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FM: Sie waren die Sprecherin von Vika Veira-Freiberga, der bedeutenden Präsidentin nach der Unabhängigkeit. Fehlt der lettischen Politik seit ihrem Abgang eine Persönlichkeit ihres Formats?AR: Meine diplomatische Antwort darauf ist: Sie ist noch immer eine Inspiration für unsere Gesellschaft. Und immer wieder sagen mir Leute, dass sie ihre Visionen, ihre Gedanken, ihre Stellungnahmen vermissen, die etwas über dem alltäglichen, hektischen Betrieb standen. Ich bin stolz, mit ihr gearbeitet zu haben!
FM: Dann tauschen Sie sich mit ihr auch über Riga 2014 aus?
AR: Oh ja, sicher! Wir halten noch immer einen sehr guten Kontakt. Sie ist sehr glücklich über Riga 2014.
FM: Nennen Sie bitte noch weitere Ideen des Programms?
AR: Gerne. Nächstes Jahr jährt sich der Beginn des 1. Weltkrieges zum 100. Mal. Wir suchten nach einem eigenen Zugang dazu, denn natürlich wird in etlichen Ländern des Jubiläums gedacht. Unsere Idee ist, dass wir nur Zeugnisse dazu zeigen von Künstlern aus den 11 Ländern, die als Folge dieses Krieges entstanden- so wie Lettland. Oder die Bernsteinstraße.
FM: Bernstein als Programmteil klingt erst mal sehr touristisch und erwartbar...
AR: Ja, tut er, aber das ist der Trick. Denn wir betrachten Bernstein aus sehr ungewöhnlichen Blickwinkeln. Es beantwortet auch die Vorgabe, mit dem Programm neue Verbindungen zu anderen EU-Ländern herzustellen. Und uns fiel ein, dass eine der ersten europäischen Handelsverbindungen die alte Bernsteinstraße war vom Baltikum zum Schwarzen Meer, eine Art erste Euro-Zone, denn Bernstein galt in den verbundenen Ländern als Währung. Der andere Ansatz ist, dass eine lettische Wissenschaftlerin Fäden aus Bernstein entwickelt hat, Bernsteinfäden sind die neueste lettische Innovation. Zudem erforschen lettische Wissenschaftler gerade den Einsatz von Bernstein in der Gefäßchirurgie. Die Idee kam einer lettischen Wissenschaftlerin, als sie in einer Kairoer Bibliothek las, dass Bernsteingefäße bei den alten Ägyptern benutzt wurden, um Blut flüssig zu halten. Wir wollen auch den Letten zeigen, dass Bernstein viel mehr ist, als nur Auslage in unseren Souvenirshops.
FM: Haben die Künstler in Riga auch andere Herangehensweisen, Sichtweisen als in Paris, Berlin oder Barcelona?
AR: Die Kunstszene ist sehr vielfältig. Vielleicht ist es typisch, künstlerische Antworten in Form von Märchen oder Assoziationen zu geben, also eher indirekt. Aber wir haben auch Künstler, die sehr direkt ihre Meinung ausdrücken.
FM: Ist es nicht etwas Besonderes, dass in letzter Zeit so viele junge Letten, auch Künstler, an alten lettischen Symbolen und Traditionen interessiert sind? Aus deutscher Perspektive ist das sehr ungewöhnlich.
AR: Ja, ich weiß. Und ja, das ist eine richtige Beobachtung. Es begann vor zwei, drei Jahren, dass sich immer mehr junge Letten für diese alten Symbole und die damit verbundenen Mythen interessierten. Gerade heute musste ich daran denken, als ich einen auf Facebook geposteten Wollgürtel sah. Der Gürtel sah sehr stylish aus, bestand aber nur aus alten Symbolen und man trägt damit Mode, aber auch alte Mythen mit sich. In den 5 Jahren nach der Unabhängigkeit waren so viele nationale Symbole überall, dass wir Jüngeren sie satt hatten. Erst jetzt entdecken wir sie quasi neu übersetzt für uns.
FM: Hat das nicht auch damit zu tun, dass so viele Letten inzwischen Erfahrungen in anderen Ländern gesammelt haben, und dadurch eine neue Sicht auf „Heimat“ entwickeln?
AR: Heute kann jeder relativ einfach Weltbürger sein. Aber dadurch stellen sich auch viele Letten die Frage nach ihrer Identität. Vielleicht ist es gerade heute wichtig, zu wissen, wo die eigenen Wurzeln sind.
FM: Andererseits müssen einige Rigenser immer noch lernen, mit vielen Menschen aus anderen Ländern zusammenzuleben..
AR: Es ist wie in der Wachstumsphase, ein Arm wächst schneller als der andere. Es gibt einige Stereotype im konservativeren Teil der Gesellschaft. Aber alles in allem geht es in die richtige Richtung.
FM: Könnte das einer der positiven Binneneffekte von Riga 2014 sein, die Stadt noch offener und gastfreundlicher zu machen?
