„Human Flow”. Ai Weiwei und die Grenzenlosigkeit des Elends
- Geschrieben von Anna Grillet -
65 Millionen Menschen sind in diesem Moment auf der Flucht. Zwölf Monate lang hat der chinesische Konzeptkünstler und Regimekritiker Ai Weiwei mit 200 Teammitgliedern in 23 Ländern der Welt gedreht. Entstanden ist eine bildgewaltige aufrüttelnde Dokumentation über Vertreibung, Tyrannei, Armut, Ausbeutung und Heimatlosigkeit.
Doch die Schönheit trotzt dem erschütternden Ausmaß des Schreckens, ist kein innerer Widerspruch sondern eine Form des Begreifens, des Aufbegehrens, die vielschichtige visuelle Umsetzung von Empathie, von Solidarität: Ai Weiwei löst in der ästhetisch oft atemberaubenden globalen Komposition Distanz und Nähe auf, versucht so das fremde Schicksal zum eigenen zu machen, für ihn sind Flüchtlinge „die Helden unserer Zeit”, er zeigt ihren Schmerz, ihren Stolz und ihre Würde.
Es ist die größte Völkerwanderung seit dem Zweiten Weltkrieg und „Human Flow” ein Plädoyer für die Menschlichkeit. Der in Berlin lebende Künstler über den Film: „...ich betrachte diese Krise als meine Krise. Die Menschen, die in ihren Booten ankommen, sind meine Familie. Sie könnten meine Kinder sein, meine Eltern, meine Brüder. Ich sehe zwischen ihnen und mir keinen Unterschied. Wir mögen komplett verschiedene Sprachen sprechen und ganz anderen Glaubenssystemen anhängen, aber ich verstehe sie. Wie ich brauchen sie ein Gefühl von Sicherheit.” Die Notlage anderer sollten wir immer betrachten als wäre es unsere. „Wenn wir einander nicht derart vertrauen können”, so Ai Weiwei, „dann stecken wir tief in Schwierigkeiten. Dann werden wir mit Mauern und Trennwänden konfrontiert und lassen uns von Politikern in eine Zukunft voller Schatten führen.”
Auf „Human Flow” muss sich der Zuschauer einlassen können, bereit sein, die Welt neu zu erfahren, zu sehen, zu ertasten. Drohnen kreisen über der Wüste, die Luftaufnahmen stilisieren die Menschen zu winzigen Punkte, riesige Flüchtlingscamps ähneln den akribisch rechtwinkligen Formen eines abstrakten Gemäldes. Die Entfernung schützt nur scheinbar vor dem Chaos, hat den Zauber ferner Sterne voller Geheimnisse. Doch die Kamera nähert sich den Menschen, ihren vor Müdigkeit und Anstrengung zerfurchten Gesichtern, Tränen, Verzweiflung, aber da ist ebenso Hoffnung, Mut, unzerstörbarer Optimismus, Lebenswille, Lachen, das Kichern tobender Kinder. Irak, Nordgriechenland, Afghanistan, Gazastreifen, Jordanien, Kenia, Libanon, Pakistan, Malaysia, Bangladesh, Calais, Flughafen Berlin Tempelhof. Den Schwerpunkt überall auf der Welt bildet die Familie auf der Flucht. Der Einzelne wird nicht als Opfer präsentiert, sondern als Mitmensch, Identifikationsfigur.
Ai Weiwei verknüpft die Bruchteile von Schicksalen mit harten Fakten, mit Versen verschiedener Dichter, Interviews, kurzen Statements, hält sich selbst meist im Hintergrund und ist doch präsent. Er stellt Nähe her, Betroffenheit, Drama, Humor, und jene karge Schroffheit von überwältigender Schönheit. Eine Collage der Erinnerungen, Entbehrungen, der Not, Angst, täglichen Kämpfe, unser Planet im Umbruch. Der Zuschauer glaubt, den Schlamm zu spüren, die Kälte, den Hunger und den Regen, der nie aufhören will, nirgendwo ein Unterschlupf. „Flüchtling zu sein, ist mehr als nur ein politischer Status, es ist die einschneidendste Form der Grausamkeit, die man einem menschlichen Wesen antun kann. Man raubt ihm all die Dinge, die das Leben nicht nur erträglich, sondern überhaupt erst lebenswert machen”, heißt es im Film. Auf dem Meer treiben die überfüllten Boote ohne Steuermann, ein abgelegener Feldweg, der scheinbar endlose Trek von Menschen bewegt sich langsam durch den Nebel vorwärts, seit sechzig Tagen irrt die Mutter mit ihrem Sohn ziellos umher: „Niemand sagt uns, wohin wir gehen können.”
