Mit einer perspektiven- und abwechslungsreichen Ausstellung wird im Schweriner Dom St. Marien und St. Johannis das Jubiläum der gotischen Kirche gefeiert.
Lässt sich unsere Vernunft auf kalte Logik reduzieren? Der große französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) glaubte das nicht, sondern forderte eine „Logik des Herzens“. Seinen Gedanken griff gute zweihundertfünfzig Jahre später, im Jahr 1913, der deutsche Philosoph Max Scheler (1874-1928) in seinem Konzept einer „Materialen Wertethik“ auf. Scheler glaubte an die „ewige und absolute Gesetzmäßigkeit des Fühlens, Liebens und Hassens, die so absolut wie die der reinen Logik, die aber in keiner Weise auf intellektuelle Gesetzmäßigkeit reduzierbar sei.“
Seiner Überzeugung nach gibt es „eine Erfahrungsart, deren Gegenstände dem ‚Verstande‘ völlig verschlossen sind“, und diesem Erleben war ein wesentlicher Teil seines Werkes gewidmet – neben seiner großen Ethik noch die fast gleichzeitig erschienene „Theorie der Sympathiegefühle“.
Dieser Logik des Herzens ist eine ungewöhnliche Ausstellung im Schweriner Dom gewidmet. Die mächtige Kathedrale am schönen Marktplatz der Stadt wird 850 Jahre alt und möchte natürlich gefeiert werden. Könnte das besser als in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Museum Schwerin geschehen? Drei Jahre brauchten der Kurator Gerhard Graulich und seine Kollegin Katharina Uhl, ihr Konzept einer „Herzen-Werkstatt“ zu entwickeln, nachdem der Dompastor Volker Mischok erstmals das Museum angesprochen hatte.
Von vornherein war ein lebendiger Dialog der Kunst mit der Kirche das Ziel gewesen. In früheren Jahren war es wohl weniger ein Dialog, denn zwar profitierten die Künstler von den Aufträgen der Kirche, aber sie befanden sich doch eher in einer dienenden Position und hatten zu tun, was man ihnen sagte. So kann es sich heute sicherlich nicht mehr gestalten. Aber wie dann? Gibt es noch religiöse Kunst auf hohem Niveau? Wie muss sie heute aussehen?
Zunächst mag man die Liedtafel auf den Ankündigungen und Plakaten nur für intelligente Werbung für die Ausstellung halten, für einen großsprecherischen Hinweis auf ein ziemlich großes Event: „Wir wissen nicht, was es ist, aber es ist verdammt gross.“ Es scheint aber, dass damit gar nicht eine verdammt große Ausstellung im Dom angesprochen wird, sondern doch eher die Tatsache unserer Existenz und die Suche nach einem Sinn des Lebens. Und damit ist dann tatsächlich eine religiöse Ebene erreicht, ohne dass es peinlich wurde. (Allerdings hätte doch kein Pastor das „verdammt“ akzeptieren dürfen!)
Wie kommt es zu dem merkwürdigen Titel der Ausstellung? Im Dom findet sich jetzt eine Installation Stanislav Horváths, an deren erste Präsentation sich Gerhard Graulich erinnerte. Graulich beschreibt die Installation, die Horváth 2001 für eine Münchner Kirche entwickelt hatte, mit diesen Worten: „In Stanislav Horváths Installation, die einer offen zugänglichen und improvisierten Werkstatt gleicht, wurden Herzen in unterschiedlichen Größen aus Stahlblechplatten geschnitten und liegen nun verteilt herum.“ Den Titel „Bauhütte“ darf (und soll…) man als Hinweis auf die mittelalterlichen Bauhütten verstehen, in denen die verschiedenen für die Errichtung einer großen Kirche notwendigen Gewerke zusammengeschlossen waren, aber er verweist natürlich auch auf das Weimarer bzw. Dessauer Bauhaus. Graulich sind in seinem Katalogbeitrag die handwerklichen Aspekte des Künstlertums besonders wichtig, aber gerade diese spielen in dem Kunstverständnis, wie es sich in dieser Ausstellung ausdrückt, eine eher untergeordnete Rolle.
