Kultur, Geschichte & Management
Horst Dietrich

Mehr als 40 Jahre lang war er der unermüdliche Motor des ersten alternativen Zentrums für Kultur, Konzerte, Debatten und Stadtteilarbeit.
Er starb im Alter von 79 Jahren.

Vielleicht muss man so sein, wenn man es schafft, sich mit einer anfangs privaten Initiative ins kulturelle Gedächtnis einer Stadt einzuschreiben: Leidenschaftlich. Hartnäckig. Mit Ecken und Kanten. Dickfellig. Quer- und zuweilen auch starrköpfig. All das braucht man, wenn man sich wie der gebürtige Altonaer Horst Dietrich auf ein solch verrücktes Projekt einlässt, wie es die Gründung der „Fabrik“ im Jahr 1971 war: ein offenes Haus im Spannungsfeld zwischen Kultur, Politik und Stadtteilarbeit, für das es damals kein Vorbild gab.

Vieles davon wächst einem aber auch zu, während man diesen Dampfer mehr als 40 Jahre lang sicher durch alle Klippen steuert, die der Kulturbetrieb so bereit hält – der Hamburger sowieso.
Man musste Dietrich nur in seinem Büro auf der zweiten Galerie besuchen, oben über dem „Fabrik“-Betrieb, um zu spüren, was ihm die „Fabrik“ bedeutete. Dort residierte er, sportlich-schlank, blaues Hemd und Jeans, weißes Haar und ein Gesicht, in dem das Leben Spuren hinterlassen hatte. Seine kleine Butze, zu der sich die Tür zwischen den vielen Plakaten aus großen „Fabrik“-Zeiten öffnete, ähnelte eher einer Geschichtswerkstatt – Dokumente, Plakate, Fotos, Bücher, Flyer, Schriftstücke, Ordner, Briefe aus Jahrzehnten. Alles war wichtig, nichts verzichtbar, denn alles war ein Stück seines Lebenstraums. Horst Dietrich fand mit einem Griff, was er gerade brauchte. Und er hatte dort oben immer sein Ohr am Leben in der „Fabrik“ – Theaterproben, Soundcheck, herumtobende Kinder.

Dietrich ist eigentlich Maler; die letzte Ausstellung im Kunsthaus hat er 1973. Da gibt es die „Fabrik“ schon. Die Idee dazu hatte er zusammen mit Friedhelm Zeuner, einem Freund und Architekten, in den Nachwehen der Studentenrevolte von 1968. Da diskutierte man über Mao, die RAF, den Vietnamkrieg. Bis jemand fragt: Und was können wir in Altona tun? Hier bei uns?

Die „Fabrik“-Idee ist ein Magnet: eine leere Maschinenfabrik im Herzen von Ottensen, 150 Jahre alt, Nebengebäude, Platz für einen großen Garten für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus dem Stadtteil. Zu haben für 3.200 D-Mark Erbpacht pro Monat. Konzerte soll es hier geben, einen Treffpunkt, Ort politischer Debatten, dazu Kinder- und Jugendarbeit. Kultur für alle. Ottensen ist da noch lange nicht auf dem Weg in die Alternativ- und Latte-Macchiato-Gesellschaft. Die „Fabrik“, so wollen es die Gründer, wird sich auch um Rocker und Straßenkinder kümmern. Und natürlich politische Debatten veranstalten.

Im Sommer 1971 wird die „Fabrik“ eröffnet. Für Horst Dietrich ist sie fortan das Abenteuer seines Lebens. Auch wenn er und viele andere ihre ganze Arbeitskraft hineinstecken, wird das Geld kaum reichen. Aber was bedeutet das schon in einer Zeit, in der langes Nachdenken über die Konsequenzen für Lebensweg oder Altersrente als spießig gilt?

Die Idee ist ein Volltreffer – bald stehen berühmte Künstler aus aller Welt auf der Bühne. An einem Tag ist das vielleicht ein unbekannter Newcomer wie der junge Otto stehen, am nächsten ein Weltstar wie Miles Davis, am dritten feiert man den Komponisten Mikis Theodorakis, der gegen die Militär-Junta in seiner griechischen Heimat agitiert. In der „Fabrik“ spielen neben unzähligen anderen Gil Evans, B.B. King, Nina Simone, die Blues Brothers, Meat Loaf, Miriam Makeba, Salif Keita, Screamin’ Jay Hawkins, Herbie Hancock, Etta James, Georges Moustaki, John Lurie, John Cale, John Zorn, Yothu Yindi, Eric Burdon, Maceo Parker, Meredith Monk, Mari Boine, Dizzie Gillespie, Chet Baker, Dino Saluzzi, Michel Petrucciani, Lee Ritenour, Chaka Kahn, Robben Ford, Henry Rollins, Calexico, Terry Callier, Pere Ubu, Tortoise, Esbjörn Svensson, Ten Years After, Sergio Mendes, Mike Stern, Candy Dulfer, Gilberto Gil, Gil Scot Heron, Al Di Meola, Kris Kristoferson, Jazz Crusaders, Mother´s Finest, Spyro Gyra, Koinonia, Sonny Rollins, Willy DeVille, Pere Ubu, Lucinda Williams, Bonnie „Prince“ Billy, Udo Lindenberg, die Boogie-Pianisten um Axel Zwingenberger, Vince Weber und Gottfried Böttger. Und bei vielen Zuhörern schreiben sich solche Konzerte als Fixpunkte der Erinnerung in die persönliche Biografie ein.

