Der Film „Berlin Alexanderplatz” reißt uns mit in die Abgründe seines Helden: Francis (Welket Bungué), Flüchtling aus Guinea-Bissau, fast ertrunken beim Kentern des Bootes im Meer, schwört Gott, dass er von nun an gut sein will, genauso wie Franz Biberkopf es einst tat nach vier Jahren Knast. Der Kampf um die Anständigkeit, die Suche nach sich selbst, ist verzweifelt, surreal, tragisch, aussichtslos, die Schuldgefühle oft unerträglich.
Rigoros hat Regisseur Burhan Qurbani den 1929 erschienenen Roman von Alfred Döblin neu interpretiert und bleibt doch jener legendären literarischen Vorlage eng verbunden.
Der Autorenfilmer übernimmt die Parallele zum Leidensweg Hiobs, wieder wird Berlin als Hure Babylons zum unbezwingbaren spöttischen Widersacher. Gangsterfabel, Lovestory, Gesellschaftsporträt, ein Magnum Opus, atemberaubend, ästhetisch betörend wie erschreckend.
Alfred Döblin revolutionierte mit „Berlin Alexanderplatz” den deutschen Roman. Sein Werk erzählt von den Außenseitern der bürgerlichen Gesellschaft, Zuhältern, Prostituierten, Hehlern, Gaunern aller Couleur, dies ist nicht das pulsierende schillernde Berlin-Image der Zwanziger Jahre, sondern die brutal triste Wirklichkeit des Proletariats. Der Transportarbeiter Franz Biberkopf ist einer von ihnen, im Jähzorn hat er seine Geliebte erschlagen, die Haft ist verbüßt, nun versucht sich der glücklose Protagonist vergeblich am Neuanfang ob als Zeitungsverkäufer oder Straßenhändler. Standort Berlin Alexanderplatz, er ist ein Fremder im eigenen Land, orientierungslos, verunsichert, entwurzelt, um ihn herum scheint alles im Umbruch begriffen. Die Abende verbringt er in Kaschemmen und Tanzlokalen, die Armut ist groß und Liebe käuflich, die Frauen mögen ihn. Franz will vom Leben mehr als das kärgliche demütigende Existenzminimum, er gerät an Reinhold, den skrupellosen Dämon und Verbrecher, kommt unter die Räder, im wörtlichen Sinne, verliert den linken Arm und glaubt nicht mehr an die Ehrlichkeit, seine eigene und die der anderen. Bloß niemandem trauen, denkt er.
Die erste Adaption des Romans für die Leinwand entstand bereits 1931, zwei Jahre nach der Veröffentlichung auf Initiative von Heinrich George, für den die Rolle des ungeschlachten Franz Biberkopfs wie geschaffen war. Regie führte Phil Jutzi, Alfred Döblin wirkte am Drehbuch mit, da ihn die stilistischen Möglichkeiten des Mediums Kino reizten. „Berlin Alexanderplatz” zählt zu den bedeutendsten ersten Tonfilmen und war ganz auf seinen wuchtigen Star zugeschnitten, der laut zeitgenössischer Kritik eine „grandiose Solonummer” lieferte. Der Film endet versöhnlicher als die Vorlage, ein Zugeständnis an die strenge Zensur. Fast fünfzig Jahre später adaptierte Rainer Werner Fassbinder Döblins sozialkritisches Epos als TV Serie in 14 Folgen. Das Enfant Terrible des deutschen Films war 1980 auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Doch der Mammut-Mehrteiler, „der niemals wirklich ein Fernsehfilm gewesen ist” (Tom Tykwer), sorgte für einen Eklat. Das Drehbuch umfasste 3000 Seiten, in den Hauptrollen Günter Lamprecht, Barbara Sukowa und Gottfried John.
Mit einem Budget von 13 Millionen DM war das Projekt seinerzeit das aufwendigste Prestige Projekt des Deutschen Fernsehens. Dennoch wurde die Serie, die wie der Roman in den 1920er Jahren spielte, nicht etwa zur besten Sendezeit um 20.15 von der ARD ausgestrahlt, nein erst ab 21.30. Zu derb, zu schmuddelig, stellenweise auch zu brutal hieß es. Das verstörende Finale verbannte man direkt ins Spätprogramm. Die Boulevardpresse echauffierte sich, Fassbinders „Bild-Moloch” sei eine „Millionen-Pleite”, die Fernsehzuschauer würden „um ihre Gebühren betrogen”. Abgesehen davon gehört die ästhetisch virtuose, wuchtige Großstadt-Parabel zu den überzeugendsten Werken Fassbinders und besitzt eine existenzielle grausame Schönheit, nur für die damaligen Bildschirme zu dunkel und kontrastarm. In der restaurierten DVD Edition sind die technischen Mängel behoben. Auf der All-Time-100-Movies-Liste des Time Magazins behauptet „Berlin Alexanderplatz” seinen Platz, flankiert von Stanley Kubriks „Barry Lyndon” und Ridley Scotts „Blade Runner”.