Einer golden schimmernden Wolke gleicht die Gruppe von Flüchtlingen in den Rettungsdecken aus Folie. Wenige Szenen später marschieren junge Nordafrikaner entlang der Kaimauer wie ein Strafbataillon, sie tragen weiße Einwegoveralls. Der gigantische Friedhof von roten Schwimmwesten erinnert an Ai Weiweis Freiluftinstallation „F Lotus” auf dem Teich an der Südseite vom Schloss Belvedere in Wien. Doch dies ist Realität, nicht inszeniert. Auf der griechischen Insel Lesbos war 2015 die Idee zu dem Projekt „Human Flow” entstanden, der Künstler machte dort Ferien mit dem Sohn, als er Zeuge wird, wie ein Boot mit Flüchtlingen an Land treibt, er ahnt nicht, dass dieser Augenblick zu seiner „größten menschlichen und künstlerischen Herausforderung” werden sollte. Von nun an steht die humanitäre Krise im Zentrum seiner Arbeit, und mit ihm der wirtschaftliche, politische und kulturelle Globalisierungsprozess. Der Film führt den Zuschauer immer wieder an den Ursprung von Ai Weiweis Werk wie ein grade geräumtes Camp: Was gestern noch den Heimatlosen Zuflucht bot, ist verbrannt, zerstört, niedergewalzt, die kärgliche Habe verstreut, ein Teddybär, Kinderschuhe, Decken, ein Kocher. Hoffnung auf eine Spur von Normalität und Glück wie jene zerbombte Wand, an der vier Seiten eines Modemagazins kleben: der Traum eines weißen Hochzeitskleids. Die Installation „Laundromat“ in New York (2016) und Prag (2017) zeigte 2046 Kleidungsstücke, die Flüchtlinge im griechischen Lager Idomeni zurückgelassen hatten. Ai Weiwei ließ die Kleidung waschen, bügeln und sortieren. „Reframe” (2016) bestand aus 22 orangefarbenen Schlauchbooten, montiert auf die Fassade des Palazzo Strozzi in Florenz.
Wenn in „Human Flow” der chinesische Künstler mit einem Flüchtling seinen Pass tauscht, und sie sich einander des gegenseitigen Respekts versichern, ist es mehr als eine Geste. Es symbolisiert die fatale Zufälligkeit der Nationalität, des Rechts auf Schutz und eine Heimat, wird zu einem wiederkehrenden Motiv der Dokumentation. Ai Weiwie kennt Vertreibung, Migration und Flucht, kurz nach seiner Geburt erhielt sein Vater, der regimekritische Dichter und Maler Ai Qing (1910-1996) Publikationsverbot, wurde inhaftiert und später nach Xinjiang in die Wüste Gobi verbannt. „Wir mussten alles aufgeben und natürlich wurde mein Vater als Staatsfeind schikaniert. Während meiner gesamten Jugend”, erklärt der Regisseur, „sah ich die schlimmsten Formen von Misshandlung, Diskriminierung und Not.” In den Flüchtlingscamps wieder mit Elend und Not konfrontiert zu werden, schmerzt ihn umso mehr. Als Kind hatte er keine Chance, eine Schule zu besuchen, unterrichtete sich weitgehend selbst mit der Lektüre von Enzyklopädien. 1976 durfte die Familie schließlich aus dem Exil zurückkehren. Wenig später schrieb sich Ai Weiwei an der Pekinger Filmakademie ein, gründete die Künstlergruppe „Stars Group”. Er opponierte gegen die von Staatsaufträgen dominierte chinesische Kunstwelt, schon bald hat er den Ruf eines waghalsigen Provokateurs, der die Autoritäten herausfordert.
Vor dem Fall der Berliner Mauer schützten elf Länder ihre Grenzen mit Mauern und Stacheldraht, heute sind es 70. „Human Flow” ist Appell, Bekenntnis, Pamphlet, kritische Reflexion, Ai Weiwei macht den wahnwitzigen Versuch, die Flüchtlingskrise in ihrer Totalität zu erfassen und das Unmögliche gelingt. Begriffe wie Obergrenze wirken hier, wo das Elend grenzenlos scheint, wie pure Häme. „Ich will das Recht auf Leben, des Leoparden im Frühling, des aufplatzenden Samens. Ich will das Recht des ersten Menschen”. Nazim Hikmet, türkischer Dichter (1902-1963). Der Text erscheint auf der Leinwand. Das Inhumane, Grausame kann nie die Schönheit des Daseins zerstören. Der Regisseur im Jogginganzug stapft durch morastiges Gelände. Manche Feuilletonisten kritisieren den Film als Selbst-Inszenierung des Künstlers, bemäkeln fehlende Feinfühligkeit, weil die Flüchtlinge als Masse gezeigt werden. Wie absurd. Genau das ist ihr Schicksal, nur einer von 65 Millionen zu sein, unsichtbar, vergessen. Dieser Strom von Menschen, der sich nähert, um dann in Zeltstädten wie einem Niemandsland zu enden, als Bedrohung empfunden und doch in seiner Monumentalität verdrängt. Ai Weiwei, der Gefeierte, Unermüdliche, der keine Ruhe geben wird, bis jeder seinen Platz auf diesem Planeten gefunden hat, Friede nicht nur eine Utopie ist. Er löst behutsam den Einzelnen für ein paar Augenblicke aus dessen Anonymität, gibt ihm die Bedeutung, die ihm zusteht. Die Flüchtlinge blicken direkt in die Kamera, wortlos, ernst, mit einem Lächeln oder fragend. Zu zweit oder allein. Unsere Blicke treffen sich. Wir bleiben die Antwort schuldig.
