Wie in einem Prisma spiegeln sich im Haus Michaelsen auf dem Elbhang über dem Falkensteiner Ufer in Hamburg hundert Jahre Zeit- und Kulturgeschichte, von seinem Bau 1923/24 bis heute.
Das besondere Zusammenspiel von Landschaft und Architektur macht diese Inkunabel der Moderne zu einem Kunstwerk. Im Dölling und Galitz Verlag ist jetzt ein Buch erschienen, in dem ein Autorenteam versucht, sich über die Themenfelder Landschaft, Architektur und Bewohner diesem Haus anzunähern und seine Geschichte zu erzählen.
Ein Haus im Park, das hat im Hamburger Westen eine lange Tradition. Auf den ersten Blick scheint sich das Haus Michaelsen in diese Tradition einreihen zu wollen, doch gleich auf den ersten Seiten beschreibt der Gartendenkmalpfleger Heino Grunert, dass es sich davon unterscheidet. Anders als üblich steht das Haus weit entfernt von der Erschließungsstraße auf einer oder besser: an einer Hügelkuppe ganz nah am Geesthang und bietet so einen atemberaubenden Blick über das Elbtal. Es ist in seiner Form ganz auf die Landschaft bezogen. Von einem fast quadratischen, dreistöckigen Turm mit Dachterrasse gehen im rechten Winkel zwei Gebäudeelemente jeweils nach Süden und Osten. Nur innerhalb dieses Winkels gibt es einen kleinen privaten Garten.
Mit seinen weiß geschlemmten Ziegelmauerwerk entspricht das Haus regionalen Gepflogenheiten, auch mag das mit grauen Pfannen gedeckte Walmdach des Wohnflügels, der Richtung Osten zeigt, manche Betrachtende dazu verführen, hierin noch ein traditionelles Element zu erblicken. Doch die Dachform bezieht sich auf den Verlauf der Hügelkuppe, nicht auf die Tradition. Die gebogene Scheibe am gerundeten Ende des Gebäudeflügels war Anfang der 1920er Jahre eine Extraanfertigung aus England und bietet einen einprägsamen und mehrmals fotografierten Ausblick elbaufwärts – vorausgesetzt, der Hang ist nicht zugewachsen.
Der dazu im rechten Winkel stehende Gebäudeteil Richtung Süden – der Turm bildet das Gelenk – besteht aus zwei versetzt übereinander liegenden Stützmauern, die den Hügel halten und als Terrassen genutzt werden. Auch sie enden wie ihr Pendant Richtung Süden in einem Halbrund.
Und dann der Blick ins Elbtal – Karl Schneiders Landhaus Michaelsen in Hamburg. © Dölling u. Galitz Verlag GmbH
Das Haus wird immer mal wieder mit einer Komposition verglichen und seine raumgreifende Wirkung mit einer Umarmung, als mache es eine Geste. Das Buch vermittelt die besondere Ausstrahlung seiner Architektur durch zahlreiche Abbildungen und einer Fülle von Fotos. Im Laufe der Jahrzehnte haben Bewohnerinnen, Besucher und Fotografen das Haus aus den unterschiedlichsten Perspektiven dokumentiert, seine Ausblicke und die jahreszeitlichen Stimmungen festgehalten. Zuletzt sind Drohnenaufnahmen entstanden, die noch einmal seine eingebettete Lage in der weitläufig umgebenen Landschaft betonen. Dazu kommen zahlreiche Beschreibungen von Karl Schneiders Zeitgenossen, von fast alle Autoren zitiert: denn dieser Ort fasziniert schon seit hundert Jahren.
Frank-Pieter Hesse, Denkmalpfleger und Architekt, beschreibt die Entwicklung der Außenanlagen, ein Aspekt, der bisher in der Forschung vernachlässigt wurde. Seine anschauliche Analyse umfasst zunächst die reduzierte, ganz auf den Blick in die Elblandschaft zielende Gestaltung der Anfangsjahre und ihre annähernde Wiederherstellung 1985. Eher üppig-romantisch wirkte dagegen der Garten der Familie Werdermann, die ab 1933 über zwei Jahrzehnte das Haus bewohnte. Hesse spricht hier von „bürgerlichen Stimmungsbildern“, die geschaffen wurden. Schließlich beauftragte Axel Springer 1956 den Gartenarchitekt Gustav Lüttge mit der Anlage des heutigen Sven-Simon-Parks. Lüttge gestaltete darin eine Wegeverbindung zwischen einem geplanten Neubau anstelle von Haus Michaelsen und Springers nördlich benachbartem Wohnhaus.
