Film

Das facettenreiche Fantasy-Drama „Titane”, diesjähriger Gewinner der Goldenen Palme in Cannes, ist eine Eruption von Emotion: Fesselnd, brutal, verstörend, zärtlich. Julia Ducournau durchbricht die Grenzen der Genres und Geschlechterrollen, zerstört mit betörender Radikalität Normen, Strukturen, Logik, Erwartungen.  
Die französische Regisseurin kreiert einen wahnwitzigen ästhetischen Kosmos beängstigender Eindringlichkeit. Nur wer sich einlässt auf diese neue Welt, dem erschließt sie die schmerzvolle Selbstfindung in ihrer sakralen Poesie und schillernder Symbolik, verrät ihm das Geheimnis bedingungsloser Liebe. 


Autoshows sind ihre Bühne, wenn Erotik-Tänzern Alexia (phantastisch Agathe Rousselle) den aufgemotzten Luxusschlitten umarmt, ihr Körper sich aufbäumt, zu vibrieren beginnt, löst sie bei Männern wie Frauen gleichermaßen Begehren aus. Das magere androgyne Wesen ist ein Star, daneben verblassen die anderen Showgirls, so akrobatisch deren Performance auch sein mögen, die Handys sind auf Alexia gerichtet, folgsam gibt sie Autogramme, posiert für Selfies.  Die mysteriöse Blonde muss sich dazu zwingen, menschliche Nähe ist ihr zuwider, Lust verspürt sie allein bei Metall. Die Obsession begann früh. Wir sehen sie als kleines Mädchen im Fond eines Wagen mit ihrem Vater (Bertrand Bonello) am Steuer. „Wrumm, wrumm”, lautstark imitiert sie das Motorengeräusch, tritt gegen den Vordersitz, Ermahnungen helfen da wenig, sie versucht alles, um den genervten Erwachsenen zur Weißglut zu bringen. Er verliert die Kontrolle über das Fahrzeug. Crash. Der Vater kommt unverletzt davon, der Kleinen wird jene Titanplatte implantiert, deren Narbe überm Ohr sie heute demonstrativ für alle sichtbar trägt wie eine warnende Botschaft. Doch ein aufdringlicher Fan will nicht begreifen, folgt ihr nach draußen, versucht sie zu küssen. Die wortkarge Antiheldin rammt dem Mann ihre Haarnadel in den Schädel. Hirn fließt als weißer Schleim aus dem Mund. Alexia tötet mit der Beiläufigkeit eines Konsumenten, der überflüssige Maschinenteile entsorgt.   

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Es sind nicht die kruden Gewaltausbrüche am Anfang des Films, die uns verunsichern, übrigens auch die oft nur angedeutet, sondern die Intensität der audiovisuellen Sprache, eine Art von überbordende Kreativität, der wir fast hilflos ausgeliefert sind und die manche überfordert. Julia Ducournau und Kameramann Ruben Impens katapultieren uns mit beklemmender Kompromisslosigkeit in die inneren Abgründe ihrer Protagonisten. Als die Kleine nach der Operation endlich aus dem Krankenhaus entlassen wird, ignoriert sie die Eltern, läuft stattdessen auf das Auto zu und umarmt es mit kindlicher Wiedersehensfreude. Voller Abscheu blickt der Vater auf seine Tochter. Ist sie ein Frankensteinsches Monster? Regisseur David Paul Cronenberg und Werke wie „Crash” haben die Französin geprägt, aber „Titane” erinnert mehr an die Gemälde von Caravaggio und „Das Reich der Lichter” des Surrealisten René Magritte als an den Meister des Body Horror. Verführerisch blinken die Scheinwerfer des Cadillac im Dunkel kurz auf. Nackt überquert Alexia den regennassen Parkplatz, verschwindet im Inneren ihres Lieblingswagens. Das intime Encounter mit der Maschine bleibt nicht ohne Folgen. Sie ist schwanger, der Bauch schwillt ungeheuer schnell an, aus den Brüsten tropft Motoröl. Die Antiheldin gleicht vielleicht einer Psychopathin, nur solche Begriffe verlieren bei Julia Ducournau an Bedeutung, wie viele Morde ihre Protagonistin begangen hat, bleibt offen. Alexia ist zornig, entwurzelt, verunsichert, Triebe oder Getriebe, die stählerne Haarnadel rammt sie sich am Ende selbst in den Unterleib, vergeblich. Was dort wächst, will geboren werden. 

