Mauritius, am 20 Breitengrad Süd im Indischen Ozean gelegen, ist bekannt für seine Strände, besonderen Landschaften mit dem Black River Gorge Nationalpark, den bizarren Bergen, monokulturellen Zuckerrohrplantagen und dem subtropischen Übergangsklima. Ein Urlaubsparadies für Europäer.
Der Inselstaat hat allerdings auch viele andere Geschichten zu erzählen, die weit entfernt liegen von Begriffen wie Paradies, Urlaub oder Trauminsel.
Seit der Besiedlung durch Portugiesen, Niederländer, Franzosen und Briten wurden Menschen nach Mauritius verschleppt, später mit Versprechen gelockt, die nie eingehalten wurden oder werden konnten. Sklaven und Feld- und Salinenarbeiter, zumeist vom 1.800 km entfernten afrikanischen Kontinent, aus Madagaskar und schließlich, nach Ende der Sklaverei, aus vielen Provinzen Indiens und aus China. Bis heute ist die kulturelle Mischung Teil der Authentizität der im März 1968 vom Vereinigten Königreich in die Unabhängigkeit entlassenen Inselgruppe.
Eine fast unbekannte Geschichte ist die Verschleppung von 1.600 Jüdinnen und Juden am Ende des Jahres 1940 und deren Internierung bis 1945. Ein kleines Museum und Informationszentrum sowie der St. Martin Friedhof in Beau Bassin, etwas südlich der Hauptstadt Port Louis gelegen, sind die einzigen sichtbaren analogen Verweise auf Mauritius.
Die Hintergrundgeschichte dazu beginnt mit dem Versuch jüdischer Familien das von Nazi-Deutschland besetzte Österreich, Polen und die Tschechoslowakei sowie das Deutsche Reich selbst zu verlassen, um auszuwandern oder durch Zwangsauswanderung durch die sogenannte „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ dem bevorstehenden Grauen zu entkommen. Eine der Hauptfluchtrouten war per Schiff über die Donau in Richtung Schwarzes Meer.
Im Sommer 1940 charterte die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien zwei Schiffe namens Schönbrunn und Melk, um jüdische Flüchtlinge über Zwischenstationen in das britische Mandatsgebiet Palästina zu bringen. Am 4. September 1940 fuhren diese mit den jüdischen Flüchtlingen – vornehmlich aus Prag, Brünn und Österreich von Wien nach Bratislava. Dort lagen zwei weitere Schiffe, die Uranus und Helios mit Flüchtlingen aus Danzig, Berlin und München, die vor der nationalsozialistischen Verfolgung flohen.
Am 5. September 1940 fuhren die vier Flussschiffe mit 3.500 jüdischen Flüchtlingen von Bratislava aus donauabwärts und kamen eine Woche später im rumänischen Tulcea, einer Stadt an der Donaumündung, an.
Dort stiegen sie auf drei seegängige Dampfer um – die Atlantic, Milos und Pacific –, um durch das Schwarze Meer, den Bosporus ins Mittelmeer, über Kreta und Zypern in das britische Mandatsgebiet in Palästina zu gelangen. Ab dem 24. November 1940 erreichten die Schiffe in kurzen Abständen den Hafen von Haifa.
Zwei jüdische Familien an Bord der „Atlantic", Herbst 1940. Quelle: Ghetto Fighter's House Archives, Fotoarchiv, Katalognr.: 66690. Registrierungsnr.: 68940צ. Gestiftet von Yossi Fuchs. Das Schiff wurde von der britischen Marine im Hafen von Haifa abgefangen und die Passagiere nach Mauritius deportiert.
Keiner der Flüchtlinge hatten ein legales Einreisevisum für das britische Mandatsgebiet und so wurden sie von den britischen Behörden als illegale Einwanderer angesehen und diese hielten sich strikt an das britische MacDonald-Weißbuch vom Mai 1939, das einer strengen Einwanderungsquote für Juden folgte und keinen jüdischen Staat vorsah. Innerhalb von fünf Jahren durften nach Quote nicht mehr als 75.000 Juden legal einreisen.
