Das Verfolgen von Entwicklungslinien der Musikgeschichte ist meist unspektakulär. Zwei neue CD-Veröffentlichungen zeigen nun, wie spannend es sein kann, wenn die Großen unter den Komponisten sich mit den Ideen früherer Generationen auseinandersetzen.
Ein hübsches Märchen der Musikgeschichte ist, dass die großartige Musik Johann Sebastian Bachs nach dessen Tod im Jahr 1750 einem nahezu flächendeckenden Vergessen anheim fiel. Erst 1829, mit der legendären Wiederaufführung der Matthäuspassion unter der Leitung des damals gerade 20 Jahre alten Felix Mendelssohn Bartholdy habe langsam eine Bach-Renaissance eingesetzt.
Das mag für die öffentliche Wahrnehmung ein gewisse Berechtigung haben. Für die Komponisten nach Bachs Tod gilt das indes keineswegs, auch wenn es nicht eben einfach war, Werke wie etwa das „Wohltemperierte Klavier“ zu studieren, das erst zwischen 1800 und 1802 in ersten Druckfassungen verbreitet wurde und davor nur in Abschriften verschiedener Qualität zugänglich war.
Eine solche gehörte zu dem Notenschatz, den Baron Gottfried van Swieten, österreichischer Diplomat u.a. in Paris und Berlin und seit 1777 Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien, auf seinen Auslandsmissionen gesammelt hatte. Der Baron veranstaltete musikalische Sonntagsmatineen. 1782 stieß Mozart – damals 26 – zu diesem Kreis und wühlte sich begeistert durch Swietens Notenberge. Er schreibt an seinen Vater: „ich gehe alle Sonntage um 12 uhr zum Baron von Suiten – und da wird nichts gespiellt als Händl und Bach. - ich mach mir eine Collection von den bachischen Fugen.“
Eine Abschrift fürs private Studium, die Folgen hatte. Mozart lernte einerseits vom Reichtum der kontrapunktischen und fugierten Musiksprache und verwendete sie als Stilmittel in eigenen Werken bis hin zu seinem „Requiem“ oder der Begleitung zum Gesang der beiden Geharnischten in der „Zauberflöte“ – wo sie den Klang der Gesetzmäßigkeit eines alten Systems repräsentieren.
Mozart wurde von Swieten aber auch angehalten, Musik für die Bach-Händl-Matineen zu schreiben. Er tat das, wohl auch, weil seine Herzdame Konstanze Weber ihn ebenfalls dazu anhielt, wie Mozart in einem Brief an seine Schwester verrät: „Als die Konstanze die Fugen hörte, ward sie ganz verliebt darein – sie will nichts als Fugen hören, besonders aber (in diesem Fach) nichts als Händel und Bach. – Weil sie mich nun öfters aus dem Kopfe Fugen spielen gehört hat, so fragte sie mich ob ich noch keine aufgeschrieben hätte? – und als ich ihr nein sagte, so zankte sie mich recht sehr dass ich eben das künstlichste und schönste in der Musik nicht schreiben wollte, und gab mit Bitten nicht nach, bis ich ihr eine Fuge aufsetzte, und so ward sie.“
So entstand die Musik, die unter dem Titel „Adagios & Fugues – Mozart after Bach“ von der Akademie für Alte Musik Berlin eingespielt wurde. Mozart instrumentierte etliche Bach-Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ für Streichquartett, wobei die langsamen Vorspiele Eigenkompositionen sind, da seine Abschrift Bachs Präludien wohl nicht enthielt. Dass er das Handwerk der Fuge beherrschte, beweisen zwei eigene Fugen (KV 426 und KV 546). Ungewöhnliche Dokumente einer musikalischen Traditionsweitergabe, bei denen die Musiker in dieser Interpretation der Mozart-Fugen gut das herausarbeiten, was der Fugenstil damals galt: als eine alte, würdige, hoch komplexe und sehr kunst- und künstlerisch wertvolle, aber leider wenig empfindsame und gefühlsbetonte Musik. Und damit hoffnungslos altmodisch. Heute sind sie eher eine reizvolle Momentaufnahme des Augenblicks, in denen Bachs Musik sich mit dem Sentiment und der Leichtigkeit Mozarts verbindet.
