Gustav Mahler beschäftigte sich immer wieder mit der volkstümlichen Sagenwelt von „Des Knaben Wunderhorn“, einer Sammlung von Gedichten, die fast hundert Jahre zuvor von Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831) veröffentlicht worden war.
Hier wird in den insgesamt 24 Texten von idyllischen Frühlingsfreuden, Blumen und Vögeln und von einer Welt erzählt, die frei von allen Sorgen ist. Und dennoch: Die Lieder gehören wohl zum Abgründigsten, was je für Gesangsstimmen geschrieben wurde.
Zwischen 1888 und 1899 vertonte Mahler mehr als ein Dutzend Gedichte aus dieser Sammlung für Gesang und Klavier oder Orchester, von denen die Mezzosopranistin Katharina Kammerloher, der finnische Bariton Arttu Kataja (Oper Unter den Linden, Berlin) und der Pianist Eric Schneider (UdK, Berlin) – der dem aberwitzig schwierigen Klavierpart Dramatik und Ausdruck abringt – im September 2023 wiederum eine Auswahl im westfälischen Konzerthaus Abtei Marienmünster aufgenommen hat. Sie loten die Tiefen und Untiefen dieser Musik und Texte aus.
Ganz bewusst hat Mahler sich für die volksliedhafte Sammlung der Heidelberger Romantiker Chamisso, Brentano, Eichendorff und Arnim entschieden, denn die Lieder berühren so unmittelbar. Sie handeln von Liebe und Verlust, von Elend und existenzieller Bedrängnis – und immer wieder von Krieg und Tod. Die Verse sind Ausdruck ihrer Zeit im Spannungsfeld zwischen tief verwurzelter religiöser Gemeinschaft, Aufklärung, Französischer Revolution, Napoleonischen Kriegen, aufkommender Industrialisierung und technischem Fortschritt, zwischen erhabener Landschaft und wachsenden Städten.
Begegnet werden diesen gesellschaftsverändernden Situationen und Gefühlswelten teilweise mit tiefschwarzem Humor, meist sarkastisch und kommt zuweilen wunderbar fratzenhaft verzerrt daher. Am eindringlichsten aber sind jene Stücke, die vordergründig ganz schlicht wirken, es aber in sich haben: „Revelge“ zum Beispiel, „Das irdische Leben“ oder der schier endlose Marsch des „Tamboursg‘sell“.
Die Intensität dieser Stücke geht direkt unter die Haut, auch oder vielleicht sogar, gerade weil Kammerloher und Kataja die dramatischen Eruptionen überaus natürlich also ungekünstelt und mit großer Wahrhaftigkeit wirken lassen. Die beiden Sänger von der Berliner Staatsoper agieren mit Stimmgewalt und Präsenz, mal augenzwinkernd, wo es sein muss („Lob des hohen Verstandes“ oder „Des Antonio von Padua Fischpredigt“) und betörend schlicht wie im abschließenden „Urlicht“, das später zentraler Bestandteil der 2. Sinfonie Mahlers werden sollte.
Alles in allem: Ein Panoptikum menschlicher Existenz und ein Zulassen von Gefühlen, das Gustav Mahler ungeheuer fasziniert haben muss und auch heute –oder besonders heute – niemanden kalt lassen dürfte.
Gustav Mahler: Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“
Katharina Kammerloher: Mezzosopran | Arttu Kataja: Bariton |
Eric Schneider: Piano
Label: MDG, Detmold
EAN: 760623232263
VÖ: 05. Juni 2024
Weitere Informationen (Label)
Trackinglist:
01 Lob des hohen Verstands
02 Des Antonius von Padua Fischpredigt
03 Ablösung im Sommer
04 Um schlimme Kinder artig zu machen
05 Selbstgefühl
06 Verlorne Müh‘!
07 Wer hat dies Liedlein erdacht?!
08 Aus! Aus!
09 Scheiden und Meiden
10 Trost im Unglück
11 Rheinlegendchen
12 Der Schildwache Nachtlied
13 Nicht Wiedersehen!
14 Zu Straßburg auf der Schanz
15 Lied des Verfolgten im Turm
16 Wo die schönen Trompeten blasen
17 Der Tamboursg’sell
18 Das irdische Leben
19 Revelge
20 Urlicht
Dauer: 76:57 Min.
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment