Regisseurin Aelrun Goette erzählt von den kreativen Nischen eines brüchigen totalitären Systems, dem schillernden Ostberliner Underground und ihrer eigenen Jugend kurz vor der Wende. Models hießen damals Mannequins, und auch ohne Laufsteg wagte man den aufrechten Gang.
„In einem Land, das es nicht mehr gibt“ eröffnet als subtile wie packende Coming-of-Age Story neue ungewohnte Perspektiven, ist von verblüffender Aktualität. Es geht um Freiheit und Verrat, die große Liebe, den Preis der Solidarität, um selbstbewusste Frauen und kämpferische Paradiesvögel.
Ostberlin 1989. Die 18jährige Suzie (Marlene Burow) wird bei einer Polizeikontrolle mit einem Exemplar des verbotenen George-Orwell Romans „1984“ erwischt. Vorbei der Traum vom Literaturstudium, kurz vor dem Abitur fliegt sie von der Schule und muss sich von nun an als Zerspannungsfacharbeiterin im Kabelwerk Oberspree bewähren. Der Vater ist entsetzt, versucht über Kontakte, eine mildere Strafe zu erreichen. Doch sein Freund erklärt ihm, wie glimpflich die Tochter davongekommen sei, woanders gab es zwei Jahre Gefängnis für den Besitz des verpönten Machwerks, das sozialistische Diktaturen anprangert.
Suzies Mutter ist vor einem Jahr gestorben. Die kleine Kerstin (Zoé Höche) mit ihren unförmigen Brillengläsern verblasst neben der Schönheit ihrer älteren Schwester. Verzweifelt sucht das altkluge Nesthäkchen nach Wärme, Geborgenheit, wohlvertrauten Erinnerungen, selbst im Sommer trägt sie drinnen die Uschanka der Mutter, jene typisch russische Pelzmütze mit Ohrenklappen, und klammert sich an Suzie als Bezugsperson. Die aber will raus aus der erdrückenden heimischen Enge, auch wenn das idyllische, verschachtelte etwas herunter gekommene Häuschen mit Garten und Hof, wo der Vater Autos repariert, fast romantisch anmutet. Die Kleine bettelt um Aufmerksamkeit, wird später der Älteren ihre Erfolge missgönnen, würde sie am liebsten daheim einsperren. Suzie hat die Maxime der Mutter, verinnerlicht: „Nur wenn wir träumen, sind wir frei“, die18jährige weiß, wie es anfühlt, wenn ein Traum zerplatzt.
Bei den Kolleginnen in der Fabrik ist Suzie alles andere als willkommen. Der Film zeigt, was meist als selbstverständlich hingenommen wird, wie viel Geschick und Know-How Maschinen den Menschen abverlangen. Die Arbeit entpuppt sich als schmerzhaft in jeder Hinsicht und die ungelernte 18jährige ist absolut überfordert. Die Brigade fürchtet um ihre Privilegien, der Neuzugang bedeutet nur eine Belastung keine Unterstützung und Suzie scheint noch weit entfernt von der erstrebten Reife „eines würdigen Mitglieds der sozialistischen Gesellschaft". Doch dann geschieht, was sie selbst in ihren kühnsten Fantasien sich nicht hätte vorstellen können, ein Schnappschuss früh um halb fünf in der Straßenbahn öffnet ihr die Tür in die glamouröse Welt der Mode. Und während Brigadeleiterin Gisela (Jördis Triebel) im Kabelwerk schützend die Hand über „die Kleene“ hält, landet Suzie auf dem Cover des Modejournals Sybille, der „Vogue des Ostens“. Dort regiert die Chefredakteurin Elsa Wilbrodt (exzellent Claudia Michelsen) mit strenger Eleganz, muss abwägen zwischen ideologischen Anspruch und künstlerischem Eigensinn, sie gibt der unbekannten Schönen die Chance, dem sozialistischen Fabrikalltag doch noch zu entkommen. Manchmal spricht Elsa Französisch, findet die Brigitte „einfallslos und bieder“, verachtet jede Form von Mittelmaß. Derweil taucht Suzie ab in die an Kreativität überbordende Subkultur Ostberlins. Spannend, der ästhetische und politische Gegensatz zwischen der linientreuen Mode von VHB-Exquisit und den wilden experimentellen Shows der Underground-Szene.