AR: Es ist immer wichtig, zu wissen, wer man ist. Und das kann man nur, wenn man offen für andere ist. So verstehe ich auch eine gesunde, integrative Gesellschaft. Ich hoffe wirklich, dass wir diese Folgen der geschlossenen sowjetischen Gesellschaft, Angst zu haben vor allem, was man nicht versteht, überwinden. Und wir arbeiten mit Riga 2014 jeden Tag daran. Wir wollen eine integrative Gesellschaft darstellen.
FM: Ganz persönlich: Was gefällt Ihnen besonders an der lettischen Kulturszene, was würden Sie Freunden aus London oder Paris ans Herz legen?
AR: Es gibt so vieles. Aber mir ganz persönlich gefällt die Post-Folk-Szene. Musiker wie Laima Jansone oder die Bands Iļģi, Trio Šmite/Kārkle/Cinkuss, Vētras
saites, Pērkonvīri. In dieser Musik steckt viel von unserem Leben in Lettland, unseren Traditionen und Mythen. Es wird über das ganze Jahr viele Folk-Konzerte, sowohl bei Riga 2014, als auch unabhängig davon geben. Denn natürlich ist Riga 2014 nur der zweite Belag auf der Torte, zusätzlich zu dem regulären und sehr vielfältigen Kulturangebot, das sowieso schon stattfindet.
FM: Riga beheimatet eine große russische Minderheit. Ist das nicht zu thematisieren, ein Kommentar von Riga 2014 zum Zusammenleben?
AR: Es wäre der komplett falsche Ansatz gewesen, das zu thematisieren. Wir machen ein Programm für die eine urbane Gesellschaft. Nicht für getrennte Gesellschaften. Es gibt auch keine besonderen Veranstaltungen für unsere russische Minderheit, denn alle Veranstaltungen sind für alle Besucher. Wer sich für zeitgenössische russische Poesie interessiert, kann das mit allen erleben, oder sollten da Letten nicht erwünscht sein? In Riga leben im Mietshaus ein Russe neben einem Letten, daneben vielleicht ein Armenier und dann ein Jude. Und alle teilen den gleichen Hinterhof. Unser Ansatz ist also: Was können wir zusammen aus und mit dem Hinterhof machen, egal welcher Nationalität ich bin?
FM: Das ist sehr idealistisch, die Realität sieht oft noch anders aus...
AR: Man muss eine Vision haben, nur dann kann man etwas erreichen. Mein eigener Hintergrund ist ein Master-Abschluss in russischer Literatur, obwohl ich Lettin bin. Ich habe russische wie lettische Freunde, es liegt an jedem Letten und Russen, auf einander zuzugehen.
FM: Wäre nicht auch ein wünschenswerter Effekt von Riga 2014, ihren Landsleuten mehr Selbstwertgefühl zu vermitteln? Es wirkt oft so, als ob Letten sich nicht viel zutrauen, denken: „Ach, das können andere bestimmt noch besser...“
AR: Ja, das stimmt. Letten haben Probleme, zu akzeptieren, dass sie etwas exzellent gemacht haben. Ich denke schon, dass es hilft, wenn jemand von außerhalb sagt: „Das ist ja toll, wie hast Du das denn nur geschafft?“. Als es bei dem letzten Chorfestival so viele Komplimente von auswärtigen Besuchern gab, da dachten auch wir, ok, dann war es vielleicht wirklich nicht so schlecht. Also ja, ich denke, Sie haben recht, dass Riga 2014 auch dem Selbstwertgefühl in unserer Gesellschaft helfen kann.
FM: Und welche Außenwirkung erhoffen Sie sich? Wie soll sich Riga zeigen?
AR: Als lebendige, charmante, aufregende, überraschende und grüne Stadt.
FM: Woran messen Sie, ob Riga 2014 ein Erfolg war? An Bilanzen?
AR: Natürlich muss ich Rechenschaft ablegen, dann wird es etwa um die Wachstumsrate des Tourismus, den Mobilitätszuwachs und den Beschäftigungsschub, vor allem im Dienstleistungsbereich, durch Riga 2014 gehen. Aber für mich war es ein Erfolg, wenn nur ein Besucher sagt: Es hat mein Leben verändert!
Weitere Informationen zum Programm: www.Riga2014.org
Fotonachweis:
Header: Blick auf Riga. Foto: Institute of Latvia, A.Kendenkov
Galerie:
01. Riga-2014-Programmchefin Aiva Rozenberga
02. Logo Riga 2014
03. Lettische Nationaloper
04. Nationalbibliothek. Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
05. Fonoskops, Lichtinstallationen
06. Lichtinstalltion an der Nationaloper. Foto: Delfi
07. Mark Rothko Art Center, Daugavapils. Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
08. Open-Air-Bühne in Mežaparks. Foto: Kaspars Garda, Rīga 2014
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