„Roter Himmel“ erzählt von einem Sommer an der Ostsee, heiß und trocken, seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Alles dreht sich um die Hoffnungen von vier jungen Menschen, um Liebe, Sehnsucht, aber auch die Unfähigkeit zum Glücklichsein und um den Tod.
„Es sind schwebende, wie aus der Welt gefallen Tage“, sagt Regisseur Christian Petzold. Sie erinnern uns an die Komödien von Éric Rohmer wie „Pauline à la plage“ (1984). Wir haben sie unendlich vermisst, ohne uns dessen bewusst zu sein, empfinden nun eine Spur von Wehmut, denn jene Ahnung von Gefahr überschattet die einstige Unbeschwertheit, ein Funke genügt, und die Wälder stehen in Flammen.
Petzolds Idee für den Film entstand während des ersten Corona Lockdowns: „Die Schulen wurden geschlossen, die Kindergärten, die Spielplätze, man durfte seine Freunde nicht treffen. Den jungen Leuten wurde ihr Lebensraum genommen“, so der Regisseur. „Ich habe mich gefragt, warum diese Einschränkungen zuerst die Kinder, die jungen Menschen treffen. Warum konzentriert sich das so auf den Spaß, die Jugend, die Leidenschaften? In dieser Zeit habe ich mit Covid im Bett gelegen und viele dieser französischen und amerikanischen Sommerfilme gesehen.“ Ferien als Ausnahmezustand der Nichtkontrolle, der letzte Sommer, bevor man ins Erwachsenenalter eintritt, der letzte Sommer der Unbeschwertheit. „Und gleichzeitig ist er vielleicht so etwas wie der letzte Sommer für alle, weil die Wälder brennen.“
„Roter Himmel" spielt in Ahrenshoop an der Ostsee, Christian Petzold war nie dort gewesen, er kannte die Küste von Mecklenburg-Vorpommern nur aus dem Roman-Werk „Jahrestage“ von Uwe Johnson (1934-1984). Im Sommer 1942 wartet dort „ein neunjähriges Kind in einem zu oft gewaschenen langen Kleid“ am Bahnhof in Ribnitz, an der Südspitze des Boddens und der Halbinsel Fischland vergeblich auf seinen Onkel, der hatte in Stralsund den Anschlusszug verpasst. Für die Protagonistin Gesine Cressphal und uns als Leser wurden es unvergessliche Tage, ein magischer Ort, wo Kinder wirklich Kinder sein dürfen, nie ohne eine Liebkosung zu Bett gingen, aber sich auch verkriechen konnten, wenn sie allein sein wollten. Eine Idylle mitten im Krieg und dem Chaos der Gefühle. Imaginäre literarische Landschaften sind uns oft vertrauter als die realen eigenen. Gedreht wurde im ruhigeren Rerik, eine Autostunde entfernt.
Auch die Anreise von Felix (Langston Uibel) und Leon (grandios Thomas Schubert) bleibt nicht ohne Tücken: „Irgendwas stimmt nicht,“ lautet der erste Satz des Films, gibt die Richtung an für eine ungewisse Zukunft, in diesem Fall ist es nur der Motor des Wagens, der sich auf ihrer gemeinsamen Fahrt mitten in der Einsamkeit des Waldes kurz vor dem Ziel mit einem lauten Knall verabschiedet. Der tatkräftige schlaksige Felix macht sich zu Fuß auf, lässt den nörgelnden Freund vorübergehend allein zurück bei Gepäck und den geheimvollen Geräuschen von Tier- und Vogelwelt. Welch Albtraum für einen ängstlichen mürrischen Jung-Schriftsteller in der Schaffenskrise, der sich erfolglos mit dem Manuskript seines zweiten Romans abquält. Der Verleger, wenig begeistert über das bisherige Ergebnis, will vorbeischauen, bis dahin gilt es, sich aus dem künstlerischen Tief herauszuschreiben. Von der Abgeschiedenheit des Sommerdomizils erhofft sich Leon die ultimative Konzentration, um so größer sein Entsetzen, als er feststellen muss, dass schon jemand in dem Sommerhaus auf der Lichtung Quartier bezogen hat. Die Waschmaschine rattert vor sich hin, auf dem Küchentisch Reste einer üppigen Abendmahlzeit, Felix probiert die Lasagne, sie schmecke hervorragend, verkündet er. Von seiner Mutter erfährt er am Telefon, dass es sich bei dem Gast um Nadja, die Nichte einer Kollegin handelt. Es wäre doch genug Platz für alle. Unmöglich, erklärt Leon, er brauche seine Ruhe, einen eigenen Platz zum Arbeiten. Arbeiten, das Wort wird er von nun an wie ein Mantra ständig wiederholen, ohne dass es Wirkung zeigt.
Die mysteriöse Nichte bleibt erst einmal unsichtbar, dann aber nachts schreckt Leon aus dem Schlaf hoch, Geräusche von Lust und Leidenschaft dringen durch die angrenzenden Zimmerwand und erbosen ihn zutiefst, er flieht in den Garten. Morgens ist jene Nadja schon wieder verschwunden, Leon übermüdet und nicht in der Verfassung, nur eine Zeile zu Papier zu bringen. Bisher hatten weibliche Sehnsuchtsfiguren das Werk von Petzold dominiert wie in „Undine“ (2020) auch mit Paula Beer in der Hauptrolle, hinreißend als Heldin zwischen Realität und Märchenwelten, die sich dem Nixen-Mythos verweigert, sie kämpft um ihre Freiheit gegen das vorbestimmt Schicksal, will sich nicht rächen, nicht töten, nicht zurück in die See. Nur was tun, wenn man selber zur Verräterin wird. Nun steht im Fokus ein schwerfälliger recht unsympathischer junger Mann, verletzlich, ungelenk. Als er endlich Nadja (umwerfend Paula Beer) begegnet, weiß er nicht wie reagieren, im Zweifel entscheidet er sich immer für Überheblichkeit, schämt sich, aber es ist zu spät, am liebsten würde er nachträglich im Boden versinken, um sich nichtsdestotrotz bei nächster Gelegenheit wieder zu blamieren, stolpert so von Fauxpas zu Fauxpas. Auf die Frage, ob er mitkomme zum Strand, antwortet er mit einem großspurigen „Die Arbeit lässt es nicht zu“. Nadjas Lachen, ihrer Leichtigkeit, hat er nichts entgegenzusetzen, es entwaffnet ihn. Jede Form von Begehren ist tabu, Gefühle darf er nicht riskieren, beschränkt sich auf bloße Neugier, durchwühlt heimlich Nadjas Sachen, hört ihre Musik, liest ihr Tagebuch, als könnte er so ihren Geheimnissen auf die Spur kommen. Felix tut sich weniger schwer mit den Menschen, der Liebe und der Kunst, beim Schwimmen ist ihm die Idee für seine Bewerbungsmappe an der Kunsthochschule gekommen, er wird Urlauber am Strand fotografieren, wie sie das Meer betrachten.
Nadja ist keine Frau, die umworben werden will, nicht Part einer Lovestory, ihr nächtlicher Gespiele, der Rettungsschwimmer vom Strand, Devid (Enno Trebs) hat beim der Abendmahlzeit im Garten mit einem überfallartigen Kuss Felix erobert, Nadja quittiert es mit einem wundervollen fast konspirativen Lachen, ihre Unbeschwertheit ist hinreißend, und doch ist sie in dieser Runde diejenige, die erkennt, durchschaut, Mitleid empfindet und sich sorgt um alle, für alle, aber das begreifen wir erst am Schluss des Films. Noch sind wir fixiert auf den schrecklich eifersüchtigen Leon, er scheint besessen von der Furcht, Leben und Talent zu vergeuden. Wenn der Freund bei der Ankunft das Geschirr jenes unbekannten Gastes abwäscht, versteht er es nicht, er kann nur fordern, etwas beisteuern im Haushalt, unvorstellbar. In seiner Selbstüberschätzung hält er seine Präsenz vielleicht allein schon für eine Gnade. Keiner der anderen mokiert sich, alle sind weiterhin freundlich.
Und doch fühlt er sich zu Recht verlassen, einsam, inszeniert sich in der etwas höher gelegenen Gartenlaube wie auf einer Bühne als Schriftsteller, muss sein Faulenzen geschickt kaschieren. Wenn er mal mitkommt an den Strand, dann entledigt er sich nicht seiner Kleidung, bloß keine Blöße zeigen. „Roter Himmel“ ist eine vielschichtige Charakterstudie von ungeheurer Leichtigkeit und Eleganz fern jeder effekhascherischen Häme wie eben damals die Komödien von Rohmer. Es ist auch ein Spiel mit Rollenmustern, an das sich allein Leon klammert: So sehr ihn das Objekt seiner Neugier fasziniert, sie ist ja nur Eisverkäuferin, wenn er später erfahren muss, dass sie ihm von Intellekt und Bildung weit überlegen ist, fühlt er sich mehr denn je als Verlierer. Was um ihn herum geschieht, es hat bis jetzt nie Eingang in seinen Roman gefunden. Schreiben ist für ihn nur eine Art ein Schutzpanzer, er simuliert den Romancier, weil er unfähig ist, mit anderen Menschen zu kommunizieren, ohne gleich mit ihnen in einen inneren heimlichen Konkurrenzstreit zu treten wie dem Rettungsschwimmer, der sich abends bei Tisch als amüsanter Geschichtenerzähler entpuppt.
„Leon weiß nicht, wer er ist“ sagt Christian Petzold über ihn, „Er ist im Wald verloren, und er ist in sich selbst verloren. Und dieses Haus inmitten der Lichtung ist ein geschützter Ort, es ist umgeben von einer Mauer aus Bäumen. Wenn Leon zum ersten Mal die junge Frau sieht, den Eindringling, ist die ganz für sich, sie pfeift ein Lied und hängt Wäsche auf. Für sie ist die Lichtung ein Ort der Freiheit, der Unbeschwertheit. Ihn sieht man nie irgendetwas machen. Er hängt keine Wäsche auf, er kocht nicht, er geht nicht im Meer schwimmen. Er will der Welt abhandenkommen. Für ihn ist die Lichtung eine Festung.“ Spaß haben die anderen, das Haus, die Wiese, die Scheune, das Vordach, sind ihre Bühne, sie haben am Leben teil, können die Welt anfassen und verändern. Der Regisseur über das Phänomen des zweiten Romans: „Der zweite Roman ist etwas, wo sich vieles entscheidet: Hast Du eine Identität? Hast Du eine Leidenschaft? Bist du Schriftsteller oder war das erste Buch eine Eintagsfliege? Das ist beim Film wahrscheinlich nicht anders. Mein zweiter Film war im Grunde Leons Roman ähnlich. Meine erster Film „Pilotinnen“ (1995) war erfolgreich, und ich hatte sofort die Möglichkeit, den nächsten Film zu machen. Und mir ging es ähnlich wie dem Leon ich hatte oft das Gefühl, dass ich das spiele, das ich Regisseur spiele. Die Geschichte war voller Zitate aus dem Film Noir, das war der Film eines jungen Mannes, der sagen wollte: „Hey, ich bin ein Cineast, ich habe echt Ahnung." Das hat die Geschichte erdrückt. Der Film hieß „Cuba Libre“, und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der Titel von Leons gescheitertem Roman, „Club Sandwich“ ziemlich ähnlich klingt.“
Die Bedrohung der Umwelt ist für unsere Protagonisten längst Teil ihres Alltags, verinnerlicht wie eine sich nähernde unvermeidliche Apokalypse. Die brennenden Wälder der Ostseeküste nehmen keine Rücksicht auf missratene Manuskripte, auf die Sehnsüchte und Ängste der jungen Leute und umgekehrt, die vier lassen nicht ab von der Liebe, ihrer Unbeschwertheit, der Verweigerung des Glücks, noch ist Trauer das Außenseiter-Privileg von Leon und wir eingelullt von durchfeierten Nächten im Garten und dem verträumt melancholischen Popsong der Wallners „In my mind, in my mind. „Love’s gonna make us, gonna make us blind.“ Vom Dach aus beobachten die jungen Leute den roten Himmel, der Aschenregen ist Vorbote des Todes. Wenn der Verleger (Matthias Brandt) eintrifft, nimmt der Film eine entscheidende und unerwartete Wendung. „Roter Himmel“ erhielt auf der diesjährigen Berlinale den silbernen Bären, verdient hätte er die höchste Auszeichnung. Petzold schenkte uns einen Sommer in der Tradition Rohmers inklusive Education Sentimentale mit bestechend komponierten Bildausschnitten, einer diskret-ritterlichen Kamera und einer Schönheit, minimalistisch pur, die auf meisterhafte Art Zufälligkeit suggeriert.
Godard hat einmal gesagt, dass das Kino wie die Fotographie dem Tod bei der Arbeit zuschaut. In dem Moment, in dem man fotografiert wird, sei dieser Moment schon Vergangenheit. Christian Petzold dagegen ist der Überzeugung, das Kino trotzt dem Tod die Gegenwart ab: „Die Wälder brennen, zwei junge Menschen, die in den Flammen umkommen…und trotzdem gibt es in dem Gedicht von Heine („Der Asra“, 1846 Anm. der Redaktion), in dem die Liebe und der Tod so ineinander verschränkt sind, eine wahnsinnige Lebendigkeit. Darum geht es im Kino, finde ich: dem Tod das abzutrotzen."
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Regie: Christian Petzold
Drehbuch: Christian Petzold
Darsteller: Thomas Schubert, Paula Beer, Langston Uibel, Enno Trebs, Matthias Brandt
Produktionsland: Deutschland, 2022
Länge: 103 Minuten
Kinostart: 20. April 2023
Verleih: Piffl Medien
Fotos, Pressematerial und Trailer: Copyright Piffl Medien
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