Das Verborgene Museum in Berlin Charlottenburg zeigt bis zum 8. März 2020 rund sechzig Schwarz-Weiß-Fotografien der Wiener Industriefotografin Marianne Strobl (1865-1917).
Die zwischen 1894 und 1917 entstandenen Bilder sind faszinierende Zeitdokumente. Sie belegen die rasante Aufbruchstimmung und den urbanen Wandel der Stadt Wien von der kleinstädtischen Metropole der Habsburger Monarchie zur Residenzhauptstadt eines Kaiserreiches.
Strobl war die erste Frau und Fotografin, die Bildserien von Großbaustellen und Industriebetrieben ablichtete, lange vor der Düsseldorfer Fotokünstlerin Hilla Becher und ihrem Mann Bernd. Die Wienerin stieg mit ihrer Fotoausrüstung in Tunnel und in die Kanalisation, dokumentierte die Stahlkonstruktionen der Gaswerke in Wien-Simmering und Leopoldau, erforschte mit der Blitzlichttechnik die Ötscherhöhlen in Niederösterreich und fotografierte architektonische Innenräume mit posierendem Personal.
Wien war um die Jahrhundertwende eine aufstrebende Metropole der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn und stand in Konkurrenz zu Paris, London und Berlin. Die Stadt, euphorisiert vom Fortschrittsglauben des ausgehenden Jahrhunderts, war eine einzige Großbaustelle: geprägt vom Ausbau des innerstädtischen Verkehr- und Eisenbahnnetzes, von neuen Wohnquartieren, Fabriken und Brücken, von Kanalanlagen und Eisenkonstruktionen. Überall wurde gebaut und gebuddelt!
Mitten drin: Marianne Strobl. Eine junge Frau, die mit ihrer Kamera die städtebauliche Entwicklung dieser als „Wiener Moderne“ bezeichneten Epoche ablichtete. Während sich Kolleginnen auf die gängige Porträt- und Modefotografie konzentrierten, spezialisierte sie sich bereits zu Beginn ihrer fotografischen Laufbahn auf die Dokumentation von Architektur- und Industrieanlagen. Wahrscheinlich, um sich gegenüber der männlichen Konkurrenz behaupten zu können. Sie beherrschte die Technik der Blitzlichtfotografie, die sie anwendete, wenn das Tageslicht oder andere Lichtquellen nicht ausreichten. So nahm sie mit ihrem Blitzlicht-Equipment an einer Höhlenexpedition in den niederösterreichischen Ötscherhöhlen teil, wo spektakuläre Aufnahmen der unterirdischen Gebirgshöhlen entstanden. Sie dokumentierte die Innenräume des Wiener Nobelhotels „Hotel Meißl & Schadn“, das um 1910 errichtete Männerwohnheim in der Wurlitzergasse, die Schuhfabrik in der Kaiserstraße, den Neubau des Reichskriegsministeriums oder die Weinkellerei „Franz Leibenfrost & Co“. Häufig setzte sie dabei den Namen ihrer Auftraggeber werbewirksam in Szene, so das Banner des Betonbauers A. Porr beim Bau des neuen Reichskriegsministeriums oder den Namen der Weinkellerei auf einem der riesigen Fässer.
Das Fotografieren auf dem holprigen Gelände mit der großformatigen Platten-Kamera, dem Stativ und den schweren Glasplatten war beschwerlich und für eine Frau nicht immer leicht zu handhaben. Doch, die taffe und selbstbewusste junge Frau gab nicht auf: Sie akzeptierte diese berufliche Problematik, gründete unter dem Kürzel „M. Strobl. Industrie-Photograph“ sehr erfolgreich ein Fotostudio unter der Adresse Wien IX, Müllnergasse 33, in der Nähe des Praters.
Strobl war bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine gefragte Fotografin, die für Image-Kataloge arbeitete, für Magazine, Illustrierte und Fachzeitschriften fotografierte. Sie erhielt Aufträge von Firmen und Museen, von der Stadt Wien und Privatleuten. Ihr erster Großauftrag war 1895 die Dokumentation von Holzfuhrwerken zu „Typen der Landfuhrwerke der Österr.- Ungar. Monarchie aus der Internationalen Ausstellung für Volksernährung, Armeeverpflegung, Rettungswesen und Verkehrsmittel“. Die 95 Albumin Abzüge - in der künstlerischen Fotografie um 1900 eines der beliebtestes Fotopapiere - mit erläuterndem Begleitheft zeigen die Stabilität der Fuhrwerke, die Achsenaufhängung, die Korb- und Holzaufsätze. Aber auch andere Dokumentationen, wie etwa über den Kanalbau in Wien, über die Wiener Wohlfahrtseinrichtungen oder über eine Höhlenexpedition in Niederösterreich haben sich als mehrteilige Mappenserie erhalten.
Ein sehr prägnantes Fotodokument ist „Arbeit an den Sammelkanälen der Sophienbrücke“ von 1898, das einen fotografischen Blick in das tiefe Erdreich der Großbaustelle gewährt. Diese keineswegs spontane, sondern inszenierte Aufnahme entstand im Auftrag der Baufirma Pittel & Brausewetter. Sie präsentiert etwa sechzig bis siebzig Männer mit Mützen und Schaufeln in den Händen, die in kleinen Gruppen auf und um die gewaltige Baugrube der künftigen Abwasserspeicher der Wiener Kanalisation stehen. Der obere Bildrand zeigt noch Straßenlaternen und Bürgerhäuser. Alle Arbeiter schauen im Moment des Klicks direkt in die Kamera.
Strobl, die sich selbst als „Industrie-Photograph“ bezeichnet hat, war die erste Fotografin in Österreich-Ungarn, die sich in dem von Männern dominierten Metier behaupten konnte. Über ihre Arbeiten während oder nach dem Ersten Weltkrieg ist nichts bekannt, auch ihr Sterbedatum lässt sich nur vermuten: wahrscheinlich starb sie im Februar 1917 in Wien.
Biografischen Angaben zu dieser ungewöhnlichen Fotografin sind eher dürftig: Im Februar 1865 wurde Strobl als Marie Nentwich in Würbenthal (österreichisch Schlesien) geboren, seit Anfang der 1890er Jahre lebte sie in Wien, heirate Josef Strobl (1852-1922), einen Vermessungstechniker im k.u.k. Gradmessungs-Bureau, Wien. Vermutlich erhielt sie im „Club der Wiener Amateur-Photographen“, wo ihr Mann Mitglied war, ihre ersten fotografischen Einführungen. Denn Frauen war das Studium an der 1888 gegründeten „K.K. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproductionsverfahren in Wien“ untersagt. Sie hatten erst ab 1908 Zugang zu der Lehranstalt. Vermutlich durfte Strobl auch das fotografische Equipment und die Dunkelkammer für ihre eigene Arbeit nutzen. In den folgenden Jahren ging sie eigenständige Wege und konnte sich als Industriefotografin etablieren.
Die Wiederentdeckung dieser ungewöhnlichen Fotografin ist für die Fachwelt eine Sensation gewesen. Strobls objektive Bildsprache sowie ihre brillanten und tiefenscharfen Aufnahmen, der Detailreichtum an Menschen, Arbeitern und Baracken oder eingerüsteten Gebäuden ziehen den Betrachter in seinen Bann. Es sind Bilder, welche die Geschichten einer sich rasant verändernden Welt erzählen.
Die hervorragende Ausstellung im Verborgenen Museum in Berlin bietet die Gelegenheit, diese frühe Dokumentarfotografin auch einem deutschen Publikum vorzustellen.
Marianne Strobl – Industrie-Fotografin in Wien
Zu sehen bis zum 08. März 2020 im „Verborgenes Museum“, Schlüterstraße 70, 10625 Berlin Charlottenburg.Die Öffnungszeiten sind Do-Fr 15:00-19:00 Uhr, Sa-So 12:00-16:00 Uhr
Publikation zur Ausstellung
Ulrike Matzer (Hg.): Marianne Strobl, „Industrie-Photograph“, 1894-1914 (Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 15), mit Beiträgen von Ulrike Matzer, Andreas Nierhaus und Hanna Schneck, Salzburg: Fotohof edition, 2017, 156 Seiten mit 136 Abb.
- Weitere Informationen
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- Flyer zur Ausstellung
Abbildungsnachweis:
Header: Weinkellerei Franz Leibenfrost & Co., Wien, ca. 1900, Silbergelatine. (Detail) © Privatsammlung Wien
Galerie:
01. Perrondach-Construction in der Haltestelle „Praterstern“, der Wiener Stadtbahn, 1898, Silbergelatine. © Photoinstitut Bonartes, Wien
02. Einmünd-Ende Sammelkanäle bei der Kammer „Sophienbrücke“, 1898, Albumi. © Photoinstitut Bonartes, Wien
03. Pawlatschenhof des Hauses Mariahilfer Straße 47, Wien, Albumin. © Photoinstitut Bonartes, Wien
04. Zuckermagazin in Mohac, 1914, Silbergelatine. © Photoinstitut Bonartes, Wien
05. Ötscherhöhlen, Steintisch am Fuße der Schutthalde des linken Ganges, 1901, Silbergelatine. © Photoinstitut Bonartes, Wien
06. aus: Die Oetscherhöhlen (Album), 1901, Eisdom vom rechten Gang aus gesehen, Silbergelatine. © Photoinstitut Bonartes, Wien
07. Aus der Serie: Typen der Landesfuhrwerke der Österr.-Ungar. Monarchie, 1894, Albumin. © Photoinstitut Bonartes, Wien
08. Kinderball am 5. März 1905, Wien 1905, Albumin. © Photoinstitut Bonartes, Wien
09. Aus dem Album: Meißl & Schadn, Hoteldokumentation, 1895, Albumin. © Photoinstitut Bonartes, Wien
10. Bau der Schuhfabrik Sucharipa, Wien, 1911/12, Silbergelatine. © Photoinstitut Bonartes, Wien
11. Mitarbeiter des Ateliers von Marianne Strobl bei der Arbeit in der Villa von Victor Silberer, um 1898, Mattkollodium, aus dem Album: Unser Heim am Semmering. © Gemeinde Semmering.
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