Betroffenheit, Momente des Schocks, ein Lächeln, unterdrückte Tränen, ungläubiges Staunen, erlösendes Lachen und wieder Betroffenheit.
Das Filmfest Hamburg war ein cineastisches Wechselbad der Gefühle, dieses Jahr vielleicht noch mehr als früher, eine Pandemie im eigenen Land sensibilisiert die Menschen.
Besonders der neue Realismus aus weiblicher Perspektive fordert die Zuschauer emotional heraus: Laura Samanis poetischer Debütfilm „Piccolo Corpo” spielt um 1900 in Friaul, einer christlich archaischen Welt. Verzweifelt kämpft eine junge Mutter um Selbstbestimmung und die Seele ihres totgeborenen Kindes.
Die erste Szene: Eine hochschwangere Frau (Celeste Cescutti), begleitet von Dorfbewohnerinnen und ihrem Gesang, nähert sich dem Meer, Gesicht und Gestalt verborgen hinter weißem Musselin, der Schleier reicht bis auf den Boden. Ein blutiger Schnitt in die Hand, nun ohne Schleier geht sie weiter hinein ins Meer, noch kennen wir ihren Namen nicht. Ein Ritual, es soll Mutter und Kind schützen vor dem Unheil. Doch Agata verliert in dieser kalten Winternacht ihre kleine Tochter. Schmerzen, Schreie, Blut, die Kamera weicht nicht von der Seite der Protagonistin. Enge niedrige Räume nur von flackerndem Kerzenschein erhellt. Die Wahrheit ist unerträglich für die junge Frau. Totgeboren und ungetauft ist das Kind Gottes Gnade verwehrt, auf ewig verdammt zum Dasein im Limbus, der Vorhölle. Agata fleht den Geistlichen an, ihrer Tochter das Sakrament der Taufe zu erteilen. Er bleibt hart, also kein christliches Begräbnis auf dem Friedhof. Der Vater vergräbt schnell und in aller Stille den kleinen Leichnam.
Hoffnung braucht Aberglauben und Wunder. Jemand erzählt Agata von einer Heiligen Stätte irgendwo im Norden oben in den Bergen, wo Kinder für einen Augenblick ins Leben zurückgebracht werden, lang genug, um sie zu taufen. Agata ist bereit, jedes Opfer auf sich zu nehmen, sie will einen Namen für die Kreatur, die sie geboren hat, ohne Namen keine Identität. Ihr Mann (Dennis Corbatto) reagiert abwehrend, die Protagonistin begreift, sie ist allein auf sich gestellt, heimlich gräbt sie die hölzerne Kiste mit der totgeborenen Tochter wieder aus, schnürt sie sich auf den Rücken und verlässt ihr Fischerdorf Richtung Norden. Geschwächt von Niederkunft und Blutverlust ist jeder Schritt eine Qual, aber ihre Entschlossenheit gibt ihr Kraft, Mut für diese abenteuerliche verbotene Odyssee. Der Weg führt über die Südlichen Karnischen Alpen und die Bergketten von Tarvisio. Ab und zu erfragt sie die Richtung, Bauern nehmen die junge Frau ein Stück mit, doch das Fuhrwerk wird in eine Falle gelockt und von Banditen ausgeraubt. Ein seltsamer Junge (Ondina Quadri) steht Agata bei, Lince nennt er sich, bietet ihr seine Begleitung an, wenn sie ihm am Ende der Reise die Hälfte des Inhalts jener mysteriösen Kiste überlässt.
Gesprochen wird je nach Region wie damals üblich im friaulischen oder venezianischen Dialekt, auch in Italien erscheint der Film mit Untertiteln. Geheimnisvoll, betörend schön und manchmal majestätisch die Natur, aber als Gegner auch unberechenbar. Sie diktiert die Form des Leinwandepos. Der Wind, das Rauschen des Meeres, später in den Wäldern das Geräusch zersplitternder Äste, raschelnder Blätter, der Schrei eines Vogels, jeder Schritt, jeder erklommene Fels wird Teil der Soundkulisse. Unberührte Landschaften, die Bewohner der Höfe wortkarg, geprägt durch Entbehrung und Armut. Fremde sind nicht willkommen. Ohne Gegenleistung keine Hilfe. Lince hat noch nie das Meer gesehen, Agata noch nie Schnee. Das anfänglich feindliche Misstrauen weicht Freundschaft und Fürsorge. Es wird kälter, die Zeit drängt, eine labyrinthische Kohlenmine muss durchquert werden, niemand soll je lebend wieder herausgefunden haben. Agata macht die Verzweiflung furchtlos. Lince folgt ihr widerwillig. Auf der anderen Seite des Sees lebt die Einsiedlerin (Anna Pia Bernadis), die das Wunder vollbringen soll.
