Das Buch „Elemente indigenen Stils. Wie schreibt man über Indigene und ihre Kultur?“ ist eine Geste der Versöhnung. Sein Autor, der Schriftsteller, Wissenschaftler und Verleger Gregory Younging, ist Angehöriger der Opaskwayak Cree Nation und entwickelt darin 22 Grundsätze zum Schreiben und Verlegen von indigener Literatur.
Auch wenn dieser Leitfaden zum Umgang mit indigener Kultur auf die spezifische Situation in Kanada zugeschnitten ist, vermittelt seine Lektüre grundsätzliche Erfahrungen und Einsichten über die Bedeutung und Notwendigkeit von Dekolonisierung.
Noch in den 1990er Jahren, schreibt Gregory Younging (1961–2019) in seiner Einleitung, habe er häufig gefordert, dass nicht-indigene Menschen schlichtweg aufhören sollten, über indigene Themen zu schreiben. Nachdem er mittlerweile auch eine gute Zusammenarbeit und einen respektvollen Umgang erlebt habe, sage er nun, dass mehr indigene Autoren, Lektoren und Verleger in der kanadische Buchbranche präsent sein sollten. Damit ihre Perspektive den ihr gebührenden Platz im Kulturbetrieb einnehmen kann, braucht es eine neue Haltung, einen neuen Arbeitsstil, nicht über, sondern mit den First Nations zu sprechen, zu schreiben und zu publizieren. Youngings klug und fundiert begründeter Leitfaden gibt konkrete Empfehlungen, wie das in der Praxis gelingen kann.
Im Grundsatz 1 heißt es, dass die Aufgabe des indigenen Stils darin besteht, „Werke hervorzubringen, die indigene Realitäten abbilden, wie sie von indigenen Völkern wahrgenommen werden“. Im Grundsatz 2 folgt dann, dass im Konfliktfall, wenn sich indigener und gängiger Stil widersprechen, der indigene Stil Vorrang hat. Hintergrund dieser Forderungen ist die lange Tradition historischer, literarischer und ethnologischer Texte, die indigene Völker als primitiv und unterentwickelt abwerteten, ihre komplexe Sozialstruktur und Kultur nicht verstanden und verleugneten. Erst seit den 1980er Jahren entstand eine „verbündete akademische Literatur“, in der sich Autoren der Siedlergesellschaft bemühten, sich der indigenen Realität mit Respekt anzunähern. Was aber fehlte: die Innenperspektive, wie sich die First Nations selbst sahen und interpretierten.
Daraus folgt nicht nur, dass – bis auf wenige gekennzeichnete Ausnahmen – die korrekten originalen Namen und Bezeichnungen der indigenen Gemeinschaften benutzt werden sollten, sondern vor allem, dass sie immer konsultiert und um Erlaubnis gefragt werden müssen, bevor ein Verlag z.B. eine ihrer mündlich überlieferten Geschichten publizieren will. Denn jedes Lied, jeder Tanz, jede Geschichte etc. hat im Kontext ihrer Ursprungsgesellschaft eine spezifische Bedeutung, ist an einen bestimmten ökonomischen oder lebenszyklischen, manchmal heiligen Kontext gebunden. Deshalb ist es unumgänglich, vor der Publizierung frühzeitig vor allem die Elders einer indigenen Gemeinschaft einzubeziehen. Das sind Menschen, die das Wissen und die Autorität besitzen, die Authentizität einer Geschichte zu prüfen und mitzuentscheiden, ob und wie sie publiziert werden darf.
Unumgänglich ist es auch, die Gemeinschaft und die Mitglieder, die eine Geschichte o.ä. zur Verfügung stellen und daran mitarbeiten, an dem ökonomischen Gewinn zu beteiligen. Strenggenommen wird hier ja ein kulturelles Gut, das Teil der Lebenswelt und Identität eines indigenen Volkes ist, zu einer Ware auf dem kapitalistischen Kulturmarkt. Was durchaus im Interesse der indigenen Gemeinschaft sein kann, aber sie muss darüber die Kontrolle behalten.
Anhand einiger positiver Fallbeispiele beschreibt Younging dann einen Arbeitsprozess, der über das gegenseitige Kennenlernen einen Weg aufzeigt, aus der gängigen kolonialen, ausbeuterischen Beziehungsstruktur herauszufinden und Vertrauen und Respekt aufzubauen. Das braucht Zeit. Eigentlich wäre es wünschenswert, jede kulturelle Produktion würde so gründlich und rücksichtsvoll arbeiten.
Gregor Younging schreibt im Ton niemals autoritär, moralisierend oder belehrend, obwohl im Hintergrund immer die koloniale Geschichte Kanadas präsent ist, d.h. der Raub von Land, Sprache und Kultur durch die Siedlergesellschaft. Doch selbst das brutale System der Residential Schools, welches die Kinder indigener Gemeinschaften in Internate zwang, die sie assimilieren sollten und ihnen ihre Sprache, Kleidung und Kultur verbot, hat es nicht geschafft, die indigene Identität auszulöschen. Gregory Younging betont, dass sie sich in einem Prozess der kulturellen Rückgewinnung befindet, insbesondere durch die Mitarbeit der indigenen Jugend.
Die detailreiche Erklärung und Beschreibung der 22 Grundsätze ist für den praktischen Verlagsalltag gewiss hilfreich, vielleicht nicht unbedingt für eine breite Leserschaft. Doch die Dringlichkeit, einen solchen Leitfaden anzuwenden, dazu auch die juristischen Regelsysteme zu überprüfen, um die Enteignung indigener Kultur und Wissenssysteme zu stoppen, machen einige Fallbeispiele im Anhang deutlich. Sie illustrieren, dass Copyright, Markenschutz und das Patentrecht häufig nicht ausreichen, um die indigenen Gemeinschaften an den Gewinnen zu beteiligen, die Kosmetikfirmen, Musikverlage oder die Lebensmittelindustrie erzielen, wenn sie indigene Lieder, Symbole oder Techniken nutzen. Younging fordert daher in Übereinstimmung mit einigen zitierten internationalen Studien, dass neue rechtliche Schutzsysteme wirksam werden müssen, die sich auf das indigene Gewohnheitsrecht stützen.
Als Gregory Young 2018 diesen Leitfaden veröffentlichte, bat er die Leserschaft um Verbesserungsvorschläge, um ihn in der Folge zu überarbeiten. Doch er starb schon ein Jahr später im Alter von 58 Jahren. So wirkt dieses Buch wie ein Vermächtnis. Man spürt, dass hier ein immenses Wissen und ein großer Erfahrungsschatz eingeflossen ist. Wie gesagt: das Buch ist eine Geste der Versöhnung, aber zugleich eine kraftvolle Geste der Selbstbehauptung.
Gregory Younging: „Elemente indigenen Stils. Wie schreibt man über Indigene und ihre Kultur?“
Übersetzung: Michael Raab
Merlin Verlag Gifkendorf 2024
ISBN 978-3-87536-348-7
Weitere Informationen (Verlag)
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