Architektur
Muehlenpfordt – Neue Zeitkunst. Reformarchitektur und Hochschullehre luebeck behnhaus

Eine Ausstellung im Lübecker Behnhaus gibt die Gelegenheit, über das Verhältnis von Tradition und Moderne in der Architektur nachzudenken.

Eigentlich ist er nicht einmal eine lokale Berühmtheit, weder in Lübeck, wo der Architekt die meisten seiner Bauten errichtete, noch in Braunschweig, wo er von 1918 an als Hochschullehrer arbeitete – aber Carl Mühlenpfordt (1878-1944) hat Großartiges geleistet, wie eine kleine Ausstellung im Erdgeschoss des Lübecker Behnhauses zeigt, und zumindest die Lübecker werden nicken, wenn sie die Fotos und Entwürfe seiner Bauten sehen. Es sind nämlich wichtige Gebäude dieser Stadt, die fast jeder kennt. Ergänzt wird die Ausstellung durch einige sehr schöne Bilder seiner Frau, der in Lübeck geborenen Malerin Anna Dräger-Mühlenpfordt (1887-1984). Vier großformatige Ölgemälde – drei davon zeigen die Marienkirche – sind vielleicht sogar der Höhepunkt der Ausstellung. Mit anderen Worten: Der Besuch lohnt sich.

Der Untertitel – „Reformachitektur und Hochschullehre“ – gibt den Inhalt der Ausstellung präzise wieder. Als Dozent in Braunschweig scheint Mühlenpfordt so etwas wie eine Schule gegründet zu haben, durchaus in Konkurrenz zum Bauhaus, das in der Rückschau die zwanziger Jahre dominiert und für die Tradition sicherlich weniger Sinn besaß als die Braunschweiger. Wie Olaf Gisbertz, der Herausgeber des Kataloges und gleichzeitig der Kurator der Lübecker Ausstellung, in seiner Einleitung schreibt, war die Geschichte der Architektenausbildung in Braunschweig der Anlass, sich mit Mühlenpfordt zu beschäftigen. Im Katalog wird Mühlenpfordts Tätigkeit in Braunschweig allerdings wesentlich ausführlicher als in der Ausstellung behandelt.

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Hervorragend dokumentiert ist seine Tätigkeit in der Lübecker Bauverwaltung, die ihm die Gelegenheit zu zahlreichen Arbeiten gab; der Katalog bietet ein immerhin zehn Seiten umfassendes, bereits 1950 angefertigtes Werkverzeichnis seiner Bauten zwischen 1903 und 1942. Nach Beendigung seiner Zeit in Braunschweig – mit der nationalsozialistischen Verwaltung der Stadt hatte er Probleme wegen seiner liberalen politischen Ausrichtung – ging er nach Lübeck zurück, wo er zunächst für das Drägerwerk Fabrikbauten entwarf, später, nach der Zerstörung der Altstadt, Entwürfe für deren Wiederaufbau zeichnete. Aber tatsächlich bauen lassen konnte er dann nicht mehr, denn bereits 1944 erlitt er einen Schlaganfall, so dass er den Krieg nicht überlebte.

Besonders wichtig war seine Mitarbeit an Aus- und Weiterbau der „Heilanstalt Strecknitz“, einer psychiatrischen Anstalt, die sich im Laufe der Jahrzehnte zunächst in die Medizinische Akademie Lübeck und 2002 in die Medizinische Universität Lübeck verwandeln sollte. Der Blick des von ihm gezeichneten markanten Turms verfolgt den Besucher über das ganze Gelände. Für mich selbst nannte ich ihn immer einen Uhrenturm, aber tatsächlich handelt es sich um einen Wasserturm, und dazu heißt das Gebäude, wie man aus dem Katalog lernen kann, seiner weiteren Funktionen wegen „Gesellschaftshaus“. Aber mindestens ebenso wichtig und eigentlich noch schöner sind die Häuser, die man noch heute beim Betreten des Geländes auf der rechten Seite sehen kann und die gestalterisch in die Heimatschutzbewegung gehören. Es ging darum, ein grünes, harmonisch bebautes Krankenhausgelände zu schaffen, das den Patienten die Gelegenheit zur Gesundung bot. Noch heute sind die ältesten Teile des Campus die erfreulichsten.