Erst 2007 trennte der Vatikan sich von der religiösen Doktrin des Limbus, der Vorhölle, wo jene weilen, denen ohne eigenes Verschulden der Himmel verschlossen bleibt. Dante Alighieris „Göttliche Komödie” hat ihn vereinnahmt, abgespeichert für das kollektive Gedächtnis. Während der Gegenreformation, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert begann jene Serie von Wundern, die totgeborenen Kindern einen letzten Atemzug für die Taufe schenkten. Ende des 19. Jahrhunderts gab es solche Sanktuarien überall in den Alpen, allein in Frankreich fast 200 davon. In „Piccolo Corpo” verschwindet die Grenze zwischen Leben und Tod, Sehnsucht und Realität, aber auch zwischen den Geschlechtern. Der von der Familie verstoßene Lince ist ein Mädchen, aber nur in Männerkleidern kann sie sich selbst verwirklichen, frei bewegen, unabhängig von gesellschaftlichen Tabus. Es ist allein die Sorge um ihr Kind, weshalb Agata vor den patriarchalischen Familienstrukturen flüchtet und sich den Gesetzen eines männlichen dominierten Glaubens verweigert. Doch die Reise verändert sie. Auch die Eremitin ist eine stolze unabhängige Frau genau wie die Anführerin der Straßenräuber. Berührend die Freundschaft der beiden Protagonistinnen, die nie gelernt haben, über Gefühle zu sprechen, ihnen einen Namen zu geben. Die unbewusste Suche nach Nähe und Menschen, die ähnlich empfinden wie man selbst, darin liegt einer der aktuellen Bezüge des Films.
Laura Samani drehte „Piccolo Corpo” chronologisch, sie und das Team machten die gleiche Reise durch die Region Friuli Venezia-Giulia wie die Heldin ihrer Coming-of-Age-Fabel. Fast alle Szenen spielen draußen, Wetter und Jahreszeit bestimmen die Handlung. Im Gegensatz zu Lince erlebt Agata Natur in dieser Form zum ersten Mal in ihrem Leben. Irgendwann bricht sie aus Entkräftung zusammen, Lince muss jene um Hilfe bitten, die ihn verachten, es fällt ihm schwer. Die junge Frau sollte nach der schweren Geburt ruhen, die tagelangen Kletterpartien waren strapaziös, nun liegt sie in einer ärmlichen Kate, die Beine blutverkrustet, die Bäuerin muss sie herausschneiden aus den Schichten verfilzter Winterkleider. Wenn auf der Leinwand Blut vergossen wird, dann meist heldenhaft im Krieg oder auf Gangsterjagd, die Kamera verweilt nur kurz bei den Opfern. Ob Mafia-Epos oder Horrorthriller, Blut ist oft lediglich ein Spannungsverstärkendes ästhetisches Element. Gespreizte Beine einer Frau signalisieren in der Regel Sex, freiwillig oder erzwungen, natürlich heutzutage auch gern den berührenden Moment der Geburt. Die naturalistische Darstellung weiblichen Schmerzes aber wurde tunlichst ausgespart.
Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel des neuen Realismus aus weiblicher Sicht war „Das Ereignis”, die verstörende Chronik einer ungewollten Schwangerschaft, basierend auf der gleichnamigen Autobiographie von Annie Ernaux. Audrey Diwans Drama spielt 1963 in Frankreich, als Abtreibung noch unter strengen Strafen stand. Anne (Anamaria Vartolomei) studiert an der Universität von Angoulême, dank ihrer hervorragenden Leistungen ist ihr eine Hochschulkarriere sicher. In der Familie wäre sie die erste Akademikerin, ihre Mutter betreibt ein kleines Bistrot in der Provinz. Anne wirkt selbstbewusster als die anderen Kommilitoninnen im Wohnheim. Abends wird manchmal mit den Jungs vom benachbarten Studentenheim getanzt, getrunken, geflirtet. Aber weiter darf man auf keinen Fall gehen, da sind sich die meisten Mädchen einig. Als Anne mit Schrecken entdeckt, dass sie schwanger ist, verändert sich ihr Leben schlagartig. Sie hat niemanden, an den sie sich wenden kann mit ihren Problemen, das Thema ist tabu, schon wer eine Adresse weitergibt, macht sich strafbar.
