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Ott und Tristano: Scandale

Sternstunden der Musikgeschichte müssen nicht auf großer Bühne stattfinden. Manchmal erreicht bahnbrechend Neues im ganz kleinen Kreis das Ohr der Welt. So wie an einem Sonntag Nachmittag Anfang Juni 1912, als der französische Schriftsteller, Musikkritiker und -wissenschaftler Louis Laloy nicht nur den damals 50 Jahre alten Komponisten Claude Debussy nebst Ehefrau zu sich einlud, dessen Biographie er 1909 geschrieben hatte. Ein weiterer Gast war der 21 Jahre jüngere Russe Igor Strawinsky, der sein neues Werk mitgebracht hatte.
Laloy berichtet von dem denkwürdigen Ereignis: „Strawinsky brachte den vierhändigen Klavierauszug seines Werks (...) mit. Debussy erklärte sich bereit, den Secondo (...) zu spielen. Strawinsky hatte darum gebeten, seinen Hemdskragen zu öffnen. Mit in den Brillengläsern erstarrtem Blick, die Nase auf die Klaviatur gerichtet, summte er von Zeit zu Zeit eine ausgesparte Partie und entfachte gemeinsam mit den agilen und weichen Hände seines Duopartners, der ihm ohne Probleme folgte und alle Schwierigkeiten zu beherrschen schien, einen betäubenden Klangrausch. Als sie ihr Spiel beendet hatten, gab es keine Umarmungen und keine Komplimente. Wir blieben stumm, wie von einem gerade vorüber gezogenen Sturm niedergeworfen, der aus den Tiefen der Zeiten kam und unser Leben an den Wurzeln packte.“

Das war die erste Präsentation von „Le sacre du printemps“. Ein Kristallisationspunkt des unerhörten Neuen, das zu dieser Zeit in die Musik einbrach. Es löste bei seiner Uraufführung im Theatre des Champs-Elysées, als Musik für eine Choreographie von Vaslav Nijinsky einen legendären, einen Jahrhundert-Theaterskandal aus, der nur durch die Besonnenheit des Dirigenten Pierre Monteux am Abbruch der Vorstellung vorbeischrammte. Es gab Schlägereien und 27 Verletzte, Strawinsky floh erst in den Orchestergraben, dann durch ein Fenster hinter der Bühne. Giacomo Puccini meinte das „Werk eines Wahnsinnigen“ gehört zu haben, von Debussy ist zur Orchesterfassung das Bonmot vom „Massacre du printemps“ überliefert. Schon nach der privaten Klavieraufführung gestand er, die Musik habe ihn „wie ein schöner Albtraum“ verfolgt. Der Skandal machte Strawinsky weltberühmt.

Ott/Tristano ScandaleDas „Sacre du prntiemps“ markiert einen wichtigen Umbruchpunkt auf dem Weg Strawinskys vom Impressionismus, der noch im „Feuervogel“ glitzern und flirren darf, zu einer radikalen expressionistischen, entfesselten Tonsprache. Häufige wechselndes Metrum, eine Harmonik, die auf Dissonanzen setzt, starke perkussive Momente, aus dem Takt fallende Akzentuierungen, bitonale Passagen und ungewöhnliche Spieltechniken signalisierten den Aufbruch in eine neue Zeit und in eine Moderne, die keine Kompromisse mehr machen will.
Über die Handlung, die ihn zu dieser Musik inspirierte, schrieb Strawinsky: „Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des ,Feuervogels‘ niederschrieb, überkam mich eines Tages – völlig unerwartet, denn ich war mit ganz anderen Dingen beschäftigt – die Vision einer großen heidnischen Feier: Alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Das war das Thema von ,Le sacre du printemps‘.“ Melodisches Material entnahm Strawinsky in einer Sammlung osteuropäischer Volksweisen, die Rimsky-Korsakow herausgegeben hatte.
Die Fassung für ein oder zwei Klaviere und vier Hände ist so etwas wie die Ur-Idee dieses bahnbrechenden Werks, seine rohe Essenz, Strawinsky komponierte ja am Klavier und führte dann erst die vielfältig nuancierten Klangfarben der Orchesterfassung aus.

Die deutsch-japanische Pianistin Alice Sara Ott, 26, und ihr 33 Jahre junger Kollege aus Luxemburg, Francesco Tristano, spielen Strawinskys „Sacre“-Feuerwerk mit allem Ungestüm der Jugend. Stellen es nicht auf ein museales Podest, stürzen sich mit Wonne auf die harten Brüche. Der Skandal von 1913 ist auf diese Weise natürlich nicht wiederholbar, aber man versteht, was Strawinskys Musik so modern macht. „Es ist Körpermusik“, sagt Tristano, es gibt Parallelen zu den Ausdrucksmitteln von Punk und Techno. Die beiden, auf dieser CD mit dem Titel „Scandale“ von der Deutschen Grammophon lässig als schönes Paar pianistischer Edelrebellen inszeniert, spielen mit dem Gedanken, die Musik auch mal in einem Technoclub zu spielen. Kommen die harten Seiten des „Sacre“ durchaus schon gewaltig zum Tragen, wünschte man sich an anderen Stellen dann doch hier und da einen differenzierten Anschlag – zu viele Klangfarben hat Strawinsky in seine Musik gepackt, zu viele Feinheiten, die beim zupackenden Spiel der beiden doch manchmal unter den Flügel fallen.
Das gilt auch an manchen Stellen für ihre Interpretation der Klavierduettversion von Maurice Ravels bürgerliche Endzeiten heraufbeschwörende „La Valse“, der den seligen Wiener Walzer ein letztes Mal aus dem Kaffeehausgemurmel und Ballgetümmel aufsteigen lässt, bevor er ihn dekonstruiert und auflöst – unglaubhaft und überflüssig gewordene, taumelnde Walzerseligkeit, der Abgesang an die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg, der in die Zeit der Komposition fiel – die erste Idee hatte Ravel 1906, als Orchesterwerk wurde „La Valse“ erst 1920 uraufgeführt. Da fehlen dann doch bei Ott/Tristano etliche atmosphärische Zwischentöne.

Auf der CD finden sich auch noch ein Satz aus Rimsky-Korsakows „Scheherazade“. Und als Zugabe, ganz aus dem Hier und Jetzt eine Eigenkomposition von Francesco Tristano, „A Soft Shell Groove“, ein agiles nervöses, rhythmusbetont hingetupftes Werk - atemlose, spannende Aktualität.


Alice Sara Ott/Francesco Tristano: Scandale. Werke für Klavierduett in den Fassungen der Komponisten.
- Strawinsky: Le Sacre du printemps
- Ravel: La Valse
- Rimsky-Korsakow: Die Geschichte vom Prinzen Kalender aus „Scheherazade“
- Tristano: A Soft Shell Groove
CD Deutsche Grammophon
Nr. 479 2398

Video zu „Le sacre du printemps
Making-of-Video
La Valse
A Soft Shell Groove


Abbildungsnachweis:
Header: Francesco Tristano und Alice Sara Ott, Foto: Marie Staggat (DG)
CD-Cover

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