Leben wir nicht in bequemen Zeiten? Schließlich sind heute ausgewiesene Spezialisten so nett, an unserer Stelle über unser richtiges Verhalten und unser rechtes Leben nachzudenken.
Der Deutsche Bundestag beruft schon seit vielen Jahren den „Deutschen Ethikrat“, deren Vorsitzende in der Presse als „Chefethikerin“ apostrophiert wird, und der Bundestagspräsident empfiehlt dringend, dessen Ratschläge zu befolgen.
Zusätzlich gibt es noch eine Menge Leute, die sich selbst für Fachleute auf diesem Gebiet halten und deshalb als „Ethiker“ eine gewisse Autorität beanspruchen. So hat der Philosophieprofessor Wolfgang Lenzen in einem vielgelesenen Buch selbstbewusst festgestellt: „Qua Profession Fachmann für ethische Fragen ist allein der Philosoph“. Na Prost! Da können ja alle anderen getrost das Denken einstellen.
Nehmen wir nur einmal diese genannte „Ethikkommission“ – für jeden, der ein Ohr dafür hat, muss die Kombination der beiden Substantive unerträglich sein. Hört denn niemand, dass das nicht zusammenpