Nach langer Zeit besinnt sich das Altonaer Museum wieder auf seine großartige Sammlung an Künstler*innenpostkarten und gibt mit einer kleinen, aber feinen Auswahl von 150 Exemplaren Einblick in die Spielarten des Genres: „Vista Points – Postkarten von Kirchner bis Beuys“.
„Schreib bald mal, Du verfluchter Hund. Wann kommst du zurück? Gruß, Dein Ernst“. Rau aber herzlich waren die Botschaften, die sich die beiden Brücke-Künstler Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel zu Beginn es 20. Jahrhunderts sandten. Die dazugehörigen Zeichnungen und Malereien wirken selbst aus heutiger Sicht ausgesprochen freizügig: Café-, Varieté- und Theater-Szenen, auch mal Landschaften, mit Vorliebe jedoch weibliche Akte in allen Lebenslagen, ob im Atelier, beim Baden oder in der Sommerfrische.
Die Sehnsucht nach naturnahem Leben, abseits von Normen und Zwängen, verband die Gruppe der Expressionisten, die schließlich nicht ohne Grund die „Wilden“ genannt wurden. Sie rebellierten nicht nur gegen den strengen Akademiebetrieb, sie lehnten sich gegen das ganze Establishment auf. Ihre Aufenthaltsorte hielten sie ebenso spontan und ungefiltert fest, wie ihre künstlerischen Standpunkte („Vistapoints“), zeichneten ihre Musen und Modelle, mitunter auch sich selbst, wie in einem Rausch.
So illustrierte Kirchner seine Sehnsucht nach dem Freund, dem „verfluchten Hund“ 1909, indem er sich ausgelassen tanzend in seinem neuen Dresdner Atelier porträtierte. Nackt, wohlgemerkt. Erstaunlich, dass Akte, obwohl sie seit der Antike zum klassischen Kanon der Kunstgeschichte zählen, auf Postkarten immer noch leicht anstößig wirken.
Was für eine Provokation muss also ein tanzender nackter Mann zur Kaiserzeit auf einer Postkarte gewesen sein?! Wo doch wenige Jahrzehnte zuvor noch ein offen einsehbarer Text als unsittlich galt, als Verstoß gegen die Privatsphäre. Erst 1870 wurde die Postkarte erlaubt, zunächst ausschließlich zum Versenden von Textnachrichten. Mit der Entwicklung der Fotografie kamen um 1900 dann auch Bildpostkarten als Massenartikel in den Handel, gleichzeitig zu den individuell gestalteten Grußbotschaften kreativer Geister. Vor allem die Mitglieder der „Brücke“ und des „Blauen Reiters“ waren Meister dieses Faches. Bis zu dreimal täglich schickten sie kleine Grußbotschaften an Freund*innen, Sammler und Förderer. Die mit Tusche, Wachskreide, Aquarell oder Grafit rasch und intuitiv auf das Papier geworfenen Skizzen der Expressionisten (u.a. auch von Franz Marc, Otto Dix, August Macke und George Grosz) gehören zu den größten Postkarten-Schätzen des Altonaer Museums, das mit rund 1,5 Millionen Exemplaren (davon etwa 2000 Künstlerpostkarten) eine der größten Postkartensammlungen Deutschlands besitzt.
Einen zweiten Schwerpunkt bilden Feldpostkarten aus einer Privatsammlung: Der Hamburger Werbegrafiker und Illustrator Fred Hendriok (1885-1942) arbeitete im Ersten Weltkrieg als Redakteur für eine Armeezeitung an der Ostfront und schickte von dort aus regelmäßig (bemüht humoristische) Selbstporträts und Lageberichte an seine Verlobte. Sicher kein Zufall, dass die Kurator*innen, Verena Fink, Fabian Ludovico und Nicole Tiedemann-Bischop, die 2006 ins Museum gelangte Sammlung in diese Ausstellung einbezogen, denn Hendrioks Schilderungen, insbesondere die eines „neugebackenen Rekruten… kaum aus den Kinderschuhen heraus“, wirken angesichts des Krieges in der Ukraine beklemmend aktuell.
Drumherum eine Vielzahl von Postkarten namhafter und weniger namhafter Künstler*innen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit der Verflechtung von Text und Bild spielten (Anita Rée, Horst Janssen), Karten als Massenkunst ganz bewusst gegen das Unikat stellten (Klaus Staeck), sie in Materialien wie Filz und Holz übertrugen (Joseph Beuys, Jenny Holzer) oder mit dem Postkarten-Archiv des Altonaer Museums arbeiteten, um puzzleartig neue Wirklichkeiten auf neuen Bildträgern zusammenzusetzen (Andreas Slominski).
Kurz: Eine sehenswerte Ausstellung, der ein etwas intimerer Raum als dieser karge „Bunker“ im Erdgeschoss gutgetan hätte. Wer übrigens all die Postkarten lesen möchte: Ein Katalog mit transkribierten Texten liegt bereit.
„Vistapoints – Postkarten von Kirchner bis Beuys aus der Sammlung des Altonaer Museum“
Zu sehen bis 29. Mai 2023 im Altonaer Museum, Museumsstraße 23, 22765 Hamburg,
Öffnungszeiten: Montag 10 bis 17 Uhr, Dienstag geschlossen, Mittwoch bis Freitag 10 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18 Uhr
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