Regisseur Todd Phillips katapultiert uns mitten hinein in die seelischen Abgründe seines Protagonisten. „Joker” sprengt künstlerisch das DC Format: Die nihilistische Fallstudie eines verstörten Außenseiters, grandios gespielt von Joaquin Phoenix, entwickelt sich zur atemberaubenden Pantomime der Verzweiflung, ein schillerndes mörderisches Neo-Noir-Ballett zwischen Anpassung und Anarchie, Anmut und Lächerlichkeit.
Es ist die Geburtsstunde vom Joker, dem Schurken par excellence. Kaum ein Film hat Kritiker so polarisiert wie diese Hommage an Martin Scorseses „Taxi Driver” (1976). Lobeshymnen kontra ostentative Abscheu. Dem düsteren, ästhetisch virtuosen Epos der Rebellion wird Gewaltverherrlichung vorgeworfen, wo es in Wirklichkeit nur die Mechanismen und Ursachen demütigender Ausgrenzung seziert.
Gotham Anfang der Achtziger Jahre, ein finsterer Moloch, Arbeitslosigkeit, Gewalt, die Müllabfuhr streikt, immer mehr Geschäfte machen dicht, Ratten überall, man fühlt sich erinnert an die prä-Bürgermeister-Guliani-Ära in New York. Arthur Fleck (Joaquin Phoenix) lebt mit seiner pflegebedürftigen Mutter Penny in einem schäbigen Apartment. Von klein auf an hat sie ihm eingeschärft zu lächeln, „Put on a happy face”, auch wenn ihm so gar nicht danach zu Mute war. Sein großer Traum ist eine Karriere als Stand-up Comedian, noch verdient er sein Geld als Werbeclown, in diesem Moment schwenkt er im Gewühl der Passanten ein Schild „Everything Must Go” (Alles muss raus), wieder ein Laden weniger. Jugendliche entreißen ihm das Schild, Arthur rennt ihnen nach trotz seiner unförmigen Clownsschuhe. In der Seitengasse zwischen Bergen von Müllsäcken holt er sie ein, wird brutal zusammengeschlagen. Die Wegwerfgesellschaft hat an solchen wie ihm schon längst das Interesse verloren. „Trash”, Abfall ist der gängige amerikanische Ausdruck für die Ärmsten der Armen, gehässiger geht es kaum. Arthur braucht sieben verschiedene Psychopharmaka, um der Realität standzuhalten, doch die medizinische Betreuung des Sozialamts wird ersatzlos gestrichen. Der Protagonist gibt sich nach außen hin unbeeindruckt. Ihn nervt eh die sinnlose Litanei der Therapeutin: „Sie hören nie zu, oder? Sie stellen mir jede Woche die gleichen Fragen. Wie läuft es im Job? Haben sie irgendwelche negativen Gedanken? Ich habe ausschließlich negative Gedanken.”
Wann immer der Stress zu heftig wird, packt ihn ein unkontrollierbares, scheinbar nie enden wollendes, lautes schepperndes Lachen, sein ausgemergelter Körper bebt. Dieses hysterische Lachen ist verzweifelter als jede Art von Tränen oder Schmerzensschreie, es steht für Einsamkeit, Ohnmacht, Missbrauch, Demütigungen, Armut. Welche Ironie, wenn der trostlose Hofnarr in seinem Notizbuch vermerkt: „I hope my death makes more cents than my life.” Ein Wortspiel, das sich nicht ins Deutsche übersetzen lässt, Cents anstatt Sinn. „Joker” ist das Psychogramm einer empathielosen kapitalistischen Gesellschaft, die Mächtigen voller Häme und Herablassung. Der Normalbürger existiert für sie lediglich als Kunde, Käufer oder Publikum. Arthur bemüht sich um Anpassung, vergeblich. Der Chef hat ihn schon gerügt, weil er sich die Reklametafel hat stehlen lassen, ein Kollege steckt ihm einen Revolver zu, damit er sich das nächste Mal besser verteidigen kann. Pech, dass ihm die Waffe bei der nächsten Performance im Krankenhaus aus der Hosentasche rutscht, für einen kurzen schrecklichen Moment erwachen die kleinen Patienten, alles Kinder, aus ihrer Lethargie. Und Arthur ist seinen Job los. Am Abend in der U-Bahn noch mit der grinsend Clownsmaske überm Gesicht wird er Zeuge, wie drei Yuppie-Banker lachend eine junge Frau belästigen, dann ihn attackieren. Er zieht die Pistole, drückt ab. Die Stunde der Rache ist gekommen, die Maske landet auf dem Bahnsteig im Abfalleimer. Die Stärke des Films darin liegt, sich auf solche Definitionen wie Hass, Rache nicht festzulegen, das Spekulieren besorgen Gothams Sensationsblätter: „Kill the Rich. A New Movement?” Arthur bleibt immer ein Rätsel, selbst für Joaquin Phoenix. Der Großindustrielle Thomas Wayne kandidiert für den Bürgermeisterposten Spöttisch hat er die Armen Clowns genannt. Der Volkszorn brodelt, fordert Recht und Respekt ein. Die Demonstranten tragen die Maske des ridikülen Werbeclowns mit grünem Haar und riesigem Grinsen. Bald schon eskaliert die Gewalt. Der Film zitiert die Occupy-Bewegung von 2011 und führt am Rande den notorischen Gegenspieler Batman ein.
