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Literatur muss frei sein und wild. Sie darf böse sein und muss auch wehtun können, sonst verliert sie ihren Reiz, sagt Melanie Möller.

Die Autorin weiß, wovon sie spricht: Melanie Möller studierte Latinistik, Germanistik, Geschichte und Altgriechische Philologie (Gräzistik) und promovierte über Stilkritik. Heute ist sie Professorin für Klassische Philologie/Latinistik an der Freien Universität Berlin. Und sie kämpft für die Freiheit der Literatur. „Für die Freiheit der Literatur“ ist auch der Untertitel ihres aktuellen Buches „Der* ent_mündigte Lese:r“. In ihrer Streitschrift fordert die Autorin einen Freiraum für ungeschützte Gedanken und scharfe Worte. Uns Lesern und Leserinnen beschert Melanie Möller im Kampf für die Freiheit des Wortes einen wilden Ritt durch mehrere Jahrhunderte Literaturgeschichte.

 

Die Autorin wehrt sich in und mit diesem Buch gegen Bibelverbot für Schulen in Utah, gegen Verbannung von Klassikern aus Lehrplänen und Schulbüchern, gegen glättende Übersetzungen, zensierte Klassiker, politisch korrekte Vorgaben für Literatur, Sensitivity-Reading, Triggerwarnungen, gegen das Verbot ›schwieriger‹ Vokabeln: Dies sei ein Verhängnis, sagt Melanie Möller und warnt davor, den Leser zu unterschätzen. In Sachen Kunst dürfe es keine Abstriche geben. Wer verwässere, entmündige den Leser – und der sei schlauer, als man denke. „Was fehlt, ist ein leidenschaftlicher Kampf für die Autonomie der Literatur, der diese schützt wie eine bedrohte Minderheit – und zwar kompromisslos“, so die Autorin. Melanie Möller führt diesen Kampf. Und sie lässt uns daran teilhaben, bringt uns zum (erneuten) Nachdenken, zum Überdenken bisheriger Erkenntnisse, zum Entwickeln neuer, anderer Gedanken. Sie tut dies dank ihrer fundierten Kenntnisse glaubhaft und überzeugend.

 

Dem Gesamttext vorangestellt ist ein Zitat von Franz Kafka aus einem Brief an Oskar Pollak. Das Zitat beginnt so: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen.“ Genau das ist auch die Überzeugung von Melanie Möller, wie sie zur Einführung ihrer Streitschrift ausführt. Die Einführung trägt den Titel „Von der schwer erträglichen Leichtigkeit des Cancelns“. Und das ist genau das, worum es Melanie Möller geht, wovon dieses Buch handelt, was es behandelt. Es gehe ein Gespenst um im Literatur- und Kulturbetrieb, heißt es gleich im zweiten Absatz des Buches. Ein Gespenst, das wie andere Gespenster auch, Jahrhunderte, sogar Jahrtausende auf dem krummen Buckel habe. Früher habe es auf den schlichten Namen Zensur gehört, heute sei es unter verschiedenen Namen bekannt, nenne man es Cancel culture, wokeness, political correctness oder sensitivity reading. Im Prinzip machen alle das Gleiche, so die Autorin: „Sie vergehen sich an Kunst und Literatur, und sie wollen (Literatur)Geschichte umschreiben, indem sie sie moralisch bereinigen, mögen die Gründe für ihr Vergehen auch mit der Zeit wechseln.“

 

Moeller Der entmuendigte Leser Galiani BerlinIn ihrer Streitschrift weist sie auf andere Bücher hin, die sich ebenfalls mit der Thematik auseinandersetzen wie z.B. „Canceln“, ein notwendiger Streit, München, Hanser, 2023. Ziel dieses Buches, in dem mehrere Autoren mit Texten vertreten sind, sei gewesen, verschiedene Positionen wertneutral nebeneinanderzustellen, um in der Diskussion zu bleiben, so Melanie Möller. „Tatsächlich scheint der Band die Lage eher zu ver- als zu entschärfen.“ Auch hier gilt für uns Leser und Leserinnen - wie für vieles, wenn nicht sogar für alles – in „Der* ent_mündigte Lese:r“: Wir bekommen Denkanregungen, Aufklärungsangebote, Meinungsbegründungen, begründet durch zahlreiche Beiträge wie „Homer und die Bibel“, „Ovid und Joseph Brodsky“, „Catull und Casanova“ und viele andere mehr, aufgeteilt in einzelne Kapitel, in denen Paarungen unterschiedlicher Epochen gebildet werden. Wie wir Leser und Leserinnen mit dem zugewonnenen Wissen, mit den Erkenntnissen und Meinungen Melanie Möllers umgehen, welche Schlüsse wir für uns ziehen, das bleibt selbstverständlich uns überlassen. Denkanregungen gibt es jedenfalls genug.

Ein eigenes Problemfeld sieht Melanie Möller in Übertragungen von Originaltexten in andere Sprachen. Grundsätzlich sei eine Übersetzung immer ein kreativer Vorgang. Wörter, die in ihrer Zeit wertneutral verwendet wurden, sollten – sowohl wegen der historischen Gerechtigkeit als auch und vor allem des ästhetischen Anspruchs wegen - auch so transportiert werden, fordert die Autorin. Übersetzungen sollten versuchen, eine historische Entsprechung des Begriffs zu finden, in den Text (um)zusetzen. Erläuternde Fußnoten sollten ggf. nicht in warnenden Vorbemerkungen entschuldigt werden. Für allgemeine Erklärungen zum Procedere einer Übersetzung wäre in einem Nachwort Platz, auch in entsprechenden Kommentaren.

 

„Wenn wir an der Autonomie der Kunst festhalten wollen, dürfen wir eben nicht zulassen, dass sie zum Knallbonbon des wissenschaftlich assoziierten Aktivismus wird.“ Die Furchtsamen müsse man gelegentlich daran erinnern, „dass die thematischen, ästhetischen, sprachlichen Herausforderungen, vor die uns die Literatur stellt, auch zur Schärfung unserer eigenen intellektuellen Instrumentarien beitragen. […] Wie arm wäre doch ein Lesen oder Hören (ein Leben sogar) ohne solche Reibungen, wie verstörende oder >verletzend> sie individuell auch aufgenommen werden mögen.“ Melanie Möller wehrt sich gegen Sprachsäuberer und eilfertige Korrigierer, gegen Übergriffe auf die Literatur, gegen die herablassende Haltung gegenüber der Literatur und ihrer Geschichte, gegen die eintönige Melodie des >Anfangsverdachts> gegen die Sprache, „die recht eigentlich auf Respektlosigkeit gegenüber gründet“. Sie fordert kompromisslos: „keine Änderung an den Texten, schon gar nicht bei toten Autoren, die sich nicht wehren können.“ Meine Empfehlung: Lesen Sie Melanie Möllers Buch „Der* ent_mündigte Lese:r“ als weiträumigen Gang durch die Zeiten, als Studie, die der „Geschichte der Gewalt gegen die (in diesem Fall primär literarische) Kunst“ historische Tiefe und Breite verleihen will und bilden Sie sich ein eigenes Urteil.


Melanie Möller: „Der* ent_mündigte Lese:r“

Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift

Verlag Galiani, Berlin (Verlag Kiepenheuer & Witsch)

240 Seiten

Gebunden mit Schutzumschlag

ISBN 978-3-86971-302-1

Verfügbar auch als E-Book

Weitere Informationen (Verlag KiWi)

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