„Green Border“ bebt vor Zorn. Die 75jährige polnische Regisseurin Agnieszka Holland inszeniert das Flüchtlingsdrama in den Wäldern der Grenzregion Belarus / Polen als kämpferisches Schwarz-Weiß-Epos von unglaublich ästhetischer Wucht
Ein fiktionales Geflecht aus Leid und Qual, das auf wahren Schicksalen beruht: Der Film buhlt nicht um Verständnis oder Mitleid, sondern konfrontiert uns schonungslos mit der Realität vor Ort. Bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig wurde „Zielona granica“, so der Originaltitel, mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.
Angelockt von den falschen Versprechungen des belarussischen Diktators Lukaschenko haben Amina (Dalia Noaus) und Bashir (Jalal Altawill) wie viele andere Flüchtlinge 2021 einen Flug nach Minsk gebucht, um von dort über die sogenannte grüne Grenze nach Polen zu gelangen. Europa, das Sehnsuchtsziel vieler. Ein Geschenk Gottes nennt es Amina, den gefährlichen unsicheren Seeweg hätten sie nie gewagt. Nun will die Familie das durch den Bürgerkrieg zerstörte Syrien, den Terror der IS und Assad-Truppen hinter sich lassen und zu ihren Verwandten nach Schweden. Mit dabei der Großvater (Mohamed Al Rashi) und ihre drei Kinder, das Jüngste noch ein Säugling. Leila (Behi Djanati Atai), eine 50jährige Englischlehrerin aus Afghanistan schließt sich ihnen an, im Flugzeug ist man ins Gespräch gekommen. Auf Außenstehende wirken die Reisenden wie eine Gruppe Urlauber, gespannt und voller Vorfreude, nichts erinnert in diesem Moment an die Schrecken der zurückliegenden Jahre in ihrer Heimat. Noch am selben Tag erreichen sie mit einem von Schweden aus organisiertem Kleinbus das Grenzgebiet.
Was wir jetzt sehen, oder besser „mit"-erleben, ist so demütigend, so brutal, so intensiv, es bringt uns an die eigenen emotionalen Grenzen. Wir wissen um die Konflikte, die Medien haben davon berichtet, nur verdrängen wir sie wie viele andere beunruhigende Nachrichten der letzten Jahre. Das Kino beliefert seine Zuschauer durch die Dekaden hindurch mit den verschiedensten Formen von Gewalt, ob als Abenteuer-Spektakel, Horror-Thriller, historische Aufarbeitung, Familien-Apokalypse, Gangster-Komödie oder Kriegs-Epos. Flüchtlingsdramen entwickelten sich immer mehr zu einem eigenständigen Genre, geprägt von der Ohnmacht seiner Protagonisten.
Am Anfang des Films gleitet die Kamera über die scheinbar nie enden wollenden Wälder hinweg, ein trügerisches Bild majestätischer Schönheit, das dunkle satte Grün löst sich auf, weicht einer Welt in Schwarz-Weiß. Der Bialowieza-Nationalpark, berühmt als Refugium bedrohter Flora und Fauna, ist hier ein gespenstisches sumpfiges Niemandsland, kein Zufluchtsort bedrohter Menschen, sondern ein politisches Schlachtfeld. Angelangt in der Grenzregion verlangt der Fahrer ein Vielfaches des bereits erhaltenen Fahrpreises, Leila springt ein, zahlt. Die Grüne Grenze ist ein scharf bewachter Stacheldrahtzaun. Grenzwächter jagen die Migranten hinüber nach Polen. Noch ahnen die Flüchtlinge nicht, was sie erwartet auf der anderen Seite, hilflos der Kälte und dem Regen ausgeliefert, harren sie die Nacht aus. Leila macht sich am Morgen auf, etwas zu organisieren, für eine Flasche Mineralwasser verlangt ein Bauer 50 Euro. Dann erscheinen polnischen Grenzsoldaten, treiben die verängstigen Ankömmlinge mit Stockschlägen und unter hämischen Verwünschungen zurück durch den Stacheldraht nach Belarus. Pushback lautet der Fachbegriff, ein teuflisches Spiel, keine Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder diesen gerichtlich überprüfen zu lassen. Immer wieder treiben die Beamten die Migranten mit skrupelloser Brutalität und unter Demütigungen über die Grenze nach Belarus, hetzen einen Schäferhund auf den gebrechlichen Großvater, die Bisswunde infiziert sich. Mit hämischem Grinsen gießen die Grenzbeamten volle Wasserflaschen vor den Verdurstenden aus. Regen und Kälte lassen die wunden Füsse verfaulen. Es ist wie ein Tod auf Raten.
