Meinung

Imperfekt, Perfekt, Präsens, Futur I und II. Diese unterschiedlichen Zeitformen impliziert das Wort Verschwundensein. Und sie alle sind mit angedacht und thematisiert in dem 2016 in die Kinos gekommenen Film „Paula – Mein Leben soll ein Fest sein".
Die schweizerische Schauspielerin Carla Juri verkörpert in diesem emotional grandios auslotenden Film die im Alter von 31 Jahren verstorbene expressionistisch-naiv-naturalistische (ich charakterisiere sie auf diese kunsthistorisch etwas aus dem Rahmen fallende Weise) Malerin Paula Modersohn-Becker.

 

Carla Juri, dies vorneweg, die ich aus dem künstlich zum Skandal hochstilisierten Film „Feuchtgebiete“ kannte, ist in diesem drei Jahre später gedrehten Streifen auf eine ungemein nuanciert-differenzierte Weise (nicht) wiederzuerkennen. Genauer: Sie, die Schauspielerin, ist selbstredend wiederzuerkennen, aber das meine ich nicht. Wenn nämlich in „Feuchtgebiete“ eine in ihrer aufdringlich-flapsigen Ehrlichkeit schrille Jugendliche ihre Verunsicherung durch genau dieses Auftreten zu kaschieren sucht – das Aufdringliche eines sich um nichts und niemanden bekümmernden weiblichen Störenfrieds ist eine leicht durchschaubare Fassade –, dann ist die Paula in dem Historiendrama vielleicht nicht flapsig und aufdringlich – das, nämlich ironisch-gebrochen flapsig, ist sie auch –, aber sie ist herzzerreißend ehrlich in ihrem unbedingten Willen, nur sich und ihrer Leidenschaft – dem Malen – zu leben.

 

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Paula Modersohn-Becker (Carla Juri), Rainer Maria Rilke (Joel Basman). © Pandora Film / Martin Menke

 

Schwer, sich dieser unbekümmerten, hilflos-schelmisch-lächelnden Rücksichtslosigkeit zu entziehen, selbst wenn genau sie es ist, die in dem Film bei den ihren Lebensweg kreuzenden Malern nicht unbedingt auf viel Gegenliebe stößt.

 

Verschwundensein. Die erste. Denn damit geht es an. Der besorgte und auf jeden Fall liebevolle, wenn auch überforderte Vater der Noch-nicht-Künstlerin, die aber fest entschlossen ist, das Noch-nicht in ein von keinen Zweifeln angekränkeltes Jetzt erst recht zu transferieren, macht sich Gedanken über die Zukunft seiner 24jährigen Tochter. Die sich minutenlang und für die Zeit, in der die Vorschlagsliste abgearbeitet wird, hinter einer leeren Leinwand – der zu einem Stillleben geronnene Widerwille – verschanzt hat, so dass man nur ihre beiden Hände sieht. Doch dann taucht sie mit einem Kawumm hinter der Leinwand auf, die mit eben diesem Kawumm auf die Tischplatte kracht. Und teilt mit diesem für sie so charakteristischen liebevoll-renitent-aufreizend-schelmischen Lächeln mit, dass es nur diesen einen Weg für sie geben wird: In der Malerei zu verschwinden und sich darin – in Form dreier geglückter Bilder und in einem von ihr zur Welt gebrachten Kind – wiederzufinden. Sie war verschwunden und ist jetzt zur Stelle.

 

Indem sie – die zweite – verschwunden ist. Und zwar nach Worpswede, der seit 1889 existierenden Künstlerkolonie unweit Bremens. Wo sie sich gegen die Prinzipienreiterei eines ungebrochenen Naturalismus‘ mit hohem Landschafts-Kitschpotenzial zur Wehr setzen muss und, wie es ihr ähnlichsieht, unverzagt und mit diesem verzeihend-angriffslustigen Lächeln zur Wehr setzt. Auch auf die reale Gefahr hin, vom Hof gejagt zu werden.

 

Sie – die dritte – verschwindet in der Kunst. Und wie. Weil sie auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt, sondern, ganz Hingabe, diese Hingabe und Tiefe des in ihr schlummernden und eruptiv hervorbrechenden Gefühls in ihren Bildern verlebendigt. Verschwinden, um im Verschwinden zu sich selbst zu finden. Das Verschwunden-sein als ein Gefunden-haben.