In der Bucht von Haifa erwartete die Ankommenden die MS Patria, ein ehemaliger französischer Luxusdampfer, den die Briten requiriert hatten. Dorthin waren bereits die Passagiere der beiden Schiffe Milos und Pacific verbracht worden. An Bord der MS Patria kam es zu einem Bombenanschlag, möglicherweise um seine Abfahrt zu verhindern, bei dem und während der folgenden Panik mehrere Hundert Menschen starben. Das Schiff sank.
Die britischen Behörden erlaubten den Überlebenden der Patria, kurz im britischen Mandatsgebiet zu bleiben, und verlegten sie in das Atlit-Haftlager in der Nähe von Haifa. Am 9. Dezember 1940 wurden jedoch 1.580 der Flüchtlinge gewaltsam aus Atlit herausgeführt, auf zwei niederländische Schiffe, die Johan de Witt und die New Zealand verbracht und nach Mauritius deportiert. Unter ihnen waren 600 Österreicher, 300 Tschechoslowaken, 300 Polen, 100 Deutsche, 140 aus der Freien Stadt Danzig und 141 Personen anderer Nationalitäten.
Nach siebzehn Tagen erreichten die Schiffe Port Louis, die Hauptstadt der britischen Kolonie Mauritius. Die jüdischen Flüchtlinge, 849 Männer, 635 Frauen und 96 Kinder, wurden mit Bussen in das ehemalige napoleonischen Zentralgefängnis Beau Bassin gebracht und voneinander getrennt. Die Männer wurden in den Gefängniszellen, die Frauen und Kinder in speziell gebauten Baracken untergebracht.
Die Kranken- und Sterberate war durch Typhus und Malaria und andere Ursachen sehr hoch. Erst ab 1942 verbesserten sich allmählich die Bedingungen für die Gefangenen.
Da es bis 1941 keinen jüdischen Friedhof auf Mauritius gab und nur ein jüdischer Emigrant aus Litauen dort legal lebte, wurde einer angelegt. Man wählte einen ruhigen friedlichen Ort am Rande einer Zuckerrohrplantage, umgeben von Bergen und mit einem Blick auf den Ozean. Die nächstgelegene jüdische Gemeinde war in Südafrika, knapp 4.000 Kilometer entfernt. Das South African Jewish Board of Deputies richtete sogleich ein Komitee ein, um mit den britischen Kolonialbehörden zu kommunizieren und Lebensmittel, Kleidung, Medikamente, religiöse Gegenstände und Lesematerial für die Flüchtlinge bereitzustellen.
Am 21. Februar 1945 teilte der britische Gouverneur von Mauritius den Häftlingen mit, dass sie die Insel verlassen werden und in das britische Mandatsgebiet Palästina einreisen dürften. Doch erst am 11. August 1945, sechs Monate später, konnten die Deportierten die Insel tatsächlich verlassen.
1946 erwarb das South African Jewish Board of Deputies das Eigentum am jüdischen Friedhof St. Martin auf Mauritius, wo 128 jüdische Flüchtlinge, die während ihrer Haft starben, begraben wurden. Ab 1946 waren der Ort und die Geschichte für lange Zeit so gut wie vergessen. Mittlerweile ist neben dem jüdischen-, ein muslimischer und christlicher Friedhof zu finden.
Seit 1988 kümmert sich die Jüdische Gemeinde Südafrikas permanent um den Friedhof und lässt ihn pflegen. 129 Grabstätten sind es dort heute, die sich in mehreren Reihen gleichförmig den leichten Anstieg emporziehen und von einer Mauer umfriedet sind. Namen, Geburts- und Sterbedaten, ein hebräischer Segensspruch und die Ortsnamen, woher die Verstorbenen stammten, sind auf den Grabsteinen angegeben: Ludwig Heymann aus Danzig, Henrietta Loew aus Berlin, Edith Ditta Eisler aus Wien und Mendel Monk aus Wien.
