Anna Netrebko lässt Richard Strauss’ „Vier letzte Lieder“ nobel verglühen
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Daniel Barenboim stand am Pult der Philharmonie in Berlin, seine Staatskapelle begleitete dort im August die Starsopranistin Anna Netrebko bei einer leicht verspäteten Jubiläumsveranstaltung zum 150. Geburtstag von Richard Strauss. Die russische Diva sang Strauss’ „Vier letzte Lieder“, das Orchester steuerte die sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“ bei. Den Live-Mitschnitt hat jetzt die Deutsche Grammophon auf CD herausgebracht.
Im Sommer 1948, drei Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Reiches, schrieb Richard Strauss in den Wochen rund um den 84. Geburtstag seine „Vier letzten Lieder“. Strauss vertonte noch in der Schweiz, wohin er nach Kriegsende seinen Lebensmittelpunkt verlegt hatte (das war kein Exil, wie es manchmal fälschlich heißt) drei 12-Zeiler von Hermann Hesse und ein Gedicht von Eichendorff. Es sind Texte voll glühendem Hochgefühl bei der Ankunft eines neuen Frühlings, der verblühenden Rückschau und Wahrnehmung der Endlichkeit, Verse voller Müdigkeit, Abschiedsahnung und Vorschau auf die Erlösung von irdischer Bedrückung, die Nähe des Todes.
Die Musiksprache dieser Orchesterlieder ist tief im spätromantischen Duktus verwurzeln, weit weg von den auseinandersetzungsfreudigeren Musik-Idiomen, die das Jahrhundert der russischen Revolution, der Moderne, zweier Weltkriege und des Holocaust sonst hervorgebracht hatte. Fast möchte man meinen, Strauss sucht darin das Gefühl einer verloren gegangenen Harmonie wiederzubeleben.
So könnte man auch die Sätze auslegen, in denen Strauss-Sohn Franz vom Anstoß zu diesen vier Liedern berichtet: „1948 waren wir in Montreux zu Besuch. Ich habe gesehen, wie er sich quält, und habe ihm zugeredet: Papa, lass’ das Briefeschreiben und das Grübeln, schreib’ lieber ein paar schöne Lieder. Er hat nicht geantwortet. Beim nächsten Besuch nach ein paar Monaten kam er in unser Zimmer, legte Partituren auf den Tisch und sagte zu Alice: ‚Da sind die Lieder, die dein Mann bestellt hat.‘“
Worüber könnte Strauss gegrübelt haben? Über die verlorene Unschuld seiner Kunst? Über seine Verstrickung in das untergegangene nationalsozialistische System, dem er sein internationales Renommee andiente und für das er als erster Präsident der Reichsmusikkammer 1933 bis 1935 arbeitete – ein Pakt mit dem Teufel, bei dem der Künstler seinen Einfluss weit überschätzte? Der Künstler, der sich auch blenden ließ von seinen guten Kontakten zu Goebbels und anderen Nazi-Größen, denen er Lieder widmete, die ihm nun peinlich waren? Der für Hitlers Olympia-Eröffnung komponiert hatte? Über seine Ausnahmestellung auf der „Gottbegnadeten-Liste“ der unabkömmlichen Künstler und auf der Sonderliste der drei wichtigsten Musiker des Reiches? Über die monströsen Verbrechen des Hitlerregimes, an denen auch er 1948 nicht mehr vorbeischauen konnte?
Verlorene Unschuld sucht er in seinen spätesten Werken zu rekonstruieren – auch in den 1946 uraufgeführten „Metamorphosen“ für 23 Solostreicher, in denen er den Geist Mozarts heraufbeschwört, um die Trümmer der Gegenwart zu vergessen. Ein starker Antrieb für große Musik.
Strauss’ „Vier letzte Lieder“ sind ein Prüfstein für Sopranistinnen von großer Noblesse, die einen Königsweg finden müssen zwischen dem Verglühen gehauchter Innerlichkeit, der Vorahnung schwebender Freiheit der Seele nach einem Ende und dem namenlosen Staunen und Erschauern der allerletzten Eichendorff-Zeile „Ist dies etwa der Tod?“
Keine Frage, dass Anna Netrebko längst das Format für diesen kleinen Lieder-Zyklus hat, der keiner ist und dem nur der Verleger diesen griffigen Titel verpasst hat. Wer die 43 Jahre alte Russin mit dem österreichischen Pass heute singen hört, ahnt schon die Konturen von Wagners Elsa, gar einer Isolde. Netrebkos Stimme hat kostbares goldsamtenes Tiefe-Timbre gewonnen und dramatische Schwere (wobei das Vibrato nicht mehr allzu sehr in seiner Amplitude wachsen dürfte).