In seinem Director’s Statement schreibt Burhan Qurbani: „Ich bin mit „Berlin Alexanderplatz” aufgewachsen. Gar nicht so sehr mit der Serie, die in meinem Geburtsjahr ausgestrahlt wurde, und zu der ich erst spät einen Zugang fand. Sondern viel mehr mit dem Buch, das ich zum ersten Mal mit 17 in der Schule für das Abitur lesen musste. Es war eine ganz schreckliche Lektüre in dem Alter, aber danach habe ich den Roman immer wieder gelesen. Die Idee, den Roman zu verfilmen, begann als Gedankenexperiment: Das Spiel mit einer Neuinterpretation und Aktualisierung eines Buches, das ich zugleich liebte und hasste. Zuerst musste ich aber einen narrativen Schlüssel finden, der uns den Zugang zum Roman in die Jetztzeit öffnete. Die Entscheidung, den Film aus der Sicht eines schwarzen Flüchtlings zu erzählen, lag für mich rein räumlich nah: Ich wohnte damals schon einige Jahre am Volkspark Hasenheide und begegnete jeden Tag den zumeist schwarzen Dealern im Park. So wie Franz Biberkopf aus dem Roman, ein Kleinkrimineller und Gelegenheitsarbeiter in den 20iger Jahren, lebten diese Männer in einer Parallelwelt zum bürgerlichen Deutschland... Als ein Kind afghanischer Flüchtlinge kannte ich das Gefühl, hier fremd zu sein und als etwas Fremdes angeschaut zu werden...
Zu Beginn unserer Geschichte wird Francis an die Küste Europas gespült. Auch er hat große Schuld auf sich geladen. Auch er ist ein Fremder, gestrandet im fremden Land. Ohne Nation, ohne Sprache und ohne Heimat ist er ohnmächtig, ohne Sicherheit, impotent. Das Meer hat seine Geschichte fortgespült. Nur die Schuld ist ihm geblieben. Er muss seine Würde wiedergewinnen, denn die Würde ist das erste, was dem Menschen genommen wird auf der Flucht. Er muss eine neue Geschichte für sich schreiben. Walter Benjamin sprach im Hinblick auf Döblins Romanfigur, Franz Biberkopf, von einem Charakter, der aus dem Dreck kommt und die Hybris besitzt, Teil des Bürgertums werden zu wollen: „Es ist ein Hunger nach Schicksal, der ihn, Franz, verzehrt, denn er verlangt mehr vom Leben als nur ein Bett und ein Butterbrot.” Es ist dieser Hunger, der den Teufel anzieht und Francis/Franz durch verschiedene Inkarnationen führt, bis er schließlich zerrissen und entleert als ein neuer Mensch wiedergeboren werden kann.”
Burhan Qurbani („Wir sind jung. Wir sind stark”) verwandelt den Roman-Klassiker in ein lyrisch surreales Passionsspiel von Opfer und Erlösung, getarnt als moderne Crime Story. Bei der Ankunft in Berlin spricht Francis noch kein Deutsch. Jedes Wort dieser fremden ungewohnten Sprache erhält bei ihm einen seltsam bedeutungsvollen Klang, er formuliert seine Sätze mit besonderer Akribie, distanziert wie die Verszeilen eines unliebsamen Dichters. Nichts von Döblins Schnoddrigkeit des Proletariats, kein modisch anbiedernder Slang des 21. Jahrhunderts. In einer heruntergekommenen Unterkunft rekrutiert Reinhold (Albrecht Schuch) als Mittelsmann von Gangsterboss Pums (Joachim Król) Flüchtlinge als Drogenverkäufer, lockt mit Geld und gültigen Papieren. Francis widersteht, verdingt sich stattdessen als Illegaler auf einer Baustelle. Seine Hilfsbereitschaft beim Arbeitsunfall eines Kollegen kostet ihn den Job, Loyalität bedeutet hier abseits der Rechtmäßigkeit Gefahr. Zorn erfüllt ihn, notgedrungen bezieht unser Held bei dem zwielichtigen Reinhold Quartier, noch dealt er nicht, kocht für die Dealer im Park. Eine unheilvolle Schicksalsgemeinschaft entwickelt sich zwischen den ungleichen Männern. Francis: „Ich war mein Leben lang auf der Flucht. Ich habe getan, was ich tun musste. Jetzt will ich gut sein.” Reinhold: „Was ist gut, was böse? Gras an Touristen zu verkaufen, Waffen an Diktatoren? Alles, was Du hier siehst, ist auf Kosten anderer aufgebaut. Du willst etwas sein, das du nicht sein kannst. You want to be good in a world that is böse.”