Verzweiflung, Schmerzen, Angst, Durst, Kälte, Ausweglosigkeit, – Ohnmacht in seiner extremen Form. Die Regierung in Minsk benutzt die Migranten gezielt als Waffe gegenüber der EU, Rache für die Sanktionen und ein Schachzug der Destabilisierung, um den Rassenhass im Nachbarland noch weiter anzuheizen. Agnieszka Holland („Hitlerjunge Salomon“, 1990) sieht in dieser Situation „etwas ergreifend Exemplarisches und, vielleicht, ein Vorspiel zu einem Drama, das zum moralischen (und politischen) Zusammenbruch unserer Welt führen könnte.“ Die Regie-Veteranin und ihr Team holen die Flüchtlinge aus dem Schatten ihrer Anonymität und Hoffnungslosigkeit, geben ihnen ein Gesicht und einen Namen. Jede Szene ist meisterhaft inszeniert, von erschreckender Eindringlichkeit und Authentizität, und doch gibt Holland zu verstehen, die Wirklichkeit war noch um vieles grausamer. Jeder der Betroffenen reagiert anders, da sind die Ängstlichen und die trotzdem Mutigen und Entschlossenen wie Leila, die versucht Aminas Kinder abzulenken, ihnen spielerisch ein wenig Englisch beizubringen für jene unerreichbare Zukunft in der EU. Die Kids kichern. „Was für Tiere gibt es im Wald?" „Giraffen.“
Aber der Druck wächst, die Demütigungen werden infamer, sadistischer, die Gewalt der polnischen Grenzer immer ruchloser. Sie haben verinnerlicht, was ihr Kommandant und die Politiker ihnen an Ideologie suggerierten, dies sind keine Menschen, es sind „lebende Projektile“ von Lukaschenko. Entmenschlichung als angeblich überlebensnotwendige Selbstverteidigung der Heimat. Unsere Gedanken überstürzen sich. Die Grenzschutzbeamten schrecken nicht davor zurück, eine hochschwangere Afrikanerin über den Stacheldrahtzaun zu werfen wie ein Stück Abfall. Die Migranten versuchen den Grenzern zu entkommen. Es droht Abschiebung und Haft. Leila gelingt zu fliehen zusammen mit dem10jährigem Sohn der syrischen Familie, doch der Junge versinkt vor ihren Augen im Moor, eine Aktivistin kann Leila retten, doch ihr Fluchtversuch endet in Belarus, ohne Geld, Handy, Brille ist sie völlig hilflos.
Obwohl „Green Border" in der Realität verortet ist, fühlt sich der Film wie ein post-apokalyptisches Drama an. Der Wald bestimmt die Atmosphäre genau wie in Hollands kauzig anarchistischem Mystery-Thriller „Die Spur“ (2018). Jene feministisch-subversive Killer-Chronik und bildgewaltige Parabel signalisierte noch Hoffnung auf Widerstand. Früh morgens, wenn die pensionierte Brückenbau-Ingenieurin und Aushilfslehrerin Janina Duszejko (Agnieszka Mandat-Grabka) mit ihren beiden Hunden das Haus verlässt, ist die Natur jedes Mal gleich in welcher Jahreszeit wie eine Offenbarung für sie, ihr Blick bekommt plötzlich etwas Strahlendes, es scheint, als ob sie die Welt umarmen wolle, doch der Moment des Glücks ist trügerisch. Die Landschaft von überwältigender, majestätischer Schönheit kann nicht hinwegtäuschen über Korruption, Grausamkeit und die Ignoranz ihrer Bewohner. Hier haben die Jäger das Sagen. Selbst der Priester verkündet von der Kanzel, dass die Pirsch Gottes Wille ist. Duszejko glaubt an die Bestimmung der Sterne und nicht den Allmächtigen im Himmel. Sie taucht im Polizeirevier auf und will einen Mord anzeigen. Ein junges Wildschwein sei umgebracht worden. Es mag absurd klingen, doch der Zuschauer, auch wenn er kein radikaler Vegetarier wie die Protagonistin ist, hat längst begriffen, dass in diesem patriarchalischen Mikrokosmos jeder Schuss auf ein Tier Ausdruck puren Sadismus ist, Wilderei ein Kavaliersdelikt. Der Schwächere wird verachtet, unterjocht, Frauen inbegriffen, sie sind nicht mehr als eine leichte Beute wie die Füchse, denen das Fell bei lebendigem Leib abgezogen wird, die Kadaver landen im Dreck.