Die „Vier letzten Lieder“ sang sie in Berlin mit der Gedankenstütze der Noten vor sich. Das hilft sicher bei der feinen, ausgearbeiteten und höchst verständlichen Deklamation. Es bringt aber auch eine gewisse Unbeweglichkeit in den Vortrag, behindert manchmal das Reagieren auf Nuancen des Textes oder das gar charismatische Einswerden mit dem Anliegen der Lieder. Wobei Barenboim und die Staatskapelle Berlin akribisch darauf achten, die Sängerin auf ihrer feingespannten Orchesterbegleitung zu tragen.
Dafür breitet Anna Netrebko großartig und mühelos die weiten Bögen aus, die Strauss langer kompositorischer Atem schon mit dem ersten grandiosen Aufschwung „aus dämmrigen Grüften“ in die helle klingende Ankunft des Frühlings vorzeichnet. Netrebkos Stimme schwingt sich auf in ekstatische Höhen, lässt andere Verse dunkel glänzen, lässt ihre Stimme frei schweben. So wie es in „Beim Schlafengehen“ in der letzten Strophe Hesses wunderbare Verse vorgeben:
„Und die Seele, unbewacht,
will in freien Flügen schweben,
um im Zauberkreis der Nacht
tief und tausendfach zu leben.“
Tiefgehend, anrührend gelingt dann vor allem der schon zitierte letzte Vers der Todesahnung aus Eichendorffs „Im Abendrot“, mit dem Strauss’ das Verklärungsmotiv aus seiner mehr als sechzig Jahre zuvor entstandenen Tondichtung „Tod und Verklärung“ wieder aufscheinen lässt. Da wird – „nachträumend“, wie Eichendorff schreibt – sein Wunsch nach einem versöhnlichen Ausklingen jenseits aller Seelenwirrungen, nach dem Frieden des nahen Endes greifbar.
Nach diesem Ausflug zu den späten Nachtschatten eines Komponistenlebens springt Daniel Barenboim zurück in dessen wirkliche Zeit der Unschuld: Mit dem „Heldenleben“, als dessen Held sich der Komponist 1898 mühelos selbst sehen konnte – gut aufgestellt, im Vollbesitz der Macht über Töne, Melodien und Klangfarben, mit Lust am Spielen, am schräg klingenden Spott über kleinkarierte Kritiker, mit einer zärtlichen Gefährtin, die durch die Solovioline vorgestellt wird, mit einer bombastischen Schlacht, die der Held natürlich gewinnt, mit den „Friedenswerken“, die durch Zitate aus vielen früheren Werken Strauss’ repräsentiert werden, und am Ende mit Weltflucht und Vollendung – der komplette, schrammenlose jugendlich optimistische Lebensentwurf eines Erfolgsmenschen.
Barenboim musiziert das mit der Staatskapelle Berlin, einem Orchester, bei dem Richard Strauss immerhin mehr als 1200 Mal am Dirigentenpult stand und auch eigene Werke dirigierte. Es scheint, das Strauss’ Vorstellungen von einem homogenen Idealklang dort überlebt haben, was besonders in der Liedbegleitung zu spüren ist. Barenboim, dem Orchester in mehr als zwei Jahrzehnten verbunden, modelliert ein funkensprühendes Heldenleben von großer Spielfreude, das aber keine pompösen Gesten braucht, sondern sich mehr auf die farbenprächtigen Momente konzentriert und sie intensiv in die Tiefe des Klangs hinein ausleuchtet.
Richard Strauss: Vier letzte Lieder / Ein Heldenleben. Anna Netrebko (Sopran), Staatskapelle Berlin, Leitung: Daniel Barenboim.
1 CD, Deutsche Grammophon
479 3964
Hörprobe
Abbildungsnachweis:
Detail aus CD-Cover
Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)
Kommentare powered by CComment