Elbphilharmonie – The First Recording: Da hat Brahms die Nase vorn
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Neuer Saal, neues Klangbild, neuer Orchesternamen und zwei nicht ganz so neue Brahms-Symphonien. Die aber in der Interpretation von Thomas Hengelbrock mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester. Sie passt perfekt zum neuen Raum: analytisch klar, befreit von Ballast und Patina, transparent und tiefenscharf. Das fordert konzentriertes Hören, macht es aber auch möglich. Einstieg in das Hören einer neuen Zeit.
Was für eine Chance! Als allererste in einem neu erbauten Konzerthaus spielen zu dürfen, das kommt auch bei guten Orchestern in einer großen Stadt nur alle hundert Jahre mal vor. Das darf dann auch freudig dokumentiert werden, und das hat das im Neubau residierende NDR Elbphilharmonie Orchester denn auch getan: Vom 16. bis 19. November 2016 spielten die Musiker unter ihrem Chefdirigenten „The First Recording“ ein, die erste Tonaufnahme aus dem neuen Großen Saal der Elbphilharmonie. Das hat was Bleibendes. Und den vorzeig- und anhörbaren Anspruch, hier dank kluger Verhandlungen des früheren NDR-Klangkörperchefs Rolf Beck in den kommenden Jahren die erste Geige zu spielen. In vorliegenden Fall schon mal bei der dritten und vierten Symphonie von Brahms.
Nun ist eine CD kein Konzertsaal und schon gar keiner, dessen Akustik der Klangarchitekt Yasuhisa Toyota geformt hat. Professionelle Aufnahmetechnik könnte aus fast jeder Scheune eine halbwegs anständige Aufnahme herzaubern. Hier, beim „First Recording“, mischt sich der Große Saal allerdings kräftig in das von Hengelbrock gesteuerte Spiel- und Hörgeschehen ein. Man muss eine ordentliche Anlage nicht mal besonders laut aufdrehen, um das herauszufinden.
Hengelbrock spielt einen modernen Brahms, wer ihm das abspricht, hat den an der Alten Musik geschulten Romantiker Hengelbrock nicht verstanden. Die Tempi wirken gestrafft, und obwohl Günter Wand 1982/83 beide Werke tatsächlich etwas schneller anging, hat hier Hengelbrocks Brahms die Nase vorn. Seine Dritte und Vierte erscheinen befreit von Ballast spätromantischer Patina und beinah sakraler Überhöhung. Analytisch klar, aber nicht überanalytisch, transparent, akkurate Streicher, eher dezentes Blech. Man soll tief hineinhören ins Getriebe dieser Symphonien, und das NDR Elbphilharmonie Orchester sorgt für einen fast durchsichtigen Klang, der das auch zulässt.
Das Residenzorchester des Großen Saals produziert einen integrierten, zusammengewachsenen Ensembleklang, bei dem es weniger um hochglanzpolierte herausstechende Blech-Tutti und exorbitant exekutierte „Stellen“ geht. Es ist ein Klang, der hervortretende Soloinstrumente wunderbar trägt, die Celli mit ihrer Wärme und Präsenz eingangs des 3. Satzes der Dritten oder das Hornsolo wenig später. Oder das goldene Flötensolo im Schlusssatz der Vierten. Emotionen entstehen dabei selbstverständlich auch, aber sie sind nicht extra dick aufgetragen, sondern entstehen aus der verstandenen Bewegung der Musik, wie der nervös getriebene, spukhafte Anfang des vierten Satzes der Dritten.
Wem da etwas fehlt, wer gar schreibt, wie geschehen, da sei eine belanglose Version auf CD gebannt worden, hat nicht begriffen, dass hier – beim Orchester wie bei dem Saal – ein neues Hören gefordert ist und dass Hengelbrock mit seinem Orchester zweimal Brahms abliefert, wie er besser nicht zu dem passen könnten was von diesem Saal an Positivem berichtet wird. Geradlinig, direkt, unaufgepustet, ehrlich. Das Hörerlebnis einer neuen Zeit. Was gespielt wird, kommt genau so rüber. Schlank, wie es bei der Alten Musik längst Standard ist. Glasklar zum einen, unbarmherzig, wenn’s hakeln würde oder die Interpretation zu dünn wäre. Ist sie aber nicht. Der Saal wiederum, soweit auf dieser Aufnahme zu hören, fördert keine Überwältigungsakustik, sondern außer konzentriertem, klaren Musizieren auch auf die Musik fokussiertes Zuhören. Da freut man sich man plötzlich an Details, etwa den Anklängen ans Deutsche Requiem im Anfang des Schlusssatzes der Vierten und dessen in der Bachkantate BWV 150 gefundenes Passacaglia-Fundament.
Diese Brahms-Symphonien sind ein erstes Dokument dessen, was im neuen Konzertsaal möglich wird, man kann sie getrost nach Hause tragen. In der Hörfassung wie in der Limited Edition, der noch eine packende 60-Minuten-Video-Langzeit-Dokumentation über die verwickelte Entstehungsgeschichte der Elbphilharmonie beigegeben ist. Das 56-Seiten-Booklet mit Texten von Joachim Mischke und vielen Fotos gehört zu beiden Editionen. Sie sind feine Erinnerungsstücke an den Moment, an dem sich Hamburg auf den Weg machte, nicht nur Hafen- und Musical-, sondern auch Musikmetropole zu werden. Sie belegen: Ein guter Anfang ist gemacht.
Elbphilharmonie – The First Recording. Brahms, Symphonien 3 & 4
NDR Elbphilharmonie Orchester, Leitung: Thomas Hengelbrock. Gibt es als Hör-CD oder im Doppelpack mit der NDR-Dokumentation „Die Elbphilharmonie – Von der Vision zur Wirklichkeit“ auf DVD oder BluRay.
Sony Music/NDR/arte/Studio Hamburg
EAN: 889854067625
Abbildungsnachweis:
Header: Thomas Hengelbrock. Foto: Michael Zapf
CD-Cover
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