Wann ist etwas vollendet? Gibt es überhaupt Vollendung in der Kunst, im Leben? Oder ist es gerade das Unvollendete, was unsere menschliche Existenz und was große Kunst ausmacht?
Derart wesentlichen Fragen geht seit Februar 2023 die offenen Gesprächsreihe „Fliegende Gedanken“ im Rahmen des Projektes „Die Unvollendeten“ im Hamburger Tonali Saal nach. Diesmal nahm die phantasiereiche, sprachmächtige Schriftstellerin Felicitas Hoppe auf dem gelben Tonali-Teppich Platz, auf dem immer auch ein gelber Stuhl freigehalten wird für Gäste aus dem Publikum. Ebenfalls wie immer führte Moderatorin Raliza Nikolov kenntnisreich und zugewandt durch den Abend. Dieser bildete den Schlusspunkt der Gesprächsreihe und zugleich den Auftakt für das große Tonali Festival vom 3. bis 9. Juli 2023 an verschiedenen Orten in Hamburg.
Felicitas Hoppe ist vielfach preisgekrönte Autorin, Trägerin des Georg-Büchner-Preises und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sie sei eine Schriftstellerin, die durch Raum und Zeit reise, die Einsamkeit ebenso liebe wie Gemeinsamkeit, so Moderatorin Raliza Nikolov. „Wir können ihr heute ein bisschen zuhören und verstehen, wie ihre Gedanken ins Fliegen kommen.“ Viele schöne, kluge Sätze wechselten die beiden, und auch beim Publikum kamen die Gedanken ins Fliegen bei so viel Input. Wer hätte gedacht, dass Felicitas Hoppe eigentlich gar keine Schriftstellerin werden wollte? „Für alles andere war ich nicht gut genug“, gestand sie. Und was war ihr größter Kindheitstraum? „Partizipation“, antwortete Felicitas Hoppe.
Lebhaft erzählte sie dem Publikum von ihrem Kindheitstraum, der mit Partizipation, dem Unvollendeten und dem kreativen Prozess im Allgemeinen zu tun hat, aber auch mit ihrer persönlichen Sehnsucht, wenigstens einmal im Leben eine Ratte zu sein. Kein Wunder, denn: Felicitas Hoppe ist in Hameln geboren. Die Geschichte vom Rattenfänger wurde damals wie heute regelmäßig auf dem Marktplatz aufgeführt, erzählte sie dem Publikum, und die Kinder konnten sich jedes Mal für eine Rolle als Ratte bewerben. Leider habe es bei ihr mit der Bewerbung nie geklappt, sie wisse auch nicht warum. Der Job sei damals bei den Hameler Kindern sehr begehrt gewesen, denn „Ratten hatten immer etwas zu essen.“ Die Geschichte vom Rattenfänger spielte – wen wundert es - eine große Rolle für Felicitas. „So viele Schriftsteller haben sich daran versucht, die Geschichte zu vollenden. Aber es ist die klassische unvollendete Geschichte“, meinte Felicitas Hoppe und bot den Zuhörern sogleich einen kurzen Exkurs über die Faszination des Unvollendeten.
Aufgewachsen ist Felicitas in einer Familie mit vier Geschwistern. Zu Hause wurde viel Musik gehört. Die Mutter las den Kindern vor, der Vater erfand Geschichten. Im Geschichten erfinden und im Schreiben von Gedichten war auch die kleine Felicitas damals schon ganz groß. Um dies zu beweisen, zog sie ein kleines schwarzes, abgegriffenes, weil altes Büchlein aus ihrem (Hoppe Leser:innen bestens bekannten) Rucksack, schlug eine Seite auf und trug den Zuhörern ihr erstes, selbstverfasstes Gedicht vor: „Man pflanzt ein kleines Bäumchen ein/nur ein paar Füße lang,/bald wird es größer sein,/dem Schöpfer dafür Dank“. Die Texte in diesem Buch seien alle so gut wie vollendet, betonte sie. Wenn sie merkte, sie komme nicht weiter, habe sie sich ganz schnell einen Schluss ausgedacht.
Ihre erste Schrift war übrigens die Notenschrift. Welchen Zugang hatte sie zur Musik von Franz Schubert? Welche Rolle spielt Musik in ihrem Leben, bei der Arbeit? Warum schreibt Felicitas Hoppe eigentlich und überhaupt? Wann und wie schreibt sie? Und was? Ist sie eine Romanautorin? Dem Publikum im Tonali Saal bot sich ein Abend voller kluger Fragen der Moderatorin und voller kluger Antworten der Autorin. Ein Abend, an dem Sätze wie die folgenden in den Raum und auf die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums fielen: „Wörter haben eine Bedeutung. Da kann ich nichts gegen machen.“ Und: „Musik hat nicht den Erklärungszwang.“ Und: „Vernichtung ist das Gegenteil von Vollendung.“ Und: „Es gibt keinen anstrengenderen Beruf als den des freien Künstlers, der freien Künstlerin.“ Und: „Es geht ums Spiel, um den Spieltrieb.“ Und: „Der Roman ist immer kleiner als die Welt.“ Und: „Wir haben das Angebot, so viele verschiedene Rollen anzunehmen.“ Und: „Wir haben die Kunst, um damit umzugehen.“ Und: „Wenn wir perfekt wären, gäbe es überhaupt keine Kunst.“ Sätze wie diese wurden im Gespräch mit Raliza Nikolov definiert, begründet, erschlossen.
Wer bei der Tonali-Veranstaltung mit Felicitas Hoppe in der Reihe „Fliegende Gedanken“ dabei gewesen ist, weiß all dies und noch viel mehr. Die Zuhörer hatten das Glück, diese geistreiche, phantasievolle, lebhafte, resonanzfähige Schriftstellerin bei dieser Gelegenheit persönlich kennenlernen und/oder vorhandene Kenntnisse zu vertiefen. Wer nicht dabei war, nicht dabei sein konnte, hat aber die Chance, dies und vieles weitere nachträglich zu erfahren: „Fliegende Gedanken“-Gespräche sind bei YouTube zu finden.
Zwei Gäste haben übrigens die Chance genutzt und sich vorab via App mit einer Frage für die Veranstaltung „Fliegende Gedanken“ angemeldet. Sie brachten sich vor Ort live ins Gespräch ein und stellten interessierte Fragen, auf die Felicitas Hoppe ehrliche Antworten gab. Das kennzeichnete den gesamten Abend, der auch musikalisch ein Genuss war. Die 1977 in Lettland geborene Komponistin und Pianistin Ruta Paidere begeisterte die Anwesenden mit einer frühen Komposition und mit ihren Beiträgen im Gespräch mit Raliza Nikolov und Felicitas Hoppe. Das frühe, an diesem Abend zu Gehör gebrachte Musikstück schrieb die heutige Professorin an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bereits als 20jährige Studentin. Der 15jährige Janik Plath, Schüler der Geschwister Scholl Stadtteilschule, zurzeit Praktikant bei Tonali, spielte zudem den 1. Satz der Beethoven-Mondscheinsonate. Er tat dies mit erstaunlich guter Technik. Erstaunlich deshalb, weil Janik erst vor sieben Monaten angefangen hat, sich mit Hilfe von YouTube-Videos das Klavierspielen beizubringen. Hierzu ermutigte ihn ein Musikstudent der Tonali Akademie.
Janik Plath am Flügel und Felicitas Hoppe. Fotos: Marion Hinz
Mit Schubert begann der Abend im Tonali Saal und mit Schubert hörte er auf. Ebenso großartig wie diese Gesprächsrunde geht es nun weiter beim großen Tonali Festival, das ab 3. Juli an sieben Tagen und sieben verschiedenen Orten in Hamburg stattfindet. Im Mittelpunkt steht Franz Schuberts Sinfonie Nr. 7 „Die Unvollendete“, gespielt vom Tonali Orchester unter der Leitung von Aurel Dawidiuk. Zwölf Hamburger Schulen und rund 200 Schüler:innen sind an dem diesjährigen Festival beteiligt. Sie arbeiten zusammen mit Studierenden der Tonali Bühnenakademie. Zum Festival gehört auch die künstlerische Reflexion auf Franz Schubert mit Hamburger Jugendlichen und Kiezbewohner:innen. „Tonali will die Grenzen zwischen Bühne und Publikum verwischen, die Menschen in einen Austausch bringen, in einen offenen Dialog“, erläuterte Raliza Nikolov dem Publikum.
Tonali – der Zukunft Gehör verschaffen
Kleiner Kielort 8 in 20144 Hamburg
Das siebentägige Festival klingt am 9. Juli mit dem Abschlusskonzert in der Elbphilharmonie aus.
- Weitere Informationen (Festivalprogramm)
YouTube-Video:
Fliegende Gedanken – Schriftstellerin Felicitas Hoppe spricht über „vollendetes“ & „unvollendetes“
Hinweis: Tonali und KulturPort.De veranstalten ein gemeinsames Konzert am 7. Oktober 2023 um 19:30 Uhr: Rendano : Skrjabin. Porträts zweier Künstler im Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert mit der Pianistin Daniela Roma.
Weitere Informationen (Tonali)
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