Im Katalog finden sich Artikel, welche die Arbeiten Mühlenpfordts in die Reformbestrebungen der Zeit einordnen, also vor allem in die Heimatschutzbewegung, die ja nicht allein Jugendherbergen, sondern auch Kirchen und Gartenstädte errichtete und heute vielleicht zu wenig gewürdigt wird. Im Katalog ist es mit Sigrid Hofer eine Spezialistin auf diesem Gebiet, die mit zahlreichen Beispielen in das Thema einführt und bei der Beschreibung der Bauten typischerweise mehrfach die Vokabel „bescheiden“ benutzt. Vielleicht gefallen die Häuser auch deshalb so sehr?

Aus derselben Zeit (also aus den für Mühlenpfordt enorm produktiven Jahren vor dem 1. Weltkrieg) stammt die aus dunklen Ziegelsteinen errichtete evangelische Kirche Kücknitz, die Mühlenpfordt auf einem damals noch freien Feld errichten durfte; heute stellt sie mit einem kleinen Platz davor den Mittelpunkt dieses sonst wenig schönen Stadtteils dar. Es ist dank seiner anspruchsvollen Strukturen ein interessanter Bau, weder besonders modern noch allzu traditionalistisch. Weil Mühlenpfordt auch gleich Verwaltungsgebäude dazu zeichnete, ist die Kirche sehr schön in ihre Umgebung eingepasst.

Wichtig scheint die Ausstellung vor allem deshalb, weil sie die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Tradition stellt, die in einer Stadt wie Lübeck besonders interessieren muss. Deutlich wird das in der Straße „Schüsselbuden“ zu Füßen der Türme von St. Marien, deren Verunstaltung im Sinne einer autogerechten Stadt im Katalog von Hans-Achim Körber gewürdigt wird. Wir schimpfen so gern auf die DDR, in der Schlösser und Kirchen weggesprengt wurden, weil sie an den Feudalismus oder die Religion erinnerten; aber war es besser, Platz für das geliebte Automobil zu schaffen? Denn das tat man, als man die Kapelle St. Maria am Stegel abriss – 1967! Körber kommentiert mit den ziemlich zurückhaltenden Worten, dass die „Marienkirche […] dadurch an ihrer Turmseite die stadträumliche Fassung verloren“ hat. Man könnte auch schärfer formulieren.

Der Kirche schräg gegenüber finden sich drei Häuser, die sich in der Form ihres Giebels der Altstadt anzugleichen versucht haben, sonst aber sehr modern sind. Das Haus aus den sechziger Jahren wird niemand schön finden, die beiden Gebäude rechts von ihm aber fanden und finden Anklang, besonders wegen ihres lebendigen Mauerwerks – sie bieten keine glatte, einfache Fläche, zeigen aber trotzdem sehr klare und moderne Strukturen. Wäre das ein Weg, den Mühlenpfordt heute gehen würde?

Die Ausstellung im Behnhaus bietet mit der Vorstellung des Architekten Mühlenpfordt die Gelegenheit, über den Umgang mit dem städtebaulichen Erbe nachzudenken – nicht allein darüber, wie man dieses erhalten kann, sondern auch darüber, wie man ihre Formensprache aufnimmt und weiterentwickelt, ohne sie zu kopieren oder zu negieren. Die Zeichnungen und Fotos seiner Arbeiten und die zahlreichen, von ihm selbst produzierten Postkarten geben dazu Gelegenheit. Dazu kommt auch noch das große weiße Modell eines Braunschweiger Universitätsgebäudes.

Ergänzt wird die Präsentation seiner Arbeiten durch einige Bilder seiner Frau, der Malerin Anna Mühlenpfordt-Dräger, die sehr viel gekonnt zu haben scheint, aber vielleicht erst aus einem traurigen Anlass zu ihrem eigenen Stil gefunden hat. Ihr großes handwerkliches Können demonstriert bereits ein ganz wunderbares, leider von tiefen Rissen durchzogenes Blumenporträt, bei dem man unwillkürlich an Maria Sibylla Merian denken muss – aber das war eine Künstlerin des 17. Jahrhunderts! Das Bild Anna Mühlenpfordts zeigt mit nichts, dass es ein Werk des 20. Jahrhunderts ist. Aber ganz bei sich selbst angekommen scheint sie bei vier großformatigen Ölbildern, deren eines Dürnstein an der Donau gewidmet ist. Ein romantisches Motiv in moderner Farbigkeit, das also in ähnlicher Weise, wie es die Bauten ihres Mannes getan haben, die Tradition aufnimmt und verwandelt.

Daran schließen sich drei ganz großartige Bilder der Marienkirche an, die wohl alle erst nach der Bombennacht 1942 gemalt wurden, obwohl eines noch das Innere der Kirche in seinem alten Zustand zeigt. Besonders beeindruckend ist die schon fast geisterhafte Atmosphäre des Kirchenschiffes, das sich nach oben in der mystischen Dunkelheit verliert. Auf einem anderen Bild finden sich die himmelwärts ragenden Türme der Kirche in expressionistischer Farbigkeit, und auf der Straße davor sehen wir den berühmten Totentanz des Bernt Notke, der 1942 ein Opfer der Flammen geworden war.

Diese Bilder gehören sowohl mit ihrer ausdrucksstarken Farbigkeit als auch mit ihrer teils kühnen Perspektivik ganz in das 20. Jahrhundert, und dazu sind sie mit Emotion aufgeladen – mit der Trauer um den Verlust des Ehemannes, der 1944 gestorben war, dazu mit der Trauer um die Kirche und den Bilderzyklus des Bernt Notke. Aber trotz ihrer Modernität: die Künstlerin hat in Imitation mittelalterlicher Techniken in dünner Lasur direkt auf das Holz gemalt, das offenbar noch nicht ausreichend getrocknet war. So durchziehen große Risse drei der vier großen Bilder, und auch das Blumenporträt ist gezeichnet. War es vielleicht Absicht, wie einige meinen? Wollte sie ihren Bildern damit eine Aura verleihen, die sie als gut erhaltene nicht besessen hätten (oder nicht besitzen würden)?

Der 2018 erschienene Katalog ist bereits mit seinem Einband aus grobem Leinen gestalterisch sehr gelungen, und die einzelnen Artikel sind sehr informativ – sowohl über Mühlenpfordt als auch über Probleme der Architektur im ersten Drittel des Jahrhunderts. Allerdings könnte man sich man die Fotos der Bauten etwas größer vorstellen.

Mühlenpfordt – Neue Zeitkunst. Reformarchitektur und Hochschullehre

Zu sehen bis 15.03.2020 im Museum Behnhaus Drägerhaus, Königstraße 9-11, 23552 Lübeck
Geöffnet: Di-So, 11-17 Uhr
Weitere Informationen

Olaf Gisbertz (Hrsg.): Mühlenpfordt – Neue Zeitkunst. Reformarchitektur und Hochschullehre.
Jovis Verlag 2018
144 Seiten
978-3868594997


Abbildungsnachweis:
Header: Schule, Kirche in Kücknitz
Galerie:
01. Schule, Kirche in Kücknitz, Entwurf 1910
02. Turm der ehemaligen Heilanstalt Strecknitz
03. Blumenbild
04. Carl Mühlenpordt. Quelle: Personalakte Carl Mühlenpfordt, 1914–1933, Universitätsarchiv Braunschweig, UniA BS, B7: 388. (Privatbesitz, Braunschweig)
05. Buchumschlag. Jovis Verlag.

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