Christiane Karg: Scene!
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Krise, Drama, Verzweiflung, Rache, Hass und zärtlichste Erinnerung an vergangene Liebe – das alles steckt in den Konzertarien von Beethoven, Mozart, Haydn und Mendelssohn, die die junge Sopranistin Christiane Karg auf ihrer aktuellen CD „Scene!“ präsentiert.
Sie interpretiert diese sechs Opern en miniature auf einem neuen faszinierenden Gipfel ihres Könnens. Begleitet wird sie dabei vom Originalklang-Ensemble Arcangelo unter Jonathan Cohen.
Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs – das sind die Figuren, die aus den sechs Konzertarien sprechen, die die deutsche Sopranistin Christiane Karg für ihre neue CD ausgewählt hat. Verlassen, Verzweifelt, suizidgefährdet, hin- und hergerissen zwischen abgrundtiefem Hass, Rachefantasien und der trauernden Erinnerung an zärtlichste Liebe.
Die Herren Beethoven, Mozart, Haydn und Mendelssohn haben das musikalisch in Szene gesetzt – funkelnd geschliffene Juwelen, die in nur sieben bis dreizehn Minuten Dauer die ganze Affektpalette einer großen Oper aufblättern. Solitäre, geschrieben zu besonderen Anlässen für Top-Sängerinnen ihrer Zeit, deren Stimmen und Stärken die Komponisten in der Regel sehr genau kannten. Auch heute noch fordern diese Konzertarien größtes Können: atemberaubende Koloraturen, extreme Sprünge, erschütternde Gefühlsausbrüche, lyrischen Schmelz – alles, was man braucht, um eine Stimme virtuos und berührend glänzen zu lassen.
Christiane Karg präsentiert sich mit diesen Aufnahmen auf einem neuen Höhepunkt ihres Könnens und ihrer so klug wie selbstbestimmt aufgebauten Karriere. Nach den „Amoretti“ vor knapp drei Jahren, in denen sie mit Opernarien von Mozart, Gluck und Grétry vor allem ihren eleganten Silberglöckchen-Klang in den Vordergrund stellte, und einer gefeierten CD mit Strauss-Liedern, die feinste interpretatorische Nuancen und große Spannungsbögen verbanden, stellt sie nun ein weitere Facette vor.
Die besteht aus einem gewachsenen Stimmvolumen, der Sicherheit im Zupacken und ihrer Genauigkeit, mit der sie unterschiedlichste Emotionen von einer Sekunde zur anderen wechseln lässt. Aus einer runden, sinnlichen Anmutung des Klangs, dem gleichermaßen dramatisch scharfe Zuspitzung wie lyrische Zartheit zur Verfügung stehen. Aus einem großartigen Koloraturkönnen sowieso. Und das alles bei klarster Artikulation und präziser Intonation, frei von hörbaren Registerwechseln und getragen der Intensität eines fast buchstabengetreuen Gestaltungswillens, der nicht im Entferntesten perfektionistisch wirkt – die vollendet beherrschte Technik ist einzig Dienerin des Klangs.
In den Texten wimmelt es nur so von „perfido“, „traditore“, „crudeltà“
Drama, baby! Das würde heute vielleicht über den Konzertarien stehen – und da kommt einiges zusammen: Fluch, Hass, Rache, Niedertracht, Grausamkeit, Wahnsinn, Wut, Qualen, Sterben, Trauer einerseits – das Betteln um Mitleid, die Erinnerung, Anbetung, jede Menge Seufzer und der verlorene Geliebte andererseits. In den italienischen Texten wimmelt es nur so von „perfido“, „traditore“, „crudeltà“, „barbaro dolore“, „misero“, „morte“, „pena“, „tormento“ und „delirar“ sowie „pietà“, „idol mio“, „sospiri“ und „adorar“ – was noch mal um einiges temperamentvoller und dramatischer klingt.
Die Texte stammen bis auf einen von Pietro Metastasio (1698-1782), dem langjährigen Experten für publikumswirksame Libretti in Rom und später Wien, befreundet mit Star-Kastrat Farinelli, mit Prinzessinnen, Grafen und Musik-Stars. Dem Hofpoeten des Kaisers in Wien, dessen Verse unter anderem von Caldara, Vivaldi, Hasse, Mozart, Händel, Pergolesi, Gluck und Salieri vertont wurden, weil sie so affektpralle wie bildreiche Steilvorlagen für den Gesang lieferten.
Natürlich hat Christiane Karg die bekannten Kabinettstücke wie Beethovens „Ah perfido“, auf Mozarts „Ch’io mi scordi ti te!“ – veredelt durch den ultrafeinen Hammerklavier-Klang des Liedbegleiters ihrer letzten CD, Malcolm Martineau – und Haydns „Scena di Berenice“ an Bord dieser Aufnahme. Aber auch weniger Bekanntes wie Haydn „Misera noi, misera patria“ oder das „Infelice pensier“ des damals 25 Jahre alten Felix Mendelssohn – den 1834 entstandenen kongenialen Nachklang auf das Genre. Diese Arie ist hier zu hören in der ersten Fassung, die für die Starsopranistin Maria Malibran entstand, für deren zweiten Mann, den Geiger Charles-Auguste Bériot, Mendelssohn ein wunderbares Violinsolo komponierte, das er nach dem frühen Tod der Malibran wieder entfernte. Hier spielt es Alina Pogostkina.
Eine Höllenreise der Stimme durch die Abgründe der Seele
Begleitet werden diese sechs tief in die Psyche reichenden Frauenporträts vom britischen Originalklang-Ensemble Arcangelo unter Jonathan Cohen, das meist dezent, manchmal aber auch mit kräftigen Akzenten und faszinierenden Farben den Hintergrund für den virtuosen Sopran von Christiane Karg liefert und ihrer Interpretation ebenso detailreich unterstützt. Die Arcangelo-Musiker spielen passioniert, haben aber verstanden, dass das Orchester diese Sängerin nicht anfeuern muss. Diese noble Zurückhaltung verstärkt eher noch die Wirkung der Stimme auf ihrer Höllenreise durch die Abgründe der Seele und verträumte Erinnerungen.
Diese Konzertarien können nur von den Besten ihres Fachs glaubwürdig und anrührend gesungen werden, Christiane Karg gehört längst zu ihnen. Nicht, dass sie mit dem Ausbau ihrer Stimme in die dramatische Richtung gleich auf eine Elsa oder Isolde zusteuern würde, aber sie hat sich – auf dieser CD hörbar – noch einmal neue stimmliche Dimensionen erschlossen. Niemand müsste sich wundern, wenn sich in allernächster Zeit die großen Opernhäuser der Welt um diese wunderbare Sängerin reißen würden.
Christiane Karg: Scene! Konzertarien von Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn und Felix Mendelssohn. Christiane Karg (Sopran), Malcolm Martineau (Hammerklavier), Alina Pogostkina (Violine). Arcangelo, Leitung: Jonathan Cohen.
CD Berlin Classics
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Video
Hörbeispiele
Abbildungsnachweis:
Christiane Karg. Foto: Gisela Schenker
CD-Cover
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