 

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Clara Westhoff-Rilke (Roxane Duran), Fritz Mackensen (Nicki von Tempelhoff), Paula Modersohn-Becker (Carla Juri). © Pandora Film / Martin Menke

 

Die Pariser Flucht – die vierte als Flucht nach vorn – vor ihrem unbeholfen-prinzipienfesten, aber, wie sich ganz am Ende herausstellt, zu einer späten Einsicht fähigen Gemahl Otto Modersohn, eröffnet der Zukunft zugewandte Spielräume. Die – das Tragische der fünften Etappe des Verschwundenseins – in einem ich werde – „Wie schade!“ – gelebt und in meinem Sinn gewirkt haben ganz unvermittelt ihr frühes – traurig-schönes – Ende fand, gefunden hat, findet, finden und gefunden haben wird.

 

Was in diesem Film unverstellt-authentisch in Szene gesetzt wird, ist das folgende: In dem bedingungslos einer Sache hingegebenen Wollen sich im Sich-verlieren – der „Selbstvergessenheit, die sehr befreiend“ ist (siehe unten das Interview) – erst recht zu finden und, im Erfolgsfall, gefunden zu haben auch und vor allem auf Kosten des Verlustes seiner selbst, dieses Selbstverständnis des wahren Künstlers ist auch das der Schauspielerin Carla Juri, die nicht zuletzt deswegen die Paula so unmittelbar herzanrührend in Szene zu setzen verstanden hat.

 

In einer am 03.12.2016 ausgestrahlten und eigentlich stets entsetzlich-affektierten und vor geistreich sein sollender Künstlichkeit triefenden Talkrunde von Radio Bremen, in der Carla Juri in ihrer ungespielten und deswegen ganz und gar uneitlen Unsicherheit die ganze Zeit, gar nicht anders als ein Kind („Ich glaube, ich muss da durch“), überfordert wirkt, sagt sie, angestrengt nach Worten suchend, folgende der Kunst so sehr affinen Sätze: Sie habe sich in die Modersohn-Becker deswegen so gut hineinversetzen können, weil die sich bereits gefragt habe, „wie weit man gehen kann, ohne sich um das Publikum zu kümmern“. Dass „man missfallen kann“, und dass die Malerin „sich frei gemacht“ habe „von Erwartungen“, das vor allem habe ihr ‚sehr gut gefallen‘. „Das muss ein Künstler für mich sein, und das hat mich irgendwie berührt.“ Zum Beschluss: Dass ihre „Branche so etwas wie ein Sport“ sei, damit habe sie sich „noch nicht so ganz abgefunden…“

 

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Paula Modersohn-Becker (Carla Juri). © Pandora Film / Martin Menke

 

Das Ende des Films – ein Ende nach dem Ende und gleichzeitig der modifizierte, weil mit Kunst gesättigte, Anfang (der Kunst-Lebens-Kreis hat sich geschlossen) –: Man sieht eine (bemalte!) Leinwand; genauer das bekannte – Achtung: der Schmerz der Ironie – Selbstbildnis zum 6. Hochzeitstag im Jahre 1906. Unvermittelt tritt die im Film bereits verschwundene, da gestorbene, Künstlerin in herzanrührender Unsicherheit und Schüchternheit hinter dem Bild hervor, weil sie in dem finalen Verschwundensein in der Kunst zu sich selbst gefunden hat und in Erscheinung getreten ist, in Erscheinung tritt und nicht zuletzt und vor allem in der Zukunft getreten sein wird. Ein bittstellender, flehend-verzagter, ungläubiger – es möge so sein! – ahnungsvoller Blick auf das, was aus dem aktuellen Verschwundensein, der Hoffnung voll, erwachsen wird.


Paula – Mein Leben soll ein Fest sein

Christian Schwochow

Kinostart: 15.12.2016
Deutschland, Frankreich 2016
FSK 12 · Laufzeit 123 Min

Weitere Informationen

YouTube-Video:
PAULA - Trailer (HD, 2:11 min)

 

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