Was für ein Schauspielerfest! „Vor Sonnenaufgang“ nach Gerhard Hauptmann, das von Ewald Palmetshofer in die Gegenwart transportierte Sozialdrama, begeisterte beim Theater Festival Hamburg auf Kampnagel als hochaktuelle Zustandsbeschreibung unserer gesellschaftlichen und politischen Kultur.
Es ist nicht irgendein Stück. Gerhard Hauptmanns Debüt „Vor Sonnenaufgang“, geschrieben mit nur 27 Jahren und uraufgeführt am 20. Oktober 1889 im Berliner Lessing-Theater, begründete den Naturalismus in Deutschland. Zum ersten Mal spielte das „wahre Leben“ auf einer deutschen Bühne. So rückhaltlos drastisch, dass sich im Theater „rasender Tumult“ erhob, wie ein Augenzeuge berichtete und das Skandalstück über Wochen hinweg Gesprächsthema in Berlin war. Hauptmann hatte gewagt, der Gesellschaft vor Augen zu führen, wie verkommen sie war. Am Beispiel einer durch Kohlegruben zu Geld gekommenen schlesischen Bauernfamilie, die durch den Reichtum zu rücksichtslosen Genussmenschen werden und letztlich am Alkoholismus vor die Hunde gehen. Als da wären: Egon Krause, seine zweite Frau Annemarie, die beiden Töchter aus erster Ehe, die hochschwangere Martha und ihre junge Schwester Helene, sowie Marthas Ehemann Thomas Hoffmann, Ingenieur und Bauunternehmer. Man macht auf vornehm, doch im Grunde ist diese Familie eine verluderte, versoffene Sippschaft, in und an der Helene leidet. Als unversehens Alfred Loth auftaucht, ein Jugendfreund ihres Schwagers, verliebt sie sich Halsüberkopf. Doch Alfred, vom Arzt gewarnt vor der Alkoholsucht der Familie, verschwindet wieder und Helene bringt sich um – vor Sonnenaufgang.
In der Neufassung des Österreichers Ewald Palmetshofer überlebt Helene. Was aus ihr wird, bleibt offen. Hauptmanns zentrale Figurenkonstellation hat der junge Autor beibehalten, die Nebenrollen sind gestrichen, den Text hat er komplett neu geschrieben. Palmetshofers Familie Krause/Hoffmann ist gutbürgerlicher Mittelstand irgendwo in der Provinz. Der Umgang miteinander ist (bis auf ein paar „Fick Dich“-Ausbrüche) nicht ganz so dumpf wie bei Hauptmann, eher bissig- gehässig und voller bösartiger Anspielungen. Wenn Helene zu ihrer Schwester sagt „Du und ich und Papas Frau“ ist schon klar, dass es mit Familienidylle nicht weit her ist. Die Fassade ist dünn, die Abgründe sind tief. Dafür steht der Alkoholismus hier nicht so sehr im Vordergrund. Es bleibt bei Andeutungen über eine geheimnisvolle „Krankheit“.
Das Ensemble vom Akademietheater Wien ist einfach zum Niederknien gut: Markus Meyer spielt den Unternehmer Thomas Hoffmann als cool-beherrschter Macher in Bademantel und Puschen. Dieser Mann hat zwar Geld gemacht und Karriere als Kommunal-Politiker, doch in der Familie ist er möglichst unauffällig, unscheinbar, geht Schwierigkeiten wo immer möglich aus dem Weg. Im Grunde ist Thomas ebenso resigniert, wie sein Schwiegervater Egon, den Michael Abendroth mit dem Zynismus eines hoffnungslosen Defätisten spielt. Die Männer mögen im Gemeinderat Parolen schwingen, in dieser schrecklichen Familie (Egon hämmert die Misstöne seiner Ehe zwischendurch anschaulich auf dem Klavier) haben sie zu spuren. Das Zepter schwingt Annemarie, die ungeliebte Stiefmutter, die Dörte Lyssewski als Mix aus hysterischer Möchtegerndiva, eilfertiger Gastgeberin und impertinenter Zicke zeichnet. Die zweite Zicke im Bunde ist Martha (Stefanie Dvorak), der man alles wegen ihres Zustands alles verzeiht, die sich darüber aber ebenso mokiert, wie über den Hausarzt Dr. Peter Schimmelpfennig (Fabian Krüger macht Maertens im Sprachduktus Konkurrenz).
Einfach nichts stimmt in dieser Familie, auch Helene nicht, die hier so wenig hineinzupassen scheint. Marie-Luise Stockinger spielt die kleine Schwester mal traumverloren-depressiv, mal klarsichtig-trotzig. Als eine noch nicht ausgereifte junge Frau, die sich ungeliebt fühlt und nicht auf eigenen Beinen stehen kann. Nun ist sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt, um ihrer Schwester bei der Geburt beizustehen, das Kind ist längst überfällig, alles wartet.
In diese angespannte Gemengelage platzt nun der linke Journalist Alfred, herrlich verdruckst von Michael Maertens als das personifizierte Unwohlsein gespielt. Alfred sagt nicht, was er hier eigentlich will. Aber man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass sich die Geschichte, an der er für sein Blatt dran ist und die ihn in die abgelegene Gegend verschlagen hat, von den Gräben handelt, die rechtspopulistische Politiker wie sein Jugendfreund Thomas geschaufelt haben.
Dusan David Parizek, der für Regie und Bühne verantwortlich zeichnet, hat für dieses Stück eine offene Bühne gewählt: Links ein kleiner Schminktisch, dahinter ein Klavier. Im Hintergrund ein Treppengerüst und eine Küchenzeile, noch ein Schminktischchen und vorn rechts die zentrale Spielfläche: eine überdimensionale Gitterstruktur in Würfelform, ein transparenter Kubus, der anfangs noch mit einer orangebeleuchteten Papierwand bespannt ist. Im Laufe des Abends kommen einem diese Versatzstücke so lieblos und roh vor wie der Umgang der Menschen untereinander Zunächst aber schnallt sich Stefanie Dvorak als Martha ihren Schwangerenbauch um, während Katja Ebsteins 70er-Jahre-Hit „Wunder gibt es immer wieder“ durch den Saal dröhnt. Helenes trockener Kommentar als Einstimmung auf die nächsten zweieinhalb Stunden: „Die Zeit der Wunder ist vorbei“. Nur einer von vielen anspielungsreichen Sätzen, die klar machen, worum es dem Autor geht: Einer Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft, die immer mehr in verfeindete Weltanschauungen „auseinanderdriftet“, wie Alfred im Zwiegespräch mit Thomas sagt. „Bei uns im Dorf grüßt man sich nicht mehr, wenn man politisch anderer Meinung ist“, sagt er noch und löchert seinen alten Freund, wie er nur so werden konnte, wie er jetzt ist. „Wir erzählen die Geschichten so, dass die Menschen sich finden können“, entgegnet Thomas irgendwann und es fällt nicht schwer, in ihm den Biedermann in Badelatschen zu erkennen, der rasch zum Brandstifter werden kann.
Es wird noch sehr philosophisch an diesem Abend. Und sehr komisch. Nicht nur, weil die Frage auftaucht, ob Sein von Essen kommt, der Doktor angesichts eines Hähnchenschenkels über den Tod sinniert und Alfred abwechselnd mit Annemarie und Helene rummacht.
Fazit: Ewald Palmetshofers „Vor Sonnenaufgang“ ist ein großartiges, ebenso lehrreiches wie unterhaltsames Stück des Burgtheaters Wien, das am Beispiel einer Familie gesellschaftliche Konflikte aufzeigt und dabei drastisch die Erosionserscheinungen politischer und sozialer Kultur vor Augen führt. Dass dabei alle theatralischen Stilmittel, vom epischen Theater bis zur Groteske, einsetzt werden, macht das Vergnügen nur noch größer.
Irgendwann zwischendurch sagt Martha: „Es muss ja auch nicht alles ausgesprochen werden, damit es gesagt ist“. Genau! Wie gut das klappt, haben wir gerade gesehen.
„Vor Sonnenaufgang“ nach Gerhard Hauptmann
Mit: Michael Maertens, Dörte Lyssewski, Markus Meyer, Fabian Krüger, Michael Abendroth, Marie-Luise Stockinger, Stefanie DvorakRegie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Licht: Krisha Piplits, Dramaturgie: Eva-Maria Voigtländer
Hamburger Theater Festival noch bis 28. November
Weitere Informationen
Abbildungsnachweis:
Header: Vor Sonnenaufgang. Foto: Reinhard Werner, Burgtheater
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