einmal verdauen, öffnete er sie auch nicht, als Steve geendet hatte. Außer dem Wind, der am Haus rüttelte, war in den folgenden Minuten nichts zu hören. Schließlich drückte sich ihr Gastgeber aus dem Stuhl, zog das Hemd straff, lächelte und sagte: „Das müsste sich machen lassen. Sagt Maeva, dass ich mich bemühen werde. Sie hört von mir. Kommt, Leute, gehen wir ein bisschen spazieren…”
sechs, sieben, acht, neun. Clarke stand an neunter Stelle.

Die exklusive Veröffentlichung bei KulturPort.De
Die nächste Folge (Feuer am Fuß 10) erscheint am Montag, 23. November 2015.
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Lesen Sie die Einführung von Hans-Juergen Fink: Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß - Reality Fiction pur vom 28.10.2015 (Literatur)


Hintergründe - Bezüge - Wissen

KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder Folge Hintergrundwissen in einer „Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll Einblick gegeben werden in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.

Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er bereits schon einmal den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.

D und K TompkinsDer Naturschützer Douglas Tompkins Der Schutzmann (Vorbild von Malcolm Double U) aus FAZ


YouTube-Video (in englischer Sprache): Buying-up Eden - Chile
Millionaire Doug Tompkins wanted to save a rainforest, so he went out and bought one in Southern Chile. Many Chileans though are not so keen on his philanthropy and regard him with suspicion.

KRIS und DOUG TOMPKINS. Foto: Sam Beebe. Quelle: Wickipedia CC BY-SA 2.0

Pumalín-ParkDer Pumalín-Park (span.: Parque Pumalín) ist ein Naturschutzprojekt des US-amerikanischen Millionärs Douglas Tompkins. Er liegt im Süden Chiles, zwischen Hornopirén und Chaitén. Mit einer Fläche von inzwischen rund 325.000 Hektar ist Pumalín der größte private Park des Landes. Damit ist der Park so groß wie das Saarland und Hamburg zusammen.
Der Park wurde errichtet, um den sogenannten gemäßigten Regenwald zu schützen. Er umfasst das letzte große zusammenhängende Waldgebiet Chiles. Außerdem kaufte Tompkins Gebiete dazu, die von Rinderzüchtern und der Holzindustrie entwaldet wurden. Jährlich werden im Pumalín-Park 300.000 heimische Bäume und andere Gewächse angepflanzt. Damit versucht man die ursprüngliche Natur wieder herzustellen.
Der Pumalín-Park ist nicht nur ein Naturschutzgebiet, sondern auch ein Arbeitgeber für die einheimische Bevölkerung. So stricken die Frauen der Umgebung Kleidung. Dafür verwenden sie Wolle von Schafen, die im Park gehalten werden. Auch Früchte und Gemüse werden biologisch angebaut und landesweit verkauft.
Im August 2006 erklärte der chilenische Staat das Gebiet zum Schutzgebiet.
Wegen der Ausbrüche des in der Nähe gelegenen Vulkans Chaitén wurde der Park zeitweilig geschlossen. Seit Mitte Dezember 2010 ist er wieder geöffnet.
Die Fischindustrie fühlt sich in ihren alten Rechten vom Park eingeschränkt und kämpft vor Gericht gegen eine Ausweitung.
In den Fjorden an der Küste des Parks wurden viele Lachsfarmen errichtet. Sie verschmutzen mit ihrem künstlichen Zuchtfutter, den Ausscheidungen der Tiere und dem Medikamenteneinsatz die Gewässer. – Foto und Quelle: Wikipedia

WIE DIE ZIVILISATION SCHON EINMAL AUF DEM MÜLLBERG DER GESCHICHTE LANDETE
„Als der erste Weltreisende James Cook nach dem heutigen Tahiti kam, nannte er diese Inselgruppe, die weltverloren in der Südsee liegt, die „Freundschaftsinsel“, weil die Eingeborenen ihn und seine Reisegefährten mit rührender Gastfreundschaft aufgenommen hatten. Geradezu paradiesische Zustände hat Cook dort vorgefunden. Das Paradies ist verschwunden, dafür aber hat sich dort jetzt die Zivilisation und mit ihr die Weltwirtschaftskrise eingefunden.
Nun kommt uns aus diesem Thule des Südens die Nachricht, daß die Eingeborenen in ihrer Hauptstadt Papeete einen Kongreß zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise abgehalten haben, auf dem sie beschlossen, daß Übel mit der Wurzel auszurotten. Die Tahitianer haben richtig erkannt, daß die Krise eine Folgeerscheinung der Zivilisation und ihrer Technik ist. Daher wurde eine Resolution angenommen, nach der alle Maschinen, Autos und Dampfschiffe auf Tahiti zu vernichten sein. Auf die Kunde davon hat die französische Regierung der Kolonie sofort einen größeren Wirtschaftskredit gewährt. Probatum est!"
Aus der MÜNCHNER ZEITUNG vom 1.11.1931
Im Roman "Das Tahiti-Projekt" von Dirk C. Fleck ist die Rückbesinnung DAS Thema

PRESSESTIMME
"Ein Mut machender Anstoß, die Denkrichtung wenigstens versuchsweise zu wechseln. Der Roman überzeugt durch seinen ökovisionären Charakter."
Frankfurter Allgemeine Zeitung

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