Eine abgründige raue Poesie und Verzweiflung durchziehen anfangs den sonderbaren Thriller. Die höchst eigenwillige bizarre Philosophie der militanten Tierschützerin erinnert immer wieder an den Dichter William Blake, der ihr Denken prägt. Dann verschwinden die beiden Hunde der Protagonistin spurlos, es waren ihre einzigen Kameraden und Weggefährten, es zerreißt ihr (und uns) das Herz. Die Schuldigen glaubt Duszejko zu kennen. Irgendwann verwandelt sich Verzweiflung wieder in Kraft. Duszejko schlüpft auf dem Karnevalsfest der Pilzsammler in einen Wolfspelz. Die Welt wird sie nicht verändern, aber für sich selbst und ihre neuen Freunde findet sie einen Ausweg. Für die Protagonisten von „Green Border“ sehen wir weder Hoffnung noch Ausweg. Obwohl, es gibt sie, die Momente der Hoffnung, der Rettung. Am Ende schleust ein von den Verwandten in Schweden angeheuerter Fluchthelfer die syrische Familie aus dem Grenzgebiet. Der Laster aber wird kontrolliert, ein junger polnischer Grenzer (Tomasz Wlosok) entdeckt die hinter den Kartons versteckten Flüchtlinge, aber Janek lässt sich nichts anmerken, ruft der draußen wartenden Soldatin zu: „Sauber!“. Früher einmal glaubte er an seine patriotische Mission, den Dienst am Vaterland. Agnieszka Holland erzählt „Green Border“ aus drei Perspektiven, schildert, wie die jungen Grenzschützer indoktriniert werden, sie sind der Situation oft selbst hilflos ausgeliefert, das Trauma prägt sie, zerstört ihr Leben.
Ziviler Widerstand ist schwer in einem Land wie Polen, und doch ohne die AktivistInnen wären die Flüchtlinge verloren, sie sorgen für medizinische Versorgung, bringen Wasser, trockene Kleidung, sprechen Mut zu, beraten sie juristisch, aber dürfen niemand aus dem Sperrgebiet schleusen. Nicht jede hält sich an die Vorgaben, ist bereit zum Widerstand, riskiert eine hohe Haftstrafe als Fluchthelfer. Doch die Vorschriften nicht befolgen, bedeutet auch die Hilfsorganisation selbst zu gefährden.
Epilog: 26. Februar 2022, zwei Tage nach dem Überfall Wladimir Putins auf die Ukraine. Tausende Geflüchtete, vor allem Frauen und Kinder, überqueren die Grenze zu Polen. Die Hilfsbereitschaft beeindruckend im Film wie in der Realität. Janek und die anderen Grenzschützer haben sich hierher versetzen lassen, verblüffend zu beobachten, mit welchem Engagement sie den ukrainischen Flüchtlingen helfen.
Im September 2023 während der Filmfestspiele am Lido konnte noch keiner wissen, wie die Parlamentswahlen wenige Wochen später ausgehen würden. Justizminister Zbigniew Ziobro der nationalpopulistischen Regierung unter Führung der PIS, instrumentalisierten bewusst die Erinnerung an die Nazizeit, setzte „Green Border" gleich mit den nationalsozialistischen Propagandafilmen des Dritten Reiches. Staatspräsident Andrej Duda rief zum Boykott des Films auf. Agnieszka Hollands wurde mit Hass überschüttet. Die Regisseurin ist nach eigenen Worten gewohnt als Staatsfeindin bezeichnet zu werden: „Das Kino ist nicht völlig machtlos, es kann die Wahrheit über die Welt und das menschliche Schicksal vielstimmig und aus verschiedenen Blickwinkeln zeigen. Es kann schwierige und menschliche Entscheidungen, Hilflosigkeit und die Unsichtbarkeit mancher Wesen beleuchten und sie aus dem Schatten holen. Es kann Fragen aufwerfen, auf die wir die Antwort nicht kennen, aber in dem wir sie stellen, können wir der Welt ein wenig mehr Sinn geben“. Knapp 800 000 Zuschauer hatte der Film in Polen, in Deutschland verschwand Green Border nach einer Woche aus den Arthouse-Charts.
Datenschutzhinweis
Diese Webseite verwendet YouTube Videos. Um hier das Video zu sehen, stimmen Sie bitte zu, dass diese vom YouTube-Server geladen wird. Ggf. werden hierbei auch personenbezogene Daten an YouTube übermittelt. Weitere Informationen finden sie HIERGreen Border
Originaltitel: Zielona granica
Regie: Agnieszka Holland
Drehbuch: Agnieszka Holland, Gabriela Lazarkiewicz, Maciej Pisuk
Darsteller: Mit Halal Altawil, Dalla Naous, Behi Djanati Atai, Tomasz Wlosok Produktionsland: Polen, Tschechien, Frankreich, Belgien,
Länge:147 Minuten
Kinostart: 1. Februar 1924
Verleih: Piffl Medien Filmverleih
Fotos, Pressematerial & Trailer: Piffl Medien GmbH
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment