Kopf-Hörer 18
- Geschrieben von Hans-Juergen Fink -
Alexander M. Wagner ist 22 Jahre jung. Er brilliert bei TYXart mit Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert und präsentiert seine eigene zweite Symphonie. Außerdem empfohlen: Les talens lyriques mit Rameaus Miniballettoper „Pygmalion“, das Quatuor Modigliani mit Schumanns drei Streichquartetten, Yaara Tal mit Polonaisen von Mozart Sohn und Chopin sowie Mendelssohns fünf Symphonien, dirigiert von Yannick Nézet-Séguin.
Alexander M. Wagner: The Moscow Recording. Das ist schon eine starke Ansage für einen 22-jährigen Pianisten und Komponisten. Kühn auch der Titel der CD von Alexander Maria Wagner; er führt kaum von ungefähr in die Nähe von „Horowitz in Moscow“ und „Glenn Gould live in Moscow“. Auf dem Cover wagt der Künstler den Schritt von der Stein-gewordenen Klassik ins wolkig Leere. Nach dem Hören können wir mit Hilde Domin konstatieren: Er wagt den Schritt in die Luft – und sie trägt. Inhalt des Tonträgers: Tschaikowskys b-Moll-Klavierkonzert und die 2. Sinfonie. Bei ersterem ist Alexander Maria Wagner Solist, letztere hat er komponiert. Zwei bemerkenswert kraftvolle Auftritte mit dem RTC Symphony Orchestra Moscow unter Alexei Kornienko. Wagners Tschaikowsky erklingt befreit von spätromantischen Klangträumereien, als drängendes, frappierend modernes Werk. Der Solist meißelt hier gerade die schnelleren Passagen kristallin klar heraus, setzt energetisch mitreißende Akzente, kleistert harmonische Kühnheiten Tschaikowskys nicht zu. Eine kraftvolle, entschiedene, selbstbewusste, punktuell auch eigenwillige Interpretation. Klug kombiniert mit der halbstündigen 2. Sinfonie nach Sprachbildern aus einem Gedicht von Wagners Mozarteum-Kollegin Johanna Kapelari. Wie kann man diese Musik beschreiben, die vom ersten Moment angefangen nimmt? Vielleicht gleicht sie einem großen Gemälde mit vielfältigen Stilelementen – melodischen Fragmenten, Klangflächen, atonale Zwischenrufe. Man wird hier erinnert an Ligeti, dort ein wenig an Holst und Strawinsky – ohne dass je die Idee, mit sehr Eigenständigem konfrontiert zu sein, verloren geht. Wagner komponiert so klar, wie er seinen Tschaikowsky spielt – seine Musik hat etwas Zwingendes. Nicht strukturell zwingend oder verbissen, sondern zwingend den sonderbaren Wegen tief empfundener Poesie folgend. Das fordert das Hirn zwischen den beiden Ohren des Zuhörers, es bereichert durch starke vorbeiziehende Klänge und Bilder. Und hinterlässt den Wunsch: Davon möchte man mehr hören!
Alexander Maria Wagner: The Moscow Recording
Tchaikovsky: Piano Concerto No. 1 / Alexander Maria Wagner: Symphony No. 2. RTV Symphony Orchestra Moscow, Leitung: Alexei Kornienko.
1 CD
TYXart TXA 17096
Les Talens lyriques: Rameaus “Pygmalion”. Ein kleiner Theater-Coup ist dieser “Pygmalion” aus der Feder von Hofkomponist Jean-Philippe Rameau, 1748 uraufgeführt. Ein Zwischending zwischen Ballett und Opernfragment, einer damaligen Mode folgend kurz, damit mehrere solcher Häppchen zu einer vielfältigen, opulenten Vorstellung zusammengebunden werden konnten. 45 Minuten feinster Rameau also, komponiert – so will es die Legende – in nur acht Tagen. Konzentriert, keine Arien in Überlänge, viel Orchestermusik für die Ballettauftritte. Und bestimmt nicht dadurch am Erfolg gehindert, dass der Stoff (Bildhauer verliebt sich in eine von ihm geschaffene Statue) ein paar Jahre zuvor wegen libertiner Atmosphäre von der Zensur dem Scheiterhaufen übergeben wurde. Les talens lyriques unter Christophe Rousset spielen das mit federnder Eleganz, transparent im Streicherklang, warm in den Holzbläsern, mal auch rumplig, wenn in der Orchester-Suite „Les Fêtes de Polymnie“ Pauken und Trompeten dazukommen. „Pygmalion“ war ein Bühnenhit der damaligen Zeit (nach der Uraufführung mehr als 200mal gespielt), der in der kleinen Form alle Reize des Theaters vereinte. Hier aufgenommen mit einem Quartett feiner schlanker Stimmen (Cyrille Dubois, Marie-Claude Chappuis, Céline Scheen und Eugénie Warnier). Als Vokalensemble ist der Arnold Schönberg Chor dabei.
Rameau: Pygmalion & Les Fêtes de Polymnie. Les talens Lyriques
Arnold Schoenberg Chor, Leitung: Christophe Rousset.
1 CD
Aparte AP 155
Quatuor Modigliani: Schumann-Streichquartette. Vier Jahre Anlauf und zwei Sommermonate Komponierarbeit im Jahr 1842 brauchte Robert Schumann, um sich den Kosmos dieser Gattung in den drei Quartett-Kompositionen seines op. 41 zu eigen zu machen und ihm seinen Stempel aufzudrücken. Sie blieben seine einzigen Ausflüge in die Welt der Quartette. Sind die ersten beiden noch deutlich geprägt von Schumanns respektvollem Blick auf die Tonsprache Haydns, Mozarts und des späten Beethoven, tritt im dritten Schumanns ganz eigene Diktion hervor, die ihr Ziel in romantischen Klängen findet, die sich mit dem Können aus seinen kontrapunktischen Studien und mit dem seiner Vorläufer im Geiste in großer Vollendung verbindet. Das Quatuor Modigliani, 2003 gegründet am Pariser Konservatorium, ist nach 1000 Konzerten in fast 15 Jahren längst im Streichquartett-Olymp zu Hause. Die vier Musiker spielen in den großen Hallen der Welt, und ja: Sie waren auch schon im großen Saal der Elbphilharmonie zu Gast. Seit 2014 leiten sie das kleine, feine Festival „Rencontres Musicales“ in Evian am Genfer See. Die Modiglianis bestechen durch einen faszinierend dichten, geradezu hypnotisch intensiven Klang, der in den Kopfsätzen Schumanns komplexe Strukturen hörbar macht, in den langsamen Sätzen tief in die Empfindungen der Seele eintaucht und der in Scherzi und lebhaften Schlusssätzen zupackend lebendig auftritt. Aufgenommen wurde diese CD in „La Grange au Lac“ im hölzernen 1100-Sitze-Konzertsaal des Festivals in Evian – die passende mitschwingende Hülle für Schumanns bewegende Musik.