„Joker” wurde in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Philipps („Hangover”, „War Dogs”) inszeniert seine Charakterstudie fern vom Heldenmythos des Comic-Universums, die Spannung ist eine andere, hier tritt nicht Gut gegen Böse an, Erlösung wird gesucht, aber nicht versprochen. Der Spiegel avanciert zur zentralen Metapher, wir sehen den Protagonisten darin aus seiner Perspektive. Mit tänzerisch anmutenden Tai-Chi-Bewegungen versucht Arthur sich nach den tödlichen Schüssen zu entspannen. Das eingefallene Gesicht ähnelt einem Schlachtfeld, sein übelster Gegner ist er selbst, die Albträume der Kindheit haben ihre Spuren hinterlassen. Langsam beginnt die Verwandlung zum Joker. Was ihm an Gefühl oder menschlicher Erfahrung mangelt, übt er ein, imitiert es, so wie daheim vor dem Fernseher die Gastauftritte bei seinem Idol, dem Talkshow-Host Murray Franklich (Robert De Niro). Arthur war bisher nur ein bunter kurioser Fleck in einer finstren Metropolis, seine Selbstfindung ist die eines Künstlers. Die Stadt wird seine Bühne, Chaos und Freiheit locken. Er entdeckt seine Ausdrucksmöglichkeiten, die anfängliche Unbeholfenheit löst sich nach den Schüssen allmählich, die Bewegungen werden eleganter, verschmelzen mit den Klängen und Assoziationen von Charlie Chaplins „Smile” und Stephen Sondheims „Send in the Clowns". Etta James’„Stormy Weather” oder Frank Sinatras Stimme wirken inmitten der Häme und Gier vom Gotham wie ein Verfremdungseffekt, Gruß aus einer für Arthur noch fremden fernen Welt. Die Songs lassen unseren glücklosen Anti-Helden Verrat und Enttäuschung für Momente vergessen. Ein paar Walzerschritte mit der Mutter, seiner einzigen wirklichen Freundin. Doch grade sie wird ihn enttäuschen, hat ihn belogen, ist eine von vielen Verrätern. Als er im Archiv ihre Krankenakte entdeckt auf der Suche nach der Identität seines Vaters, zerbricht wieder eine Hoffnung und die isländische Komponistin Hildur Guðnadóttir lässt uns den Schmerz spüren in jeder Dissonanz.
Die Wahrheit ist schwer greifbar im „Joker”, was wenn die Mutter nicht gelogen hat? Der Maestro des Elends glaubt in der afroamerikanischen Nachbarin und Single-Mutter Sophie die ersehnte Seelenverwandte gefunden zu haben. Im Fahrstuhl stehen sie einander gegenüber, Zeichen gegenseitigen Verstehens über das unzumutbaren Chaos: zwei Finger an der Stirn, die Pistolen-Geste des Taxi Drivers, in dieser Stadt kann man sich nur den Schuss geben. Die Fantasien über Sophie verselbstständigen sich, fühlen sich für den Protagonisten an wie Realität. In seiner TV-Show mokiert sich derweil Murray über ein Video von Arthurs Performance, das er aufgespürt hat und genüsslich zum Abschuss frei gibt: „Als ich ein kleiner Junge war und den Leuten erzählt habe, ich wollte Comedian werden, haben mich alle ausgelacht. Tja, jetzt lacht keiner mehr.” -„Das kannst Du laut sagen Kumpel,” voller Gehässigkeit zieht der feiste Entertainer über Arthur her. Doch die Fernsehzuschauer begeistern sich für den seltsamen unbekannten Komiker, wollen mehr von ihm sehen. Murray lädt ihn ein, freut sich darauf, diesen Tölpel noch einmal richtig in die Mangel zu nehmen. Er ahnt nicht, was ihn erwartet, wir schon. „Jetzt lacht keiner mehr” ist ein tödliches Versprechen und Joaquin Phoenix hält es. Für die Rolle des Jokers, gefangen in einer Spirale aus Gleichgültigkeit und Grausamkeit, hat er 26 Kilo abgenommen und eine überragende suggestive Intensität entwickelt. In „A Beautiful Day” (2018) verkörperte er Joe, einer, der nur tötet, wenn es sein muss: schnell, effizient, ohne zu zögern mit einem Rundhammer. Der Kriegsveteran und ehemalige FBI-Agent hat sich spezialisiert auf die Rettung entführter Minderjähriger, Mädchen, die in Nobel-Bordellen zur Prostitution gezwungen werden. Der bärtige, muskulöse übergewichtige Hüne ist schweigsam, spricht nur das Allernötigste. Die Vergangenheit krallt sich fest in Joes Gedanken, als Kind gefoltert, gequält, erniedrigt von einem brutalen Vater, die Mutter ein Opfer genau wie er. Jene Erinnerungen drängen sich immer wieder überfallartig in die Gegenwart: Kriegstraumata, Versagensängste, Todessehnsucht. Mit ihm, dem hochmoralischen Racheengel konnte man sich identifizieren und doch zieht uns der narzisstische Joker unwiderstehlich in seinen Bann.
Originaltitel: Joker
Produktionsland: USA, 2019Regie: Todd Phillips
Drehbuch: Todd Phillips, Scott Silver
Darsteller Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Marc Maron, Zazie Beetz, Shea Whigham u.a.
Länge: 118 Minuten
Kinostart: 10. Oktober 2019
Verleih: Warner Bros. GmbH
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics
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