Regisseurin und Drehbuchautorin Aelrum Goette („Die Kinder sind tot“, 2003 und „Keine Angst“, 2009) kennt beide Welten. Sie wurde in den 80er Jahren auf der Straße in Ostberlin als Mannequin entdeckt, modelte für den VHB-Exquisit, war auf dem Cover der Sybille und stand für die großen FotografInnen wie Ute Mahler oder Roger Melis vor der Kamera. Mit 16 wurde sie wegen ihres Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“, den auch Suzie an der Jacke trägt, verhaftet. Ihr Plan war gewesen, Psychologie zu studieren. „Ich konnte kein Abitur machen und musste einen Beruf erlernen, den ich nicht wollte. Ich wurde überwacht und habe später aus meiner Stasi-Akte erfahren, dass auch die Abendschule für mich tabu war. Gleichzeitig habe ich damals eine Freiheit empfunden, die sich nach dem Untergang der DDR nicht wieder eingestellt hat. Wir haben Partys gefeiert und sind über die Dächer vor der Polizei geflüchtet, wir haben an der Ostsee selbstgenähte T-Shirts verkauft und Plastiktüten voller Geld verdient, das wir im Hotel Metropol auf den Kopf gehauen haben. Die Ostmark hat keine Rolle gespielt und bei irgendwem war immer was los. Ich habe damals das Maß an Widerstand erlernt, das ich nach dem Fall der Mauer zum Überleben brauchte. Als ich Mutter wurde, habe ich gelernt, dass Freiheit auch Bezogenheit bedeutet und ein Element davon im Zurücktreten für das Wohl von anderen besteht. Oder wie es die wunderbare Jördis Triebel in ihrer Rolle als Gisela ausdrückt: „Ich kann dit jut leiden, wenn eener an wat Größeret glaubt, als er selber is."
Goette registriert wachsendes Interesse, die Schablonen, die sich über den Osten gelegt haben, zu hinterfragen. Für sie ist entscheidend, „die untergegangene DDR auch mal mit anderen Augen zu sehen. „Es gab in der Diktatur nicht nur Täter, Opfer, Zeitzeugen sondern auch Menschen, die stark, kraftvoll und wild waren, die von Freiheit geträumt und sie sich genommen haben." Im Film überschneiden sich die verschiedenen Begriffe von Freiheit und der davon abhängigen Selbstverwirklichung. Da ist der extravagante Rudi (berührend Sabin Tambrea) der sich phantastisch auf Stöckelschuhen bewegt und Suzie nicht nur den aufrechten Gang beibringt sondern auch den Mut zur Schönheit. Gemeinsam mit seinen Freunden feiert er das Leben und kreiert seine eigene Mode und wenn es aus Duschvorhängen und Kerzenwachs ist. Grade die durch Mangel bedingte Reduzierung wird hier immer wieder zum Schlüsselerlebnis der Kreativität. Rudis Freiheitsanspruch ist kompromisslos: „Entweder Du bist frei, dann bist Du es überall.“ Sich in den Westen absetzen, war für ihn nie eine Option, nichts kann seinen Mut brechen weder Haft noch Gewalt.
Coyote (David Schütter) ist das hinreißende Porträt von Suzie gelungen morgens um halb fünf, leicht diffus durch die Scheibe der Straßenbahn, jenes trotzig melancholische Gesicht, ihre fast ergreifende Schönheit, noch fehlt es an Selbstbewusstsein. Sogar in der goldenen Abendrobe steht sie anfangs etwas eingeschüchtert in der Fabrikhalle des Kabelwerks. Die Modefotografie der DDR verband thematisch Arbeitswelt und Haute-Couture, prägt den Stil von Göttes „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ (Kamera: Benedict Neuenfels). Zu der Clique um den Designer und Visagisten Rudi gehört auch Uta (Sara Tonic).
