Wem sagt heute der Name Johann Eduard Erdmann noch etwas? Wer hat ihn im Original gelesen? Philosophiehistorikern des 19. Jahrhunderts sicherlich.
Womöglich einer Handvoll Psychologen, des „Grundrisses der Psychologie“ wegen, den dieser den Alt- oder Rechtshegelianern zugerechnete Autor verfasst hat. Aber darüber hinaus? Dubito. Dabei empfiehlt sich eine aufmerksame Lektüre seines erstmals 1841 erschienenen „Grundrisses der Logik und Metaphysik“ (Vierte, verbesserte Auflage, Halle 1864). Weshalb? Diese Frage soll gleich beantwortet werden. Zuvor nur noch ein Weniges zur Person des weithin vergessenen Philosophen.
Johann Eduard Erdmann kam 1805 in Wolmar (Livland/Russisches Kaiserreich. Heute: Valmiera/Lettland) zur Welt. Er bekleidete seit 1836 in Berlin eine A. o. Professur und wurde 1839 in Halle a. d. Saale Ordentlicher Professor. Daselbst ist er im Jahre 1892 gestorben.
So nahe es liegt: Ich will nichts über das Verhältnis von Erdmanns Grundriss zu Hegels Wissenschaft der Logik sagen. Das ist an anderer Stelle bereits geschehen (Frank-Peter Hansen, Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000, S. 18-22). Es geht mir um etwas Prinzipielles, um Erdmanns, wie ich finde, vorbildliches Wissenschaftsverständnis. Er wollte sich einzig und allein daran messen lassen, ob die gefällten Urteile wahr und ob die Darstellung konsequent sei. Erdmanns doppeltes Credo jedenfalls war, dass „wissen, was man spricht, (...) nichts Kleines“ (V) sei. Darüber nämlich gehe nur noch dies: Sprechen nur, was man wisse. Dieses aber, das Wissen, sei alles andere als die „dürre(n) Haide der Abstraction“, aus der es sich zu retten gelte auf die „grüne Weide des Lebens“. Wer dieses Opfer des Intellekts einleuchtend finde, der ignoriere geflissentlich, dass es „Mephistopheles ist, der den Menschen so auf Grünfutter anweist“ (XI).
Logik und Metaphysik bilden bei Erdmann, das weist bereits der Titel aus, eine Einheit. Damit ist dem Formalismus innerhalb der ersten Disziplin, wie sie etwa in Fichtes more geometrico verfahrenden Wissenschaftslehre vorgeführt wird, vorgebaut. Erdmann deduziert nicht aus einem als unbeweisbar behaupteten Prinzip. Seine Deduktionen sind keine, die am Satz der Identität Maß nehmen, sondern an dem Konzept des spekulativen Satzes aus Hegels Vorrede der Phänomenologie des Geistes. Das heißt, es handelt sich bei Erdmanns Logik um eine ontologische Logik, in der der Gegensatz von Denken und Sein im Erkennen und seinem Resultat, objektivem Wissen, aufgehoben, nicht nivelliert ist. Gehaltvollem Denken korrespondiert ein nach Möglichkeit begriffenes, gewusstes Sein. Objektives Wissen, das ist nicht wenig, wie mich dünkt und auf jeden Fall mehr als das am Satz der Identität ausgerichtete selbstreflexive Regelwerk formaler Logiken, in denen, analytisch, immer nur das gewusst wird, was man ohnehin schon weiß, vorausgesetzt man hält sich strikt an das unkritisch vorausgesetzte Regelwerk. Voraussetzung ist das Zauberwort in diesem speziellen Bereich gedankenlosen Denkens. Ist dies eine contradictio in adjecto, so ist es die der modernen formalen (Aussagen-) Logik(en).
Logik hat es mit dem Denken zu tun. Ganz recht. Denken ist „die Thätigkeit des Geistes, die zu ihrem Producte das Allgemeine hat“ (3). Präziser gefasst: Die „denkende Betrachtung eines Gegenstands verallgemeinert also denselben, d.h. verändert ihn. Dennoch aber glauben wir durch das Nachdenken das Wesen des Dinges inne zu bekommen, der Sache selbst inne zu werden“ (3). Denn wohlgemerkt, sinnliches Anschauen, Wahrnehmen, Fühlen, Empfinden gar verraten uns nichts über die Eigenart(en) eines Gegenstandes. Sie werden erst übers denkende Erfassen zu gewussten, mit mir als Denkendem identischen. Indem ich sie denkend identifiziere, versichere ich mich ihrer Identität.
Das Resultat des Denkens ist der Gedanke. In ihm haben wir uns die Sache, auf die das Denken sich richtet, zugeeignet. Er repräsentiert oder soll repräsentieren die objektiven Verhältnisse der empirischen Realität. Nichts anderes ist mit der Objektivität des Gedankens gemeint. Ihn nun bezeichnet Erdmann, im Unterschied zu bloß subjektiven Gedanken oder Einfällen, als Kategorie und folgt darin Aristoteles. Der Stagirite nämlich habe, im Unterschied zu Kant, bei dem die Kategorien lediglich Stammbegriffe waren, hinsichtlich ihrer von Stammverhältnissen gesprochen. Unter Stammbegriffe werde lediglich äußerlich subsumiert, in Stammverhältnissen manifestiere sich ein immanenter Bezug zwischen dem zu Denkenden und seinen Gedanken.