Wie in „Piccolo Corpo” auch hier das eindringliche Porträt einer jungen Frau, die verzweifelt um Selbstbestimmung kämpft. Der Film entwickelt sich bald schon zu einer Art psychologischem Thriller. Pastellfarben täuschen Normalität vor. Grandios wie die rumänische Schauspielerin Anamaria Vartolomei jene Angst verkörpert, die Anne nie offen zeigen darf, eine Angst, die sie langsam innerlich zerstört. Die Kamera registriert jede Gefühlsregung. Der Hausarzt macht unmissverständlich klar, dass an einen Abbruch nicht zu denken ist. Auch wer sich indirekt beteiligt, muss eine hohe Strafe fürchten. Anne wünscht sich ein Kind, irgendwann später. Nicht jetzt. Ein anderer Arzt gibt sich verständnisvoll, verschreibt ihr ein Präparat, das den Abbruch einleiten soll. Später erfährt sie, das Medikament stärkt den Fötus. Auf der Leinwand wird der Schwangerschaftsmonat eingeblendet, mit jedem Tag wächst der psychische Druck. Anne ist unendlich einsam, die Freundinnen meiden sie wie eine Aussätzige, der Mutter kann sie sich nicht anvertrauen. Der Professor will von seiner Lieblingsstudentin wissen, warum ihre Leistungen so nachlassen. Irgendwann rügt er sie in aller Öffentlichkeit. Zur Angst kommt die Demütigung. Audrey Diwan und Co Autorin Marcia Romana konzentrieren sich ganz auf ihre Hauptfigur, wollen nicht brillieren nur überzeugen.
„Das Ereignis”, in Venedig als bester Film ausgezeichnet, ist subtil trotz seiner krassen schmerzhaften Szenen. Die Stricknadel, die Anne in ihren Uterus einführt, erschüttert mehr als jedes kriegerische Gemetzel, diese Nadel trifft uns, dort wo es am meisten schmerzt. Die eigene Hilflosigkeit wird bewusst. Endlich ergattert Anne die Adresse einer sogenannten Engelsmacherin. Das Ersparte reicht nicht für den illegalen Abbruch in dem schmuddeligen Hinterzimmer einer ärmlichen Mietskaserne. Die Studentin verkauft, was sie besitzt, Bücher, kleine bescheidene Schmuckstücke. Nur mühsam kann Anne während des Eingriffs die Schmerzensschreie unterdrücken, ihr wird eingeschärft: „Wenn sie schreien, breche ich sofort ab. Die Wände sind hier dünn wie Papier.” Die Kamera bleibt an der Seite der Protagonistin
„Erbarmungslos” nennt es ein Filmkritiker, für mich ist die Präsenz der Kamera tröstlich. Eine Geste der Solidarität mit Anne und all den Frauen, die erleiden müssen, was sie grade durchmacht. Einige Zuschauer verließen in Venedig das Kino, es gab einen Ohnmachtsanfall. Wer härtere Nerven hat, hofft nur, dass der verpfuschte Eingriff später im Krankenhaus als Fehlgeburt durchgeht, der Protagonistin wenigstens eine Gefängnisstrafe erspart bleibt. Ich mag das Ende des Films, wenn Anne dem Professor sagt, dass sie Journalistin wird. Texas Abtreibungspolitik machte Schlagzeilen genau wie Ungarn und Polen. Selbst in Deutschland führen immer weniger Ärzte den Eingriff aus, weil Abtreibungsgegner vor den Praxen und Krankenhäuser demonstrieren, alle Beteiligten massiv unter Druck setzen. Und noch immer reglementiert das Strafgesetzbuch die Entscheidungen der Frauen.
Originaltitel: Piccolo Corpo
englischer Titel: Small Body
Regie: Laura Samani
Drehbuch: Marco Borromei, Elisa Dondi, Laura Samani
Darsteller: Celeste Cescutti, Ondina Quadri
Produktionsland: Italien, Frankreich, Slowenien, 2021
Länge: 89 Minuten
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Originaltitel: L’événement
Regie: Audrey Diwan
Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romana basierend auf dem Roman „L’événement” von Annie Ernaux
Darsteller: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet-Klein, Luana Bajrami, Louise Orry-Diquero
Produktionsland: Frankreich, 2020
Länge: 100 Minuten
Trailer: © Nefertiti Film/Arizona
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