Grandios Albrecht Schuch als dämonischer Verführer, ein Mephisto mit schiefen Rücken, blond gefärbten Haaren und hoher Stimme, er versteht sich aufs Manipulieren, sein Hunger nach Sex ist unerschöpflich. Jeden Abend muss Francis die Frauen trösten, die sein Arbeitgeber für perverse Quälereien missbraucht, dann wegwirft wie Abfall, er muss Spott, Demütigungen ertragen, Reinhold tauft ihn auf den Namen Franz, schleppt ihn als Gorilla verkleidet mit aufs Kostümfest, er selbst erscheint im Anzug der Kolonialherrn mit Tropenhelm, klägliches Relikt toxischer Männlichkeit. Seine Eifersucht auf Francis / Franz wächst. Boss Pums findet Gefallen an dem eigenwilligen Schwarzen, warnt ihn: „Sei nicht dumm, Du hast Potenzial. Es ist nicht leicht, sich dem Teufel zu entziehen, wenn man ihn einmal zu sich eingeladen hat.” Francis flüstert: „Noch ein Wort, und ich brech Dir den Hals.” Beeindruckend wie Welket Bungué zwischen den Extremen wechselt, in einem Moment Inbegriff von Kraft, im nächsten bricht er zusammen. Francis ist Sklave und Rebell zugleich, immer mehr wird ihm die Vergeblichkeit menschlichen Handels bewusst, Schuld und Vergangenheit verfolgen ihn seinen Träumen. Sein Gesicht ähnelt einem Schlachtfeld, ist Zeugnis verlorener Kämpfe. Unser Protagonist hat es an Treue fehlen lassen, will sie nun unter Beweis stellen, koste, was es wolle. Solche Naivität stört vielleicht ausländische Filmkritiker, wurde als unglaubwürdig abgetan und doch ist sie typisch für den deutschen Entwicklungsroman, der Held, eigentlich ein großes Kind, der immer voran stolpert, immer wieder in Fallen tapst, uns rührt und belustigt, er hat es nicht besser verdient.
Francis wollte gut sein, aber man hat ihn nicht gelassen. Passagen aus dem Roman werden übernommen, Jella Haases Off-Kommentare geben dem Gangster-Epos seine alttestamentarische Wucht. Es ist Mieze, die Stimme der ermordeten Geliebten aus dem Jenseits. Ein Schnitter, der heißt Tod, drängt sich vom ersten Moment an in unser Bewusstsein, Kapitalismuskritik oder Kampf zwischen Gott und Teufel? Hyper-realistische Szenen folgen elegisch traumhaften, begleitet von dem klassischen Orchester Score der russischen Komponistin Dascha Dauenhauer. Form, Lichter und innere Struktur des Films reflektieren in jeder Faser die innere Zerrissenheit des Protagonisten. Die mysteriösen Farbschattierungen in „Berlin Alexanderplatz” sind berückend, nur das blutige Rot ist klar, unmissverständlich als Warnung. Der Protagonist hat sich gewehrt, doch dann gibt er nach, macht mit bei einem blitzartigen Einbruch, rein in die Fensterscheibe des Juweliers, nur so aus Spaß, Machtprobe von Pums. Wir wissen es, was geschieht: Francis kommt unter die Räder, verliert den linken Arm. Freundin Eva vertraut ihn zur Pflege dem selbstbewussten Escort-Girl Mieze an. Daraus wird die große Liebe. „Die Männer, die zu mir kommen, haben das Gefühl, dass sie wichtig sind, sicher sind wie bei Mama. Ich bin nicht aus Zucker, ich bin aus Marmor. Ich habe keine Angst vor dir, dann musst du auch keine Angst vor dir haben.” So beginnt eine berührende Lovestory, und doch wird Reinhold auftauchen, er kann das Glück anderer nicht ertragen, muss es zerstören. Aber der Tag der metaphorischen Wiedergeburt naht, Francis findet seinen Platz in der Gesellschaft, mancher wird es missbilligen.
„Illegale Immigration betrifft uns alle,” sagt Welket Bungué: „Worin bestehen heutzutage eigentlich die Grenzen? Wie können wir sagen, dass jemand, der ein besseres Leben sucht, hier nicht akzeptiert wird, obwohl er doch einen Weg hierher gefunden hat? Ich empfinde es als Privileg, einen solchen Mann zu spielen, weil ich ihm damit eine Stimme geben kann.”
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Regie: Burhan Qurbani
Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke
Darsteller: Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Annabelle Mandeng, Nils Verkooijen
Produktionsland: Deutschland, 2020
Länge: 183 Minuten
Verleih: Entertainment One Germany GmbH
Kinostart: 16. Juli 2020, ursprünglich 16. April 2020
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Entertainment One Germany GmbH
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