Schumann: Quatuors à cordes opus 41
Quatuor Modigliani
1 CD
Mirare MIR 346
Yaara Tal: Polonaisen von Mozart Sohn und Chopin. Der eine stammt aus Polen und ging dann in den Westen, der andere stammt aus Wien und verbrachte lange Jahre seines Lebens in Lemberg, das zu seiner Zeit im südpolnisch-westukrainischen Galizien lag und zur Habsburgermonarchie gehörte. Während Frédéric Chopin der melancholisch-widerspenstige Gestus der Polonaise im Blut lag, hat Wolfgang Amadeus Mozarts komponierender Sohn Franz Xaver, zur Welt gekommen vier Monate vor dem Tod des Vaters, sie wohl auch in Polen studieren können. Der Komponist, der sich Wolfgang Amadeus Mozart Sohn nannte, sollte nach dem Willen der Mutter in die Fußstapfen des Vaters treten. Er galt einerseits als authentischer Interpret der Klavierwerke seines Vaters und versuchte andererseits, sich von den Fesseln des großen Vorbilds zu lösen und eigenständige Musik zu schreiben. So wie die zehn Polonaises mélancholiques op. 17 und op. 22. Komponiert hat Mozart Sohn sie 1811 bis 1814. Es sind kleine, wohl auch zu Übungszwecken seiner Schüler/innen geschriebene Werke, klassisch klar in den Melodien, oft orientiert an der kunstvoll reduzierten Klaviersprache des Vaters, aber auch schon auf der Suche nach einem hinter jenem liegenden Ziel, Gefühle noch direkter auszudrücken. Das erreicht dann Chopin mit seinen drei hier dazu gestellten frühen Polonaisen, die 1821–1829, also noch in Chopins polnischer Zeit entstanden. Chopin vertieft die Melancholie und das Pathos der ehemaligen Tanzform, die Strenge der Form öffnet sich der Emotionalität der Romantik. Eine hübsche Verbindungslinie zwischen der Wiener Klassik und der beginnenden romantischen Epoche. Aufgespürt und eingespielt hat sie die israelische Pianistin Yaara Tal. Eine Aufnahme so detailreich, dass sie ein zweites Hinhören geradezu herausfordert.
Franz Xaver Mozart/F. Chopin: Polonaise
Yaara Tal, Piano.
1 CD
Sony 8898 5446 942
Nézet-Séguin: Mendelssohn – Symphonien 1-5. Er ist einer der jungen Sterne (Jahrgang 1975) am Dirigentenhimmel, überhäuft mit Ehren und mit Ämtern in Philadelphia, Rotterdam, in seiner kanadischen Heimatstadt Montreal und in London. Und dazu kommt noch die Stelle als Chefdirigent der Metropolitan Opera in New York. Orchester und Publikum bezaubert er durch gut durchlüftete Interpretationen, zeitgemäß, entrümpelt, auf den Kern der Werke abgeklopft. So wie jetzt bei den fünf Sinfonien von Mendelssohn für großes Orchester, als Box hervorgegangen aus drei Konzerten in der Pariser Philharmonie. Nézet-Séguin schafft es auch hier: Locker zerbröselt er das Klischee vom allzu leichtfüßigen Komponierer. Gleich die ersten Takte der Ersten aus dem Jahr 1824 zeigen, wohin diese Mendelssohn-Reise geht: zur schlanken Präzision, zur kompakt konzentrierten Leichtigkeit, aus der alles hervorgehen kann: romantische Anklänge, nie süßlich oder spätromantisch schwer. Geheimnisvolle Nebel, Glaubensfreude, nicht -verbissenheit, ja, fast Tanzschritte in der Fünften. Selbst der Reformationssymphonie und dem Choral „Ein feste Burg“ wird das Pathos ausgetrieben, eher gibt es Anklänge an Mozarts tiefe Humanität, für einige Takte auch mal pure Walzerseligkeit. Zügig gespielt das alles, auch mal – Finalsatz der Italienischen (ansonsten feiner Prosecco) – jenseits des vernünftigen Tempolimits, Mendelssohn für die Ohren von heute, transparent, schwingend. Akkurate Fugati, uhrwerksgleiche Bläser-Staccati. Künstliche Bedeutung muss dem Komponisten hier niemand verleihen, die kommt in dieser Interpretation von ganz allein durch die Spielweise des vorzüglichen Chamber Orchestra of Europe. Schade, dass der RIAS Kammerchor in der Aufnahme der Zweiten („Lobgesang“) in Sachen Brillanz nicht ebenso gut aus den Lautsprechern kommt, das klingt ein wenig verschwommen und unscharf. Sonst eine Symphonien-Box, deren Einspielungen längere Zeit Gültigkeit besitzen und Freude bereiten werden.
Felix Mendelssohn: Symphonies 1–5
Chamber Orchestra of Europe, RIAS Kammerchor, Leitung: Yannick Nézet-Séguin.
3 CDs
Deutsche Grammophon DG 00289 4797337
Abbildungsnachweis: CD-Cover
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