Schon wenige Woche nach der Premiere in Cannes 2016 erreichte „Raw”, Ducournaus erster Spielfilm, Kult-Status. Die Coming-of-Age-Story erzählt von einer jungen Tiermedizinerin und überzeugten Vegetarierin, die ihre kannibalistischen Neigungen entdeckt. Wo viele Kritiker und Zuschauer frappiert von der künstlerischen Qualität waren, empfanden andere nur Ekel und Widerwillen, flüchteten aus dem Kinosaal, im schlimmsten Fall mussten die Sanitäter antreten. Auch für „Titane” braucht es starke Nerven, und doch ist es nicht das Ausmaß von Gewalt, was erschüttert oder den Atem stocken lässt, sondern die Tragik, die Ernsthaftigkeit, jene alles vereinnahmende Einsamkeit. Man spürt die Verbundenheit der Regisseurin mit ihren Figuren, ob Monster, Maschine oder Mensch, die Grenzen sind durchlässig wie zwischen den Geschlechtern, gender fluidity: Auf der Flucht vor der Polizei taucht Alexia unter, behauptet, der als Kind verschwundene Adrien zu sein. Um ihrem Part gerecht zu werden, bricht sie sich brutal die Nase, schneidet das Haar ab, ihre weiblichen Formen versucht sie unter Elastikbinden zu verbergen. Vincent (großartig Vincent Lindon), alleinerziehender Vater und mit Steroiden aufgepumpter Feuerwehrhauptmann, hatte in all den Jahren nie aufgehört nach dem Sohn zu suchen. Er verzichtet auf einen DNA-Test, natürlich merkt der ältere Mann bald, dieses stumme androgyne Wesen kann niemals wirklich Adrien sein, doch er fürchtet die quälende Leere des Daseins.

Nachts verwandelt sich die Unterkunft der jungen Feuerwehrmänner in eine wabernde Disco männlicher Sehnsüchte, kitschiger Pop heizt die Begierden an. Der Berufsstand gilt in Frankreich als erotischer Hotspot. Und mittendrin in dieser Macho-Truppe nun Alexia/Adrien. Der Vater hat sie in eine Uniform gesteckt, noch will er sie einreihen in die Reihe seiner Kameraden. Das Thriller Epos entwickelt sich zu einem feinmaschigen Spinnennetz von Beziehungen, das immer wieder fast droht zu zerreißen. Vincent massakriert seinen Körper mit Injektionen, ein bulliger muskulöser alternder Kämpfer, der um Respekt und Würde fürchtet. Wie er da nackt am Waschbecken steht, kaum mehr fähig, sich die Spritze zu setzen, das spiegelt sein Leben wider, seine Hilflosigkeit, zeigt wie verletzlich er ist. Geschundene Körper als Metapher seelischer Qualen. Alexia muss helfen, ganz langsam erfolgt die Annäherung. Fürsorge gepaart mit verzweifelter ungelenker Entschlossenheit, Tableaus von sakralem Pathos, Referenz an Pier Paolo Pasolini und seinen Humanismus. Die beiden so grundverschiedenen Protagonisten begreifen zum ersten Mal, was es bedeutet, einander zu brauchen in einer Gesellschaft, die ausschließlich auf Leistungsstärke und Optimierung ausgerichtet ist, egal ob Motor oder Mensch. Der Erlösung heißt Transgression.  

Ducorneau stört der Hype um die weibliche Perspektive im Filmgeschäft. Sie will nicht durch ihr Geschlecht definiert sein, hasst es als woman director deklariert zu werden. Es nervt, sie sei „eine Person, ein Regisseur”, erklärt sie in einem Interview mit dem Branchenblatt Variety. Sie mache keine Filme, weil sie eine Frau wäre. „I’m me.” So ein Statement ist ungewöhnlich dieser Tage, und es hat lange gedauert, bis endlich jemand mit dieser Wahrheit rausrückt. Grade eine Figur wie Alexia soll demonstrieren, wie flexibel Weiblichkeit ist. Die Szenen auf der Autoshow sind eine Art Falle, in die der Zuschauer, auch wie geplant, reintappt: Frauen wie auch Autos als Sexualobjekte. Durcorneau genießt das Spiel mit Stereotypen, sie liebt Monstrosität, rebelliert nicht gegen das Patriarchat, ihr alter weißer Mann beweist, wie ausbaufähig wir moralisch doch eigentlich sind. Vincent verkörpert genau den Vater, der Alexia immer verwehrt war. Ducorneaus Welt basiert auf Gender Fluidität und griechischer Mythologie. Titanen sind jene Riesen in Menschengestalt, Nachkommen von Gaia und Uranus. Die Autorenfilmerin würde ihr Drama nie als Body Horror bezeichnen, Body Horror ist hier lediglich Hilfsmittel, Tarnung, um eine Distanz zu kreieren, neue Sichtweisen zu erproben. Menschen und Maschinen taucht sie in ein ständig wechselndes Meer von Licht und Farben, will nicht, dass die Düsternis der Erzählung alles dominiert. Selbstzerstörung als emanzipatorischer Akt, der Kontrast Hell und Dunkel, Metall und Feuer begleitet die Protagonisten durch den ganzen Film. Der Soundtrack wechselt von animalisch über impulsiv zu sakral. „Die Musik,” sagt die Regisseurin, „sollte wie das Licht sein, das durch die Schatten bricht.” 

Wenn Vincent die hochschwangere Alexia anschaut, sieht er keinen blutrünstigen Killer, kein unerträgliches nicht zu bändigendes Kind, kein verführerisches Sexualobjekt, auch nicht seinen Sohn Adrien. Er sieht jemanden, den er beschützen kann und lieben.  

 

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Originaltitel: Titane

Regie & Drehbuch: Julia Ducournau
Darsteller: Agathe Rousselle, Vincent Lindon, Garance Marillier, Laïs Salameh, Bertrand Bonello
Produktionsland: Frankreich 2021
Länge: 108 Minuten
Kinostart: 7.10.2021
Verleih: Koch Films GmbH

 

Fotos, Pressematerial & Trailer Copyright: Koch Films

 

Artikel wurde am 28.04.2023 geändert.

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