Beethoven: Departure – Utopia. Symphonies Nos. 1 & 7
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Seit 2006 ist Kent Nagano – ab 2015 der neue Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper – Music Director des Orchestre Symphonique de Montréal (OSM). Acht prägende Jahre mit Kanadas bestem Orchester, denen mindestens sechs weitere folgen werden. Ein Herz- und Vorzeigestück der Aufnahmetätigkeit dort ist – neben Werken von Gustav Mahler, Skrjabin und Rachmaninoff – sein Zyklus aller neuen Beethoven-Symphonien geworden, in dem er für die symphonischen Werke Themen findet, sie manchmal mit anderen Werken klug zusammenbindet. Zur Neunten als Solitär heißt es da „Human Misery – Human Love“, zur Dritten gesellen sich unter dem Motto „Gods, Heroes And Men“ die „Geschöpfe des Prometheus“, die Sechste und Achte stehen unter dem Leitmotiv „In The Breath of Time“ gemeinsam mit der „Großen Fuge“.
Nun hat Sony Classical in Deutschland unter den programmatischen Worten „Departure – Utopia“ die Erste und die Siebente veröffentlicht. Und man kann an diesen Aufnahmen gut die musikalischen Auffassungen Kent Naganos studieren.
Beethovens Erste Symphonie C-Dur, geschrieben 1799/1800, nimmt Nagano transparent und geradezu luzid im Adagio molto der langsamen Einleitung, um dann, durchaus noch aus dem Geist Haydns und Mozarts heraus ein mäßig forderndes, höchstens etwas ungeduldig wirkendes Allegro con brio zu begeben.
Das Andante cantabile des zweiten Satzes kommt unkompliziert, geradezu schlicht daher, Nagano sucht keine Widerhaken, seine Interpretation schnurrt wie ein Uhrwerk und wirkt selbst in den treibenden Partien des schnellen Menuettos glatt. Was Beethoven da an Brüchen mit den Konventionen seiner Zeit hinein gepackt hat, kommt fast beiläufig und ohne großen Gestus daher.
Kalkulierte Brillanz auch der vierte Satz mit seiner langsamen Einleitung, den superpräzisen Streichern, die generell mit sehr wenig Vibrato auskommen und doch kraftvoll wirken, den luftigen Holzbläsern und den effektvollen Akzenten aus dem Blech. Es ist ein fein geschliffener Klang, frei von jeder Rauheit, der im ersten Zugriff eher kühle Perfektion suggeriert als den Beginn der einer drängenden Ich-Revolte des junge Beethoven.
Das gilt auch für die Aufnahme von Beethovens 1811/1812 komponierten Siebten Symphonie, uraufgeführt nach wenige Wochen nach der Völkerschlacht bei Leipzig, durch die Napoleon nach der vernichtenden Niederlage gezwungen wurde, sich aus Deutschland zurückzuziehen. Daneben erklang im selben Konzert – ein Benefiz für die antinapoleonischen Kämpfer – „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“, ein musikalisches Kriegsgetümmel, in dem Beethoven eine weitere Niederlage der Franzosen in grellen Farben ausmalt und feiert. In seinem Dank an die Mitwirkenden sagt Beethoven: „Uns alle erfüllt nichts als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben.“
Die Apotheose der Freiheit wird in seiner Siebten Symphonie als Apotheose des Tanzes, der freien, der ekstatischen Bewegung zelebriert. „Alles Ungestüm, alles Sehnen und Toben des Herzens wird hier zum wonnigen Übermuthe der Freude“, schrieb bewundernd Richard Wagner, „diese Symphonie ist (...) der Tanz nach seinem höchsten Wesen, die seligste That der in den Tönen gleichsam idealisch verkörperten Leibesbewegung.“
Bei Kent Nagano und dem OSM erscheint das Dionysische vor allem klangschön verpackt. Ja, es gibt einen Übermut der Freude schon im ersten Satz, aber oft wirkt er wie befreit von tieferen Leidenschaften, atemlos, fast ein bisschen hektisch. Das Allegretto des zweiten Satzes wird unter Naganos Stabführung nicht zu einem Trauermarsch, sondern eher zu einer nachdenklichen Pilger-Prozession.
Was als Idee im Trio des explosiv angepackten Presto-Scherzos durch das Zitat eines Wallfahrerlieds fortgeführt wird, bis die fünf finalen Orchesterschläge den Weg bereiten zum ekstatischen Allegro-con-brio-Finale mit seinen auftürmenden, einander überrollenden und sich brechenden Wogen aufgewühlter Freude – körperlich spürbar, bis es keine Steigerungsmöglichkeiten mehr gibt, eine Hymne an das freie Leben ohne Regeln und Zwänge, eine heißblütige, erschöpfende Absage an diktatorische Ideen.
Die von Kent Nagano geleitete Aufnahme wirkt auch hier wie gereinigt von solchen aus der Historie abgeleiteten Affekten, es bleibt der schiere Notentext, akkurat gespielt wird. Nagano und sein OSM musizieren Fakten und nicht Gefühle. Das ist ein erfrischender, fast schon verstörend sachlicher Zugang zu den allbekannten Beethoven-Symphonien. Man wird als Hörer nicht hineingezogen in die Interpretation, besser: in eine bestimmte Interpretation, die leidenschaftlich Partei nähme für eine bestimmte Sichtweise.
Es wirkt andererseits aber auch immer distanziert – als würden die Stücke von außen betrachtet und daraufhin befragt, was an Affekten, an Emotionen sie wohl auszudrücken imstande wären. Das hilft beim Hineinhören in den Notentext, der in vielen Nuancen neu erlebbar wird. Nagano befreit Beethoven vom interpretatorischen Ballast, der sich aus unzähligen Aufnahmen in die Gehirnwindungen des Publikum gefräst hat.
Und das ist vielleicht der größte Reiz dieser Aufnahmen: dass Nagano die musikalischen Projektionsflächen wieder freischaufelt und die Reset-Taste für eine neue Sicht auf Beethoven drückt.
Beethoven: Departure – Utopia. Symphonies Nos. 1 & 7.
Kent Nagano und das Orchestre Symphonique de Montréal.
Sony Classical 8884 3036 172
Hörbeispiele aus allen Sätzen der CD
Header: Kent Nagano. Foto: Felix Broede
Cd-Cover
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