Erdmann also hat ein ganz und gar objektives Logikverständnis. Warum aber erscheint auch eine nichtformale Logik als abstrakt? Darum: Das Vorgehen der Logik ist kein direktes, auf die jeweilige Sache gerichtetes Vorgehen. Logisches Urteilen ist vielmehr eine – reflektierte – Antwort auf dinghaftes wissenschaftliches Urteilen. In diesem wird, im Unterschied zu jenem, nicht über die diversen Formbestimmungen des objektiven Gedankens nachgedacht. Der freilich auch allenthalben in den logischen Gedanken enthaltene Sachbezug scheint sich zu verflüchtigen, wenn man sie selbst zum Gegenstand der Betrachtung macht. Um dies zu können, muss man eine zweite Abstraktionsebene erklimmen, eine, die sich nachträglich Gedanken über die Aufbauprinzipien von objektiven Einsichten der Erkenntnis macht, die man sich für gewöhnlich ohne diese Zusatzanstrengung ganz direkt, wenn schon nicht unwillkürlich, erarbeitet. „In der Ungewohntheit, das, was einem das Bekannteste scheint, zu betrachten, und anstatt auf die Gegenstände, über die man sonst vermittelst der Kategorien nachdenkt, auf diese selbst die Aufmerksamkeit zu richten, hat das Meiste von dem seinen Grund, was man die Unverständlichkeit der Logik nennt. Jene Ungewohntheit lässt immer wünschen, dass man sich doch, wie man gewohnt ist, bei den Kategorien Etwas (Andres, nämlich den Gegenstand) denken könnte, statt dass es sich darum handelt, eben nur sie zu denken.“ (5) Das erste ist konkretes wissenschaftliches Denken, das zweite aber das – logische – Denken dieses objektiven Denkens oder kurz: Ontologik.
Was also ist der Nutzen der Logik? Laut Erdmann besteht er in dreierlei. „Als wissenschaftliche Kritik der im Denken angewandten Kategorien lehrt die Logik die wahren von den unwahren Kategorien unterscheiden, so wie erkennen: in welchem Gebiete des Wissens gewisse Kategorien Geltung haben, in welchem nicht.“ (5) Kategorien, die in der Naturbetrachtung ihren Ort haben, werden, auf Geistiges, Seelisches und dergleichen angewandt falsch und irreführend. Darüber hinaus ist sie eine Hilfestellung für das im denkenden Erkennen ungeübte Bewusstsein, indem sie seine Aufmerksamkeit auf die Stammverhältnisse der Kategorien als solcher richtet. Das ist nicht gering zu achten, und deswegen ist die Logik, laut Erdmann, die eigentliche „Fundamentalphilosophie“ (5).
Damit jedoch kein Missverständnis entsteht. In gewisser Hinsicht ist die Logik trotzdem das Überflüssigste von der Welt. Denn die Wissenschaft(en) gehen auch ohne sie ihren mehr oder weniger sicheren Gang. Sie sind auf ihre Einsichten, die ohnehin stets zu spät kommen, in keinerlei Weise angewiesen. Einerseits also gilt: Die Logik hat es, weil und insofern sie ontologische Logik ist, „nicht nur mit den Formen der Wahrheit zu thun, sondern mit dieser selbst, mit den Kategorien als den „Seelen der Wirklichkeit““ (6). Andererseits aber ist es genauso richtig, dass die Kategorien „blosse(n) Seelen“ sind, was zur Folge hat, dass die Logik nur „in ein „Schattenreich““ (6) einführt. „Die Logik ist darum nicht die ganze Wissenschaft, sondern nur die Grundlage derselben.“ (6)
Bei Erdmann ist für ein sacrificium intellectus, wie es von den Vertretern formaler Logik in der Nachfolge Kants, wenngleich relativ schüchtern und unbeholfen noch, bereits zu Hegels Lebzeiten eingefordert worden war, kein Platz. Denn vor „zwei Klippen hat sich die Darstellung zu hüten, einmal davor, dass die Logik nur formell genommen werde, und zur leblosen Abstraction werde. Ihr gegenüber gilt, dass die Logik die ganze Wahrheit im Keim enthalte. Dann davor, dass dem Subject in diesem Schattenreich so wohl werde, dass es nach dem belebenden Blute der concreteren Theile der Philosophie nicht mehr verlangt. Hier heisst es, dass die Logik nur den Keim der Wahrheit darstellt“ (6).
Unter diesem für die Klarheit der logischen Aufgabenstellung Sorge tragenden doppelten Aspekt hat das alles dann doch sehr viel mit Hegels ontologischer Logik zu tun. Wenn nämlich die Logik „ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“.
Johann Eduard Erdmann: Grundriss der Logik und Metaphysik
Nachdruck der Originalausgabe aus dem Jahr 1864.
Verlag: Hansebooks
208 Seiten, 2016, Deutsch
ISBN: 9783741158766
Antiquarisch sind ältere Ausgaben erhältlich.
Fotonachweis: Portrait Johann Eduard Erdmann, um 1880. Quelle: University of Cambridge. Gemeinfrei
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