Jüdischer Friedhof St. Martin. Foto: Claus Friede
1999 fand ein Treffen von 50 ehemaligen jüdischen Häftlingen und ihren Familien auf Mauritius statt.
Die erste bedeutende Aufarbeitung zu dieser Geschichte wurde 1998 in dem Buch Le Shekel Mauricien (dt.: Der Mauritius-Schekel, 2008) von Geneviève Pitot (1930-2002) veröffentlicht, einer gebürtigen Mauritierin, die in Deutschland lebte und eine enge Beziehung zu einem der jüdischen Häftlinge auf der Insel hatte. 2014 wurde Pitots Buch von Anat Avraham, deren Vater, Jacob Eilon, einer der Flüchtlinge auf Mauritius war, ins Hebräische übersetzt.
Buchcover
Zu den weiteren Erinnerungsbemühungen gehörte die Wanderausstellung Boarding Pass to Paradise der israelischen Kuratorin Elena Makarova, die zwischen 2005 und 2008 durch mehrere europäische und israelische Städte tourte. Der Dokumentarfilm In the Shadows of Beau Bassin, produziert vom südafrikanischen Independent-Filmemacher Kevin Harris, wurde 2007 uraufgeführt.
Seit dem Jahr 2008 gibt es in Israel eine Archivsammlung zu dieser Geschichte mit Fotografien, Dokumenten, Memoiren, Briefen und Kunstwerken in den Ghetto Fighters‘ House Archives, zwischen Akko und Nahariya gelegen. Das Beau Bassin Jewish Detainees Memorial & Information Center wurde im November 2014 eröffnet. Heute leben fast 50 Jüdinnen und Juden in einer kleinen Gemeinde auf Mauritius, zumeist in der zweitgrößten Stadt Cubepipe, in der Mitte der Insel.
The Beau Bassin Jewish Detainees Memorial & Information Centre
Raymond Rivet Road, St. Martin's Jewish Cemetery, Beau-Bassin, Mauritius.
Quellen und weitere Informationen:
- The Beau Bassin Jewish Detainees Memorial (engl.)
- Jüdische Gemeinde Mauritius (engl.)
- Ghetto Fighter’s House and Museum (engl.)
- Ausstellung „Boarding Pass to Paradise“ (engl.)
Literatur:
Genevieve Pitot: “Le Shekel Mauricien”. 1940-1945. L'histoire des détenus juifs à l'île Maurice / „The Mauritian Shekel“. The Story of the Jewish Detainees in Mauritius, 1940 until 1945”.
Editions Vizavi, Port Louis/Mauritius 1998.
286 Seiten
ISBN: 978-9990337853
Deutsche Ausgabe:
„Der Mauritius-Schekel“. Geschichte der jüdischen Häftlinge auf der Insel Mauritius 1940-1945
Verlag Hentrich & Hentrich, Teetz und Berlin 2008. Herausgegeben von Vincent C. Frank-Steiner, Basel. Übersetzung aus dem Französischen: Peter Köhler. Mit einem Geleitwort von W. Michael Blumenthal.
253 Seiten, Broschur, 41 Abbildungen
ISBN: 978-3-938485-70-5
Ronald Friedmann: „Exil auf Mauritius. 1940 bis 1945. Das Schicksal emigrierter Juden. Report einer „demokratischen“ Deportation.
Edition Ost, Berlin 1998
ISBN 3-932180-29-1
Dokumentarfilm:
Michel Daëron: La dérive de l’Atlantic (Irrfahrt der Atlantic), 2002,
Produktionsland: Frankreich, Israel, Österreich. Originalsprachen: Französisch, Englisch, Hebräisch, Deutsch, 88 Min.
Soundcloud-Horbeitrag:
The Story of Anna Frank Klein (An audio short story about the life of Anna Frank Klein, a refugee who was detained in the Beau Bassin detention camp in Mauritius. Engl. 3:38 Min.)
YouTube-Videos:
- In the shadows of Beau Basin - Kevin Harris - 2007 (engl. 5:44 Min.)
- In the shadows of Beau Basin - Kevin Harris - 2007 (long version, engl. 47:44 Min)
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