Horváths Installation dient nun zum Ausgangspunkt eines Rundgangs durch den Schweriner Dom, die sehr verschiedene Kunstwerke vorführt, die alle in einer nicht immer offenen und leicht zu findenden Verbindung zum Herzen stehen. Zum Herzen, nicht zur Religion, die eigentlich bei nur ganz wenigen Arbeiten eine Rolle spielt. Unter „Herz“ hat man meist das Gefühl zu verstehen, die empathische Hinwendung zu anderen Menschen. So ist zum Beispiel das letzte im Katalog behandelte, im Dom ausgestellte Objekt – eine Arbeit von Stefan Wewerka – das Kleidungsstück eines kleinen Kindes, „Karl Valentins Kinderhemd“ genannt, über das Uhl schreibt, es bringe „das Spielerische eines Kindes zum Ausdruck, indem es formal auf dessen körperliche wie geistige Haltung Bezug nimmt“.
Das Herz wird also weder als traditionelles Symbol angesehen noch so dargestellt. Zwar verweist ein Artikel von Katharina Uhl in dem originell gestalteten Katalog auf seine Bedeutung besonders in der Literatur (Wilhelm Hauff „Das kalte Herz“): „Herzensbildung – Die Eroberung der Gefühlswelt seit dem Spätmittelalter“, aber derartige Bezüge werden in dieser Ausstellung nicht hergestellt. Das gilt selbstverständlich erst recht für die antike Symbolik, in welcher das Herz im Zusammenhang mit dem Kosmos gesehen wird, also als Mikrokosmos, als Spiegel der Welt.
Eine Verbindung zur Religion stellt ein neben dem Eingang in den Dom angebrachte spiegelverkehrter Schriftzug her. „Milch & Honig“ erinnert zunächst an das den Israeliten gegebene Versprechen, sie in das Gelobte Land zu führen, verweist aber noch zusätzlich auf das Schlaraffenland. Das war gar kein Paradies, sondern die Erzählung vom Schlaraffenland muss schon in der frühneuzeitlichen Dichtung (ich weiß das aus Wikipedia…) als moralische Warnung gelesen werden: „Allen thorrechten Laster-Freunden zum Spott / denen Tugendliebenden zur Warnung“, wie ein Ausschnitt des ewiglangen Titels lautet. In einer Konsumgesellschaft scheint diese Warnung allerdings recht aktuell.
Die prominentesten Künstler dieser bunten Ausstellung heißen Günther Uecker, Marcel Duchamp und Ernst Barlach; der Pommersche Maler der Herzen, Caspar David Friedrich, fehlt leider. „Fluttering Hearts“ von Marcel Duchamp (1936/1961) zeigt drei übereinander montierte Herzformen – in der Mitte eine rote, die beiden anderen blau – die ein optisches Flimmern hervorrufen sollen, den sogenannten „Farbtiefeneffekt“ – rote Flächen, erläutert Uhl, „scheinen eine andere Tiefe zu haben als blaue, auch wenn sie auf ein flaches Stück Papier gedruckt sind.“
An ein sehr bekanntes Gleichnis Jesu erinnert die Arbeit von Günther Uecker mit „Wer wirft den ersten Stein?“ Er hat den ersten und entscheidenden Teil der Frage weggelassen, die Einschränkung „Wer von euch ohne Sünde ist“. Offenbar darf hier jeder nicht nur jeder urteilen, sondern sogar gleich verurteilen, also exekutieren… Das Objekt selbst ist ein mit einem Tuch eingewickelter Stein.
Den ersten Preis bekommt von mir Ernst Barlach. Von ihm findet sich eine kleine Bronze, in der ein biblisches Thema dargestellt wird, die „Ruhe auf der Flucht“ von 1924, die von Katharina Uhl in ihrer Bildbeschreibung als „Sinnbild für Liebe, Verantwortung und Verbundenheit“ angesehen wird. Die Verbindung zum Thema der Ausstellung, dem Herzen, stellt sich nur über Barlachs Herzprobleme dar, die er selbst auf „seine große Empathie mit dem Leid seiner Mitmenschen“ (Uhl) zurückführte, aber die Skulptur, so klein sie tatsächlich ist, spricht als Darstellung einer schützenden und umsorgenden Geste – Joseph spannt seinen Mantel über Maria mit dem Kind – wohl jeden Betrachter unmittelbar an, selbst wenn er die Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten gar nicht kennen sollte. Man versteht, warum sich viele Plastiken Barlachs in Kirchen finden; und eigentlich brauchen sie dafür gar kein religiöses Thema darzustellen.
Herzen-Werkstatt
Zu sehen bis zum 17.10. 2021
Eine Ausstellung des Staatlichen Museums Schwerin im Schweriner Dom anlässlich des 850. Domjubiläums
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Katalog:
Herzen-Werkstatt.
Verlag für moderne Kunst 2021
ISBN: 978-3903796966
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