Zum ersten Mal wird in diesem Buch die Geschichte der Bewohnerschaft von Haus Michaelsen erzählt. Der Autor und Journalist Matthias Gretzschel folgt den Verästelungen der Lebenslinien seiner Bauherrin Elise Helene (genannt Ite) Michaelsen sowie der späteren Mieter und Eigentümer. Schon 1928 zog Ite Michaelsen ins Tessin und vermietete ihr Elbdomizil an den Maler Fritz Kronenberg, der dann während der NS-Herrschaft nur noch sehr eingeschränkt arbeiten konnte. „Durch Weisheit wird ein Haus gebaut, Umsicht gewinnt es an Bestand“ beginnt Gretzschel seinen Artikel, zitiert aus dem 24. Kapitel der Sprüche Salomons. Das gilt hier im besonderen Maße, denn Axel Springer, ab 1955 Eigentümer, wollte das Haus abreißen, vergaß es aber dann und ließ es zur Ruine verkommen. Schließlich schenkte er es 1980 der Stadt. Die Bedeutung seines „Geschenks“ war ihm offensichtlich nicht bekannt.
Der Architekturpublizist und -historiker Gerd Kähler setzt sich mit der Architektur des Hauses im Kontext der Moderne auseinander. Er liefert kennerhaft-flapsig einen kursorischen Abriss der Geschichte der Moderne und beschreibt nochmal die bekannten Einflüsse von Frank Lloyd Wright und De Stijl auf Karl Schneiders Architektur. Dazu erfährt man interessante Details über die Sanierung der Ruine durch Volkwin Marg. So hatte Axel Springer zwar das Haus verfallen lassen, aber rechtzeitig die gebogenen Scheibe des Ostflügels ausgebaut und sie jahrelang sicher aufbewahrt. So konnte Volkwin Marg sie schließlich wieder einbauen.
Das Haus Michaelsen ist eines der ersten modernen Häuser in Deutschland, eine Pioniertat des Neuen Bauens und eines der meistpublizierten Werke von Karl Schneider. Er entwarf und baute es in enger Zusammenarbeit mit der Bauherrin Michaelsen in den Jahren von 1922 bis 1924, eine Krisenzeit der Weimarer Republik mit einer legendären Inflation. Offensichtlich verfügte der Ehemann von Ite, der Fabrikant Herrmann Michaelsen, über Devisen, vermutlich US-Dollars. Kennengelernt hatten sich Architekt und Bauherrin über den Bildhauer August Henneberger, der Ite privat unterrichtete.
Karl Schneider hatte über einen Freund Zugang in das Haus von Henneberger in Othmarschen gefunden. Er war gerade 30 Jahre alt und stand am Anfang seiner steilen Karriere, die ihn zu einem international bekannten Vertreter des Neuen Bauens machte – bis 1933. Als sogenannter „Kulturbolschewist“ von den Nationalsozialisten verfemt und verfolgt, verlor er seine Professur an der Landeskunstschule Hamburg und alle Bauaufträge. Er starb 1945 mit 53 Jahren im Exil in Chicago. Obwohl Karl Schneider in Hamburg zahlreiche Bauten hinterlassen hatte, wurde er langsam vergessen. So geriet auch das Haus Michaelsen aus dem Blickfeld und drohte als lästige Ruine fast abgerissen zu werden.
Es ist der Galeristin Elke Dröscher zu verdanken, dass es noch steht. Nach einer abenteuerlichen Sanierung mit höchst begrenztem Budget eröffnete sie 1986 darin ihr Puppenmuseum auf dem Falkenstein. Mit Leidenschaft und Hingabe hat sie es bis heute erhalten und bekannt gemacht. Elke Dröscher erzählt die Geschichte der Rettung im Epilog und schließt mit der Hoffnung, „dass dieses wichtige baukulturelle Erbe auch in Zukunft bewahrt und erhalten wird.“ Für diese Aufgabe nimmt Klaus von Dohnanyi in seinem Grußwort die Politik in die Pflicht. Dohnany war von 1981 bis 1988 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg und unterstützte damals Dröschers Engagement. Jetzt wünscht er Hamburgs Politik „… den Mut und die Weitsicht, mit der einst Elke Dröscher voranging.“
Mit diesem Anfang und Ende kann man das Buch als einen Appell verstehen, der hoffentlich gehört wird. Es ist randvoll mit Geschichte und Geschichten, unterhaltsam geschrieben, und bietet mit seiner Bilderwelt einen breiten Fächer von Stimmungen rund um das Haus Michaelsen. Das ist ein schönes Erlebnis, kann aber einen Besuch dieses Kronjuwels Hamburger Baukultur nicht ersetzen.
„Und dann der Blick ins Elbtal … Karl Schneiders Landhaus Michaelsen in Hamburg“
hrsg. Von Elke Dröscher und Heino Grunert,
Dölling und Galitz Verlag Hamburg 2023
152 Seiten, 160 Farbabbildungen
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