Der Rat, den Mozart seiner Schwester gab – „Lerne sie auswendig und spiele sie. Eine Fuge spielt man nicht so leicht nach“ – haben damals sicher viele talentierte Musiker gehört.
Auch der junge Beethoven, der 1883, mit nur dreizehn Jahren, ausdrücklich für sein Bach-Spiel gelobt wurde und dafür, dass er fast das gesamte „Wohltemperierte Klavier“ spielen könne. 1792, zehn Jahre nach Mozart, profitierte auch er von den Swieten-Matineen und musste am Klavier dem Baron häufig vorspielen – aus dem „Wohltemperierten Klavier“.
Und neben Mendelssohn, Jahrgang 1809, ließ sich noch einer infizieren von Bachs Musik: der junge Robert Schumann, Jahrgang 1810. Über viele Jahre beschäftigte er sich immer wieder mit dem vertrackten Fugen-Stil, und wenn man diese Werke anhört, kann man bei ihm sehr genau verfolgen, wie das strenge Fugen-, Kanon- und kontrapunktische Konzept immer stärker aufgeht in einer sehr ausdrucksstarken, dramatisch drängenden, dichten und verzweigten, harmonisch reichen polyphonen Musik.
Florian Uhlig macht auf der siebten CD seiner Aufnahme der gesamten Schumann-Werke für Klavier solo – „Schumann und der Kontrapunkt“ – diese Entwicklung nachvollziehbar. Angefangen von strengen Studien des Kompositionsschülers aus dem Jahr 1832. Auch er hat seinen Bach gut studiert und empfiehlt das dringend weiter: „Spiele fleißig Fugen guter Meister, vor allen von Johann Sebastian Bach. Das Wohltemperierte Klavier sei Dein täglich Brot.“
Schumann durchbricht den strengen Rahmen schon früh mit überraschenden Fugenthemen, wie man bei seinen Studien (1856) und Skizzen (1858) für den Pedalflügel – ein Konzertflügel mit einem Pedalmechanismus wie bei einer Orgel – hören kann. Florian Uhlig hat diese Musik für zwei virtuose klavierspielende Hände eingerichtet. Er lotet die Vorteile des strengen Kontrapunkt aus, bis er weiß, wie er ihn für seine Zwecke einer freieren Musik einsetzen kann – gut abzulesen an den Vier Klavierstücken op. 32 von 1841 und an der Vier Fugen op. 72 aus dem Jahr 1845.
Er verwendet ihn aber auch für eine fast modern anmutende Sachlichkeit wie bei den sieben Klavierstücken in Fughettenform, op. 126, die er wenige Monate vor seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt Endenich fertig gestellt hatte.
Dem Pianisten Florian Uhlig ist das ungewöhnliche thematische Konzept dieser CD zu verdanken, das die kontrapunktische Entwicklungslinie bei Schumann in den Fokus nimmt, sie quer durch sein Werk herauspräpariert und hörbar macht. Und das Klavierspiel, das diese Entwicklung unterstreicht. Von den allerersten Anfängen, wo sich der junge Schumann noch darüber beklagt, sein Lehrer lege ihm nahe, „unter Musik eine Fuge zu verstehen“. Bis zu seinem Geständnis an einen Fan: „Bach mag aber überall zu entdecken sein.“
- Mozart: Adagios & Fugues, Akademie für Alte Musik Berlin,
harmonia mundi 902 159
Video aus der Aufnahmesession für Adagios & Fugues, Eingangsstück der CD
- Schumann und der Kontrapunkt, Florian Uhlig (Klavier).
2 CDs, hänssler classic 98.032
Abbildungsnachweis:
Header: Akademie für Alte Musik (Detail). Foto: Kristof Fischer
CD-Cover: Mozart: Adagios & Fugues - sowie Schumann und der Kontrapunkt
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