Die „Fabrik“ mit ihrem eingängigen Motto „Kultur für alle!“ entpuppt sich rasch als Anziehungspunkt für jugendliche Hamburg-Reisende – niemand war in Hamburg, der nicht wenigstens einen Abend in der „Fabrik“ verbracht hat. Sie wird, wie das 1970 gegründete „Pö“ ein alternativ-kultureller Leuchtturm jener Jahre. Und die Idee infiziert bald andere Städte, überall entstehen nach dem Modell der „Fabrik“ ähnliche Projekte der Kulturarbeit.

In der „Fabrik“ arbeitet ein eingeschworene Crew: Horst Dietrich entwickelt sich zum Manager („obwohl das nie so mein Ding war“), alle haben den Traum vom selbstbestimmten, demokratisch geregelten Leben. Träume sind nichts für die Ewigkeit, aber einige Mitarbeiter der ersten Stunde arbeiten heute noch dort. Die „Fabrik“ ist nicht nur Familie, sie gründet auch Familien: 1972 lernt Horst Dietrich in der „Fabrik“ seine Frau Katharina kennen – sie arbeitet dort als Sozialpädagogin.

Das Projekt läuft bestens, aber es erntet nicht nur Zustimmung. Im Februar 1977 vernichtet ein Feuer das Kulturzentrum, das auch pointiert politisch Position bezieht. Horst Dietrich geht von Brandstiftung aus: „Wir hatten viel Ärger, zum Beispiel mit der NPD.“ Aber da ist die „Fabrik“ schon viel zu tief im Stadtteil und in Hamburg verwurzelt, als dass ein Feuer sie zum Aufgeben bewegen könnte. Schon am Tag danach pinselt Dietrich auf die rußgeschwärzten Mauern: „Wir machen weiter!“ Der Senat hilft mit, bald kauft die Stadt das Gebäude, das Projekt „Fabrik“ ist von da an Mieter und Subventionsempfänger. Seit dem Wiederaufbau krönt der 15 Tonnen schwere Lastkran als Wahrzeichen das Dach der „Fabrik“. Im September 1979 sie mit einem dreitägigen Fest wiedereröffnet.

Horst Dietrich war nie einer, der spaßfrei leben wollte. Das wird bei rechten Linken immer wieder Stein des Anstoßes. Sein Wohnsitz an der Schlei, die Disco, die er zeitweise in Kiel betreibt, seine Segel-Leidenschaft. Dass er seine Lebensversicherung auflöst und die Summe in die „Fabrik“ steckt, findet man weit weniger interessant. Oder dass er, wie andere Mitarbeiter auch, in Zeiten knapper Kassen monatelang auf sein Geschäftsführergehalt verzichtet.

Um die Höhe des notwendigen Zuschusses gibt es immer wieder schon fast ritualisierten Streit. Auch über die Publikumszahlen wird manchmal diskutiert. Es gibt nämlich auch Zeiten, in denen es ruhiger ist um die „Fabrik“, der Musikgeschmack des Publikums ändert sich. Über neue Musikrichtungen konnte man mit Horst Dietrich hin und wieder diskutieren. Wirklich auf Zinne aber brachte es ihn, wenn aus betriebswirtschaftlicher Rechnerei heraus die Arbeit mit den Kindern aus dem Stadtteil kleingeredet wurde. „Ohne die wäre die Fabrik doch ein Musikschuppen wie jeder andere.“ Die idyllische Naturoase hinter dem Konzertgebäude, „das ist unsere Seele.“ Dutzende Kinder und Jugendliche vielerlei Herkunft kommen täglich zum Spielen, Basteln, zur Hausaufgabenbetreuung, zum Fotografieren, Theaterspielen und Sport, Backen und Internetten. Betreute, aber unformatierte Freizeit an einem Ort kreativer Möglichkeiten. Wenn das jemand wegoptimieren möchte, stellt sich Dietrich ganz quer. Hörbar und unbequem. Seit 2006 soll die Fabrik-Stiftung die Kinder- und Jugendarbeit sichern.

Erst 2012, im Alter von 77 Jahren, hat Horst Dietrich die Geschäftsführung abgegeben. Es fiel ihm schwer, denn für ihn war die „Fabrik“ nie bloß ein Job. Menschen wie er handeln aus Überzeugung und Leidenschaft. Mag sein, dass so etwas heute altmodisch erscheint. Aber nur so werden Dinge ermöglicht, die eigentlich unmöglich erscheinen – und genau das war eine der großen Tugenden des „Fabrik“-Arbeiters. Freunde schrieben zum Abschied: „Du hast unzähligen Menschen Freude bereitet, hinreißende Konzert- und Theatererlebnisse möglich gemacht und vielen Kindern und Jugendlichen unvergessliche Momente ihrer Kindheit geschenkt.“
Hätte ihn jemand als Visionär bezeichnet, Horst Dietrich wäre das peinlich gewesen. „Ich hab immer nur getan, was getan werden musste“ – so hat er das gesehen. Es war deutlich mehr.


Headerfoto: Privat

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