Das Mannequin misstraut der Neuen, sieht in Suzie eine Konkurrenz auf dem Laufsteg und bei den Männern. Und tatsächlich verliebt Suzie sich in Coyote. Er ist ein begnadeter Fotograf, seine Bilder dürfen eigentlich nicht gedruckt werden, gilt der Rebell doch als politisch unzuverlässig. Mit ihm erlebt die Protagonistin jene Freiheit von der sie träumte, fern von Planerfüllung und Regimegehorsam, sich einfach treiben lassen. Coyotes Credo lautet: „Du darfst „die“ nie entscheiden lassen, wer Du bist“. Doch während Suzie zum ostdeutschen Supermodel aufsteigt, fordert das System seinen Tribut und sie muss sich entscheiden. Was ist es ihr wert, ihren Traum zu leben? Goette dazu: „Ich wollte unbedingt von einer Freiheit erzählen, die nur im Untergrund wachsen kann… Wo hört Selbstverwirklichung auf und fängt Verrat an? Und wohin nur mit dieser ganzen Sehnsucht und der unbändigen Lebenslust? Aus diesen Fragen zieht unser Film seine Kraft. Dabei feiern wir die Frauen als unabhängige und stolze, intrigante oder lebenskluge, verletzliche oder am Leben verzweifelnde und doch wieder auferstehende Heldinnen. Egal ob jung oder älter, im durchschnittlichen Sinne schön oder nicht: Sie sind stark und sie lieben das Leben."
„In einem Land, das es nicht mehr gibt“ war eins der Highlights des Hamburger Filmfestes 2022. Als Zeitreise zwischen zerstörten Hoffnungen und unerwarteten Erfolgen ist das Drama authentisch wie scheinbar unwirklich grade durch die ästhetisch virtuose Inszenierung der Leipziger Modenschau und als Gegenstück die Underground Performance. Die subversive Modegruppe ccd, „chic, charmant und dauerhaft“ am Prenzlauer Berg war wie eine Parallelwelt mit politischen Freiräumen. Ab und zu stolpert der Zuschauer über die eigenen Vorurteile. Die Modefotografen wie Sybille Bergemann, Sven Marquardt, Arno Fischer oder Ute Mahler sind als Künstler in der gesamtdeutschen Kunstszene ein Begriff, nur was sich hinter den Kulissen abspielte oder auf offener Bühne war nie Thema der Vergangenheitsbewältigung geworden.
Aelrun Goette überzeugte einen Teil des Kreativteams während der Vorbereitung, gemeinsam mit ihr in die georgische Stadt Tbilisi zu fliegen, „weil sie den Ruf hat, die Ostberliner Energie der Achtziger und Neunziger auszustrahlen. Wir haben dort auf einer Underground-Party in einer Wohnung getanzt, Klamotten gekauft, Berge von Fotos gemacht und gespürt, wie die kreative Energie dieser Stadt förmlich in uns hineinkriecht. Tbilisi ist eine Lesemetropole, wie die DDR. Überall werden Bücher verkauft, die Wände der Party-Wohnung waren mit Buchseiten tapeziert, wir haben ein Luxushotel angeschaut, das aus einem ehemaligen Verlagshaus entstanden ist, mit Bücherregalen als Raumteiler. Das hat uns inspiriert und zusammengebracht. Es war mir wichtig, für die Kollegen, die den Osten nicht aus eigener Erfahrung kennen, eine Welt zu öffnen. Beim Filmemachen geht es ja genau darum, immer wieder ein Momentum zu erschaffen, in dem man gemeinsam loslassen kann."
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In einem Land, das es nicht mehr gibt
Regie: Aelrun Goette
Drehbuch: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, David Schütter, Sabin Tambrea, Claudia Michels, Jördis Triebel, Helene Grass
Produktionsland: Deutschland, 2022
Länge: 100 Minuten
Kinostart: 6. Oktober 2022
Verleih: Tobis Filmverleih
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Tobis Filmverleih
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