Gaza, zehn junge Mädchen, die Schule ist vorbei, ein kurzer Spaziergang zu einem Felsen mit Blick aufs Meer, sie lächeln: „Der einzige Ort, wo wir uns freier fühlen.” Sie sind Gefangene im eigenen Land. Ein anderer Kontinent, ein anderes Camp: Flüchtlinge berichten von Repressalien: „Wir werden Euch keine Papiere geben, entweder ihr geht freiwillig oder wir verhaften Euch.” Ai Weiwei gibt denen eine Stimme, die keine haben in dieser Welt. – Ein junger Mann in Hoodie am Tisch sitzend von hinten fotografiert, macht nur eine abwehrende Geste, er kann nicht sprechen, ihm wird schlecht, jemand reicht ihm einen Eimer. – Die Krise hat viele Gesichter. Zerbombte Straße, Desillusionierung, Stacheldraht, wo vor einem Monat noch ein Grenzübergang war. Für ein Sandwich steht man zwei Stunden an. Eine Mutter verzweifelt, findet nirgends Milch für den Säugling. Die epische Reise, aus der sich „Human Flow” entwickelt, begann spontan, bevor es irgendwelche Marschrouten oder Pläne gab. Die Unwägbarkeit der Entstehung führte letztendlich dazu, dass die Funktion der Form folgte. Die fließende Struktur der Erzählung reflektiert die Empfindungen der Unsicherheit, völlig unklarer Zeitvorstellungen und den verwirrenden Schwebezustand, mit dem Flüchtlinge konfrontiert sind.
Produzent Andrew Cohen ist sich bewusst, dass der Zuschauer die Orientierung verlieren kann, nicht weiß, in welchem Land oder Camp er sich grade befindet: „Aber genau diese Wahrnehmung ist für den Film entscheidend. Die Farben, das Klima und das Essen mögen in jeder Gemeinschaft unterschiedlich sein, aber der Film orientiert sich an der Gemeinsamkeit der individuellen Erfahrungen.” „Human Flow” spiegelt die Weltsicht Ai Weiweis wider, es vereint zwei grundverschiedene Blickwinkel, Nachrichten und Dichtung. Aus Worten, Emotionen, Gesichtern, Ideen, Landschaften eröffnet Cutter Nils Pagh Andersen uns immer neue Schichten des verschachtelten Filmepos. Überall spürbar der Einfluss von Marcel Duchamp, dem Pionier der Conceptional Art, Alltagsgegenstände, die wie Kunstobjekte wirken: eine improvisierte Ladestation mit Massen von Handys, verlassene Flöße oder Reifen. Und immer wieder die orangen Schwimmwesten. Sie erinnern an Lesbos, den Ausgangspunkt und an die Installation in Wien, F für Flüchtling oder Freiheit, oder nur ein Fluch. Die Suche nach Glück, im Gazastreifen erhält nur der Tiger das begehrte Ticket ins Ausland.
Originaltitel: Human Flow
Regie: Ai Weiwei
Drehbuch: Chin-Chin Yap, Tim Finch, Boris Cheshirkov
Darsteller: Boris Cheshirkov, Princess Dana Firas of Jordan, Marin Din Kajdomcaj, Ahmad Shuja, Hanan Ashrawi, Peter Bouckaert
Kamera: Ai Weiwei, Murat Bay, Christopher Doyle, Huang Wenhai, Konstantinos Koukoulis, Renaat Lambeets, Li Dongxu, Lv Hengzhong, Ma Yan, Johannes Waltermann, Xie Zhenwei, Zhang Zanbo
Produktionsland: Deutschland, 2017
Länge: 140 Minuten
Kinostart: 16. November 2017
Verleih: NFP marketing & distribution GmbH
HUMAN FLOW-Preview am Mittwoch, den 15. November um 20.00 Uhr im FaF (Filmtheater am Friedrichshain, Bötzowstrasse 1-5, 10407 Berlin)
Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright NFP marketing & distribution GmbH
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