Was ist das Erbe unserer Städte? Welches sind die Denkmäler, Plätze und Räume, in denen sich dieses kumuliert, und durch welche Verfahren und Methoden wird es geformt, weitergegeben und sich angeeignet?
Der 1961 geborene und seit 2012 an der Universität Bamberg (Lehrstuhl für Denkmalpflege) lehrende Gerhard Vinken hat sich über einen Zeitraum von über 15 Jahren mit den Fragen beschäftigt, wie sich kulturelle Identität in Städten und welche denkmalpflegerischen Werte sich für die Gesellschaft entwickelt. Er fokussiert spezifisch zwölf internationale und nationale Metropolen und Städte.
In der rein englisch-sprachigen transcript-Publikation „Zones of Tradition. Places of Identity” geht es in sechszehn Kapiteln generell um Stadt- und Kulturforschung, urbanes Erbe und denkmalpflegerisches Handeln in einem globalen Zusammenhang. Das Buch wirkt wie eine Sammlung verschiedener Artikel, die bereits in deutscher Sprache in verschiedenen Fachmagazinen publiziert wurden. Aufbereitet und übersetzt ergeben sie nun einen wesentlich weiteren, internationalen Einblick in die Materie und eine Vergleichbarkeit.
Zwar stehen bei den Beispielstädten Deutschland und Europa im Mittelpunkt, etwas Nord- und Südamerika schließen sich an und als einzige asiatische Stadt ist Tashkent erwähnt, es fehlen jedoch Stadtportraitkapitel der anderen Kontinente. Dadurch wirkt die Aufarbeitung nicht überzeugend global, aber immerhin beispielhaft.
Das erste Kapitel The Heritage of Cities ist wie eine Einführung verfasst, geht Begriffsklärungen nach und teilt die Stadt in Zonen, der der historischen Distrikte und jenen die Modernität definieren. Wie stark emotionale Bindungen zu Orten und Gebäuden sind, wird ebenso thematisiert wie die Unwirtlichkeit unserer heutigen Städte.
Im zweiten Kapitel, dem ein Zitat aus „Different Spaces“ (1967) von Michel Foucault vorangestellt ist geht es um Räume. The Crises oft the Modern City zeigt die Dilemmata des 20. Jahrhunderts, die sich nicht nur in der Theorie gestalteten und hochtrabende Zukunftsvisionen postulierten in dem vermeintlichen Wissen, wie Menschen zukünftig leben würden, sondern auch an realen Wachstumszahlen, räumlichen Ausdehnungen mit allen Eingemeindungen und den Auswirkungen auf Sozialverhalten von Einwohnern und dem Verlust von Identität. Das Limit setzt jede einzelne Begrenzung im zu groß, zu unüberschaubar zu viel, zu dicht neben- und übereinander.
Zerstörung durch Kriege und Umweltkatastrophen zielen auf Neuplanungen ab und dem sorgfältigen Abwägen zwischen Historie und Modernität und Zeitgenossenschaft eine dauerhafte Definition zu erhalten.
Um Unverwechselbarkeit durch das Erbe in seinem eigenen Reproduktionsmodus geht es im nächsten Kapitel The Distinctiveness of Cities. Wie stark sich das Gedächtnis von Gesellschaften und Landschaften in der Disposition von Städten manifestiert, trifft auf die Forschungsproblematiken, was eigentliche „lokal“ sei, was Dauerhaftigkeit ausmacht und wie sinnhaft Reproduktionen sind in einer sich immer mehr verschränkenden Welt. Die globale ästhetische architektonische Sprache wirkt sich gleichermaßen kontraproduktiv (Massenbauten) wie produktiv (Einzelmonument) auf Unverwechselbarkeit aus.
The Spaces of the Monument heißt das vierte Kapitel. Vinken widmet sich den Monumenten wie der Klagemauer in Jerusalem, der Notre Dame in Paris, Friedrich Schinkels Studien zur Zisterzienser-Abtei von Chorin und dem heutigen Museum Barberini am Potsdamer alten Markt und deren historische Zusammenhänge. Die Mehrzahl seiner Beispiele waren ursprünglich in komplexen Ensembles integriert, sind nunmehr jedoch als Einzelmonumente scheinbar im urbanen Zusammenhang monolithisch herausgehoben.
Mittelalterliche Karte von Paris. Gemeinfrei. Foto: Gordon Johnson
Ab dem fünften Kapitel geht es auf Reisen. Der Autor untersucht nun spezifisch unter drei Oberthemen (Zoning the City. Heritage und Modernity / Doing Tradition. Heritage Politics and Identity-Builing / Reclaiming Heritage. Conflict, Contestation, Canonization) örtlich-räumliche, kulturelle, politische und historische Merkmale in zehn einzelnen Städten:
Exemplarisch steht dafür Conflicting Relations – Taschkent, Hauptstadt Usbekistans, mit seiner Mixtur aus traditionellen islamischen Baustilen, jenen aus der Sowjetzeit und dem heutigen Streben eine globale zeitgenössische Stadt zu etablieren und deren Mischung untereinander. Anhand dieser 2.5 Millionen Einwohner zählenden Metropole lassen sich Konflikte und Konfliktpotentiale deutlich machen, u.a. auch in Hinblick auf die Kolonialisierung und darauf, wie weit die heutigen Repräsentationsbauten von den sozialistischen Wohnbauten und deren Einwohnern entfernt sind. Letztendlich ist das eigentliche Erbe dieser Stadt die politische Instrumentalisierung und Vormundschaft durch architekturgewordenen Mechanismen der Kontrolle und Repression.
Hotel Uzbekistan mit Fassadenmuster aus der Sowjetzeit. Foto: Marin Fey
Es folgen in weiteren kurzen Aufsätzen The Heimat Zone – Basel, Zoning in America – New York und Size Matters – Düsseldorf.
Das zweite Oberthema ist europäisch konnotiert: Island of Tradition – Köln, Monumental Revision – Berlin, Clone City – Frankfurt/M. und auch hier exemplarisch herausgestellt: A Dark Legacy – Palermo. Der auf einem Besuch des Autors in Palermo im Jahr 2019 beruhender und mit eigenen Fotos versehener Beitrag fokussiert neben den allgemein historischen Fakten der Stadt insbesondere die diversen Kulturen und sozialen Gegebenheiten der sizilianischen Stadt. Wie auch bei anderen Aufsätzen in dieser Publikation plädiert Vinken dafür die Herrschaftssysteme zu hinterfragen und die Öffentlichkeit stärker in eine Engagement-Rolle zu bringen. Gemeinsam und im Austausch mit den Bewohnern Entscheidungen zu treffen, sei der konstruktive Weg, um die Werte und Vorstellungen von historischem Erbe zu befördern. Gerade auch in Hinblick auf den Begriff Nachhaltigkeit. Wobei sich daraus die Frage ergibt, wie sich grundsätzlich und permanent wandelte Städte und Nachhaltigkeit gerade in Bezug auf individuelle Existenzen tatsächlich vertragen.
Blick auf Palermo. Foto Tomas Anton Escobar
Das letzte und dritte Oberthema beschäftigt sich mit der Frage, wie Erbe zurückzufordern sei und welche Konflikt-, Anfechtungs- und Kanonisierungsmodi bestehen. Anhand von vier Städten: Palermo, New York, New Orleans und Salvador de Bahia werden Identitätsmuster vom Autor abgeklopft. Das ostbrasilianische Salvador de Bahia hat einerseits den historischen Charme einer kolonisierten Architektur und gleichzeitig afrikanischen Farbigkeit, andererseits das Dilemma einer strikten Gentrifizierung in bestimmten ärmeren und ursprünglichen Quartieren und eines immer größer wachsenden Business-Zentrums. In diesem Spagat der historischen Blickwinkel, gepaart mit heutigen touristischen- und Marketingforderungen im Dreiklang zwischen Karneval, Fußball und Stränden.
Salvador de Bahia; historisches Stadtzentrum. Foto: soel84
Die Geschichte als einstige Hauptstadt (bis 1763) des portugiesischen Koloniallandes, Drehkreuz des südamerikanischen Sklavenhandels (inbesondere verbunden mit einem anderen portugiesischen Kolonialland: Angola), heutigem Handels- und Wirtschaftszentrum mit einer Erdöl- und Zuckerraffinerie sowie Baumwoll-, Tabak- und Kakaoverarbeitung ist komplex und prägend. Interessanterweise ist es gerade das historische Zentrum Bahias, das von der Bevölkerung besonders als identitätsstiftend angesehen wird. Straßencafés und -küchen, Musikdarbietungen oder Capoeira-Demonstrationen und touristische Verkaufsstände beleben tags- und nachtsüber diesen Ort. Den Erhalt dieser starken Bindung und Nutzung des öffentlichen Raums, die Pflege der Gebäude und der vielen Schichten unterschiedlicher kultureller, sozialer Äußerungen, gilt es zu bewahren, postuliert der Autor.
„Ich bin davon überzeugt“, sagt Denkmaltheoretiker Gerhard Vinken zu seinem Buch, „dass Fragen des kulturellen Erbes Zukunftsfragen sind, die über den Zusammenhalt pluralistischer Gesellschaften entscheiden. Mein Anspruch ist es, eine politische Geschichte des Kulturerbes mit dem Schwerpunkt Deutschland zu schreiben und Schlüsse daraus zu ziehen, die für die Politik relevant sind.“
In diesem internationalen Rahmen ist dieses Publikationswerk ein wichtiger Beitrag mit unterschiedlichen Tiefenschärfen und einer überzeugenden präzisen und durchaus auch politischen Analyse. Sein Fokus trifft auf jene kommenden Frage- und Antwortstellungen zum architektonischen, städtebaulichen und kulturellen Erbe unserer Städte.
Gerhard Vinken: Zones of Tradition. Places of Identity
Übersetzung: Graeme Curry
Transcript Verlag, Bielefeld
Engl. 324 Seiten, 130 S-W-Abbildungen
ISBN 978-3-8376-5446-2
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