Sommerfestival auf Kampnagel
Es gibt wohl kaum ein Festival in diesem Jahr, das sich nicht neu erfinden musste. Keine Bühne, die unter Covid-19-Sicherheitsauflagen fast zusammengebrochen ist, besonders im Bereich der privaten Theater.
Das Virus hat die Theater in Ihrem Kerngeschäft, dem Herstellen von kultureller Verständigung, dem Suchen nach Antworten auf gesellschaftliche Konflikte, dem Entwickeln neuer Sprachen, Bilder und Töne im Dialog mit Publikum und Kritik fünf Monate lahmgelegt. Und so gleicht es einem Wunder, dass Hamburgs Bühnen pünktlich zum Spielzeitbeginn den Sprung aus Zoom-Konferenzen und digitalen Angeboten zurück in die Begegnung mit dem Publikum wagen - wenn auch unter völlig veränderten Vorzeichen.
Das Hamburger Sommerfestival lieferte vergangene Woche, wie immer im August, den Auftakt. „Anfang März haben wir unser fertiges Programm umgeschmissen“, sagte Festivalleiter András Siebold auf der Pressekonferenz im Festival-Garten, „und seitdem haben wir bestimmt vier Festivals konzipiert“. Allein für die Schutzmaßnahmen entwickelte man ein 42seitiges Sicherheitskonzept. Das Motto war: „Auf Sicht fahren“. Eine mutige Entscheidung. Und Kultursenator Carsten Brosda sekundierte in seiner Grußrede zur Eröffnung: „Theater ist, wenn man trotzdem spielt“.
Nun findet das Festival seit vergangener Woche unter verschärften Einlassbedingungen in den drei Hallen vor einem Viertel der hineinpassenden ZuschauerInnen statt, mehr Platz gibt es vor den drei Bühnen im Festival-Avant-Garten, bei Projekten in der Stadt wie auch im digitalen Raum „jenseits der Zoom-Fatigue“, die sich bei manchen eingestellt haben mag, verspricht Siebold. Die Folgen sind schon absehbar. Wer das übliche Festivalgetümmel und Geratsche bei Speis und Trank auf dem sorgfältig präparierten Außengelände nach den Vorstellungen sucht, wird enttäuscht. Ein weiteres Corona-Opfer: Die heißen Clubnächte im Musikprogramm – gestrichen.
Die strenge Reduktion auf Produktionen ohne Einreiseprobleme und mit Abstand hat indes einen kathartischen Effekt. Selten sind Themen so radikal zugespitzt und so kompromisslos auf unsere Gegenwart gerichtet wie auf diesem Sommerfestival. Etliche der nun eingeladenen Produktionen entstanden unter Corona-Bedingungen oder beschäftigen sich damit.
Schon die Eröffnung mit Florentina Holzingers „Tanz“, lässt all die versöhnlichen und manchmal zu gut gemeinten Eröffnungen bisheriger Sommerfestivals vergessen.
Ursprünglich war dieses in Wien uraufgeführte Spektakel zum abgesagten Theatertreffen nach Berlin eingeladen worden. Jetzt hatten die Hamburger die Ehre, stattdessen Gastgeber zu sein für dieses hochgelobte, verstörende und provozierende Werk der künftigen Volksbühnen-Choreographin. Dafür musste die Truppe gemeinsam in Dauerquarantäne aufs Land und durchgetestet werden. Florentina Holzinger verwandelt eine beinahe harmlose Ballettstunde mit John Neumeiers ehemaliger Primaballerina, der nackten Beatrice Cordua (79) in einen bluttriefenden, zugleich trashigen und hochakrobatischen Hexensabbat. Es sind die dunklen Seiten romantischer Ballette wie Schwanensee oder der Luftgeister in „La Sylphide“, die Holzinger mit scheinbar naivem Forschergeist aufspürt. Wie kommt es zur Mystifizierung des Todes im Weiblichen, dem Sterben in Schönheit? Und sie probiert alles aus, was man Körpern von Tänzerinnen, auch dem eigenen, zumuten kann und im Namen des Balletts zugemutet hat. Dem Aufhängen an den Haaren, dem Turnen auf Motorrädern im Bühnenhimmel, sexuelle Übergriffe bis hin zum getricksten und schließlich realen Durchbohren der gepiercten Haut an den Schultern einer Tänzerin, die daran hochgezogen wird, bis sie einige Meter über der Bühne schwebt. Holzinger spielt, wie schon in ihren früheren Arbeiten, mit der Unerträglichkeit solcher Bilder und löst sie paradox auf, indem der Schwebenden ein Besen gereicht wird und sie damit laut lachend hin und her schwingt. Ein wenig fühlt man sich dabei, als ob man Kindern zuschauen muss, wie sie Fliegen die Beine ausreißen und Frösche aufblasen. Und sie anschließend davonfliegen und hüpfen. „Tanz“ ist der dritte Teil von Holzingers Körper-Trilogie und ihre Abrechnung mit den sexistischen Klischees der Romantik. Die Feier des Banalen, der Horrorshow und der Zirkusnummern, wird hier gegen sich selbst gerichtet, entmystifiziert, und damit zur Waffe der Selbstbehauptung von Frauen.
Auf Du und Du mit dem Dreck
Dem Tod, allerdings auf Corona-kompatible Weise, nähert sich auch der britische Performer Kim Noble. Er betrachtet das Sterben, in dem er sich auf Du und Du mit dem Dreck, den toten Hüllen, gebratenen Hühnern, Staub und Müll, Opfern von Kammerjägern, Verwesung, also den konkreten Resten vergangenen Lebens begibt und von hier aus auf das Leben schaut: auf die, die sich von diesen Resten ernähren. Er steht ganz allein auf der Bühne mit einem ausufernden technischen Equipment und spielt mit Videos und merkwürdigen kleinen Installationen. Auch ein Bild der Isolation in Zeiten der Pandemie.
„Lullaby for Scavengers“ heißt seine Work-in Progress-Performance. Traut man den Videos, die er zeigt, dann hat er in einem Selbstexperiment als Aasfresser versucht wie ein Eichhörnchen in einem Wald zu überleben. Oder sich mit Fuchskot eingerieben und in das Fell eines überfahrenen Fuchses gehüllt, um dessen verwaiste Nachkommen aus ihrer Höhle zu locken, auf einem zugemüllten Brachland in seiner Nachbarschaft.
Hingebungsvoll spielt er mit einem präparierten Eichhörnchenfell, das er wie eine Handpuppe benutzt und sprechen lässt, und mit einer Made, die er aus einem madenwimmelnden Abfalleimer befreit und in ein Weckglas gesteckt hat. Er nennt sie Johnny und sie ihn Dad, mit seiner verstellten Stimme. Und wie ein richtiger Vater zeigt er ihr, so behauptet sein Video, die Welt - eingeklemmt zwischen Daumen und Zeigfinger. Das House of Parliament in London, seinen Putzjob in einer Versicherung, die er heimlich mit Kameras ausspioniert oder das Klo bei einem betagten Kunden, dessen Staubsaugerbeutel er mit nach Hause nimmt. „Siebzig Prozent der Füllung sind menschliche Reste“, erklärt er Johnny, „Hautpartikel zum Beispiel“. Zusammengebastelte Szenen der Selbstbefriedigung folgen. Wie ist das, wenn man sich sein Gegenüber nur denken kann? Kim Noble kommentiert: „Explain ‚love’ to a maggot.“
Sein skurriler und sehr komischer Zusammenschnitt von Live-Szenen und Videos ist auch ein persönlicher Abschied. Immer wieder zeigt Noble Familienfotos und Szenen vom Krankenbett und schließlich vom Tod seines Vaters. Der ganze Abend ist ein tastendes Suchen nach dem, was sich festhalten lässt und gerade dadurch verwandelt, wie die Made Johnny in eine Fliege. Noble nimmt sich liebevoll der Reste an, dem Gekrümel von Augenblicken, die auf Bildern bleiben. Den Staubsaugerbeutel schickt er am Ende ins All. Man darf gespannt auf den progress sein.
Internationales Sommerfestival 2020
noch bis 29. August 2020, Kampnagel Hamburg, Jarrestraße, Hamburg
Neben den vielen sehenswerten Angeboten des Sommerfestivals, darunter der „Willy Brandt-Test“ der Wiener Performancegruppe Nesterval für die, die zu Hause bleiben wollen, auf Zoom, läuft diese Woche noch das Stück zur Stunde, „Virus“ von Yan Duyvenak, in einer Deutschlandpremiere, und „Show Me a Good Time“, als Live-Übertragung der filmenden Performerinnen der Gruppe Gob Squad in den Theatersaal. In der nächsten Woche gibt es eine Uraufführung der portugiesischen Choreographin Marlene Monteiro Freitas.
Vollständiges Programm auf www.kampnagel.de
Kartentelefon: +49 (0)40 270 949-49
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment