In „The Nest - Alles zu haben ist nie genug” erzählt Sean Durkin von Machtgier, Selbstbetrug und einer scheinbar gleichberechtigten Partnerschaft, die sich unerwartet als gemeinsam erschaffener Mythos entlarvt.
Den Zerfall von Beziehungen umgibt oft etwas seltsam Gespenstisches, und genauso verfilmen der kanadische Regisseur und sein ungarischer Kameramann Mátyás Erdély jenes Hybrid aus psychologisch nuanciertem Thriller, Familiendrama und verstörender Kapitalismus-Parabel. Doch am Vorabend des Finanzcrash treiben keine fremden Gespenster ihr Unwesen hinter neo-gotischem Gemäuer, sondern die eigenen Dämonen. Eine ästhetisch suggestive und fesselnde Schauermär.
Jeden Morgen bringt Rory O’Hara (exzellent Jude Law) seiner Frau Allison (Carrie Coon) einen Becher heißen Kaffees ans Bett, ihr Alltag in Amerika besteht aus vielen dieser liebevollen fürsorglichen Rituale. Draußen im Garten tobt Rory ausgelassen mit den Kindern, irgendwann werden wir im Nachhinein jeder seiner Gesten misstrauen, erinnern uns an den zweifelnden Blick, die unterschwellige Angst Allisons. Sie ist in den USA geboren, von Beruf Pferdetrainerin, hängt an dem angenehm luxuriösen Vorort-Dasein. Nun aber eröffnet ihr der Gatte, dass ihn in seiner Heimatstadt London ein ungeheuer verlockendes berufliches Angebot erwartet. Da muss er zugreifen, darauf versteht sich der ehemalige Rohstoffmakler und Wallstreet Spekulant, auf Deals, schnelle Entscheidungen und Charme. Für ihn ist der transatlantische Umzug bereits beschlossene Sache. Seine Argumente klingen überzeugend, vernünftig, Allison zögert, es sei der vierte Umzug. Doch selbst ihre eigene Mutter (Wendy Crewson) vertritt die unumstößliche Überzeugung, es wäre nicht der Job einer Ehefrau, sich Sorgen zu machen.
Sean Durkin hat seinen zweiten Spielfilm im Jahr 1986 angelegt, um die Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien zur Zeit der beginnenden Globalisierung darzustellen, London auf dem Höhepunkt der Deregulierung. In seinem Director’s Statement schreibt er: „Im Wesentlichen wollte ich die damals gefeierten Werte wie Risiko und Ehrgeiz untrennbar mit den familiären Problemen verbinden... Es war eine vielversprechende Ära des kapitalistischen Opportunismus, in der Rory sich das Leben zu führen erhofft, von dem er und seine Frau immer geträumt haben.” Und dann stehen Allison, die Teenagertochter Sam (Oona Roche) und der jüngere Sohn Benjamin (Charlie Shotwell) vor dem düsteren, imposanten gotisch anmutenden Landsitz in Surrey. Die Kinder sind eingeschüchtert von den saalartigen holzgetäfelten hohen Räumen, den pompösen Treppenaufgängen, sie staunen. Plötzlich wirkt die Familie verloren, klein, unbedeutend. Der Zusammenhalt löst sich auf, die Distanz untereinander wächst, Nähe scheint hier unvorstellbar. Solch herrschaftliche Bleibe liegt eigentlich außerhalb von Rorys Budget- Rahmen, seinem Spielerinstinkt vertrauend hat er sie angemietet. Um jeden Preis will er mit der hiesigen Upperclass konkurrieren können, die so ganz anders beschaffen ist als die amerikanische, wo sich fast alles mit Geld kaufen lässt. Die Briten sind schwerer zu beeindrucken, da bedarf es schon der Fähigkeiten einer Margaret Thatcher, damit der soziale Aufstieg bis in schwindelnde Höhen gelingt.
Vorbei die fürsorglichen liebevollen Gesten, „The Nest” ist eine wundervolle eindringliche Charakterstudie nicht ohne schwarzen Humor, manches wird nur angedeutet, vieles bleibt im Dunkel genau wie in Durkins Sekten-Drama „Martha Marcy May Marlene” (2012). Der Zerfallsprozess ist schleichend, scheinbar unaufhaltsam. Kritiker vergleichen den Film gelegentlich mit Stanley Kubricks „Shining” (1980), auch wenn hier ein destruktiver Egomane am Werk ist, bleibt der Horror doch unterschwellig, subtil. Ist das Gespenstische vielleicht nur Einbildung, wenn es sich als Realität tarnt, beunruhigt der Film am meisten. Während Rory O’Hara seine Familie immer näher an den Abgrund drängt, läuft das gesellschaftliche Leben Londons auf Hochtouren, der Protagonist tut sein Möglichstes, die glamouröse Fassade nach außen hin zu wahren, seine Versuche sind verzweifelt, lächerlich, da wird beim Dinner im Restaurant von einer noblen Stadtwohnung fantasiert, wo selbst die Handwerkerrechnung für Alisons Pferdeställe nicht beglichen werden konnte. Natürlich erregt die Aufschneiderei kein Misstrauen bei den anwesenden Gästen, für die sind dergleichen Immobilienkäufe Routine. Alison empfindet die Angeberei des Gatten als persönlichen Affront, sie will nicht mehr schweigen, was sie entgegnet, ist hart, aggressiv, gnadenlos, endlich ist der Moment des Aufbegehrens gekommen, eine phantastische schauspielerische Leistung von Carrie Coon. Erbost verlässt die blonde Amerikanerin das Dinner, beim nächtlichen Streifzug durch die Stadt spürt sie einen Hauch der ersehnten Freiheit, sie trinkt und tanzt durch ihre Enttäuschungen hindurch. Und doch liebt sie diesen verkorksten Mann noch irgendwie, nur sein Traum war nie wirklich ihrer.
Mythomanie ist die Sucht eines Menschen zu lügen, zu fabulieren. Ist es Rory bewusst oder nicht? Er entstammt einfachsten Verhältnissen, glaubt auf Grund der scheußlichen, angeblich lieblosen Kindheit ein Anrecht auf all den Luxus dieser Welt zu haben. Der nach Selbstbestätigung gierende Antiheld will seiner Mutter vorführen, was er erreicht hat, seinen Landsitz, die schöne blonde amerikanische Ehefrau, einen Sohn, der nicht vernachlässigt wird wie er einst, sondern eine Elite Schule besuchen darf. Das permanente Anpreisen der eigenen Fähigkeiten und Erfolge, wir sind längst davon infiziert, unser Jahrhundert hat das System verlogener Selbstvermarktung perfektioniert. Doch was, wenn die Lügen enttarnt werden, Rory schreit seine Wut über das erlittene Unrecht Alison ins Gesicht, die zeigt nur Verachtung für sein Unvermögen, sich der Wahrheit zu stellen. Auch wir, die Zuschauer verweigern unser Mitleid. Daran wäre der Regisseur auch nicht interessiert, mit klinischer Kühle inszeniert Durkin die Abhängigkeiten zwischen wirtschaftlichen Entwicklungen und menschlichen Beziehungen. Eine Schlüsselrolle in dem Psychothriller spielt Kameramann Mátyás Erdély. Zusammen mit dem ungarischen Regisseur László Nemes hatte er 2016 das Oscar-prämierte Holocaust Drama „Son of Saul” gedreht. In „Sunset” (2019) kreierten die beiden eine atemberaubende verstörende Vision, hinter deren unfassbar exquisiter Schönheit sich der Horror selbstzerstörerischer Zivilisationen verbirgt. Budapest, 1913 am Vorabend des Ersten Weltkriegs, ein Labyrinth ständig wechselnder Eindrücke und Empfindungen.
Auch in „The Nest” wird der Betrachter mit der eigenen Zerbrechlichkeit und Ungewissheit konfrontiert. Erdély bricht in seinen magischen Bildkompositionen die herkömmlichen Erzählstrukturen auf, Distanz charakterisiert die Akteure und ihre Beziehungen zueinander. Waren die Familienmitglieder anfangs trotz wachsender Entfremdung noch eine Gruppe, so konzentriert sich die Kamera später auf sie nur als isolierte Einzelpersonen. Die erdrückende Leere des kärglich möblierten Landsitzes signalisiert das Ende aller Hoffnungen und verlässlichen moralischen Werte. Der Soundtrack von Arcade Fire Mitglied Richard Reed Parry ist manchmal von melancholischer Bedrohlichkeit und unheilvoller Dissonanzen, gemischt mit Britpop aus den Achtzigern, darunter Titel von der Gruppe Bronski Beat, den Thompson Twins und The Cure. Teenager Sam veranstaltet in Abwesenheit der Eltern einen gigantische Drogen Schwof im Herrenhaus, Ben bleibt allein mit seiner Angst und den Dämonen. Rory endet nach dem missglückten Dinner im Morgengrauen auf einem entlegenen matschigen Feldweg, der Tracking Shot ist eine Hommage an das Schwarz-Weiß Epos „Sátántangó” (1994) des ungarischen Regisseurs Béla Tarr. Am stärksten beeindrucken die stillen Momente, wenn der Protagonist am Zugfenster in die Ferne starrt oder in sich zusammengesunken im Büro hockt, ein Deal ist geplatzt, dann plötzlich hat er wieder eine zündende Idee, ein neues Opfer ist auserkoren, sein Körper strafft sich. Noch wagt keiner wie Gordon Gekko offen zu verkünden: Gier sei gut, aber der „Gentleman Banker” ist längst Mythos, verdrängt von der neuen Spezies des „Cityboy”: Dreist, skrupellos, prahlerisch.
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Originaltitel: The Nest
Regie + Drehbuch: Sean Durkin
Darsteller: Jude Law, Carrie Coon, Charlie Shotwell, Oona Roche, Michael Culkin, Adeel Akhtar
Produktionsland: Großbritannien, Kanada, 2020
Länge: 107 Minuten
Kinostart: 8. Juli 2021
Verleih: Ascot Elite Entertainment und 24 Bilder
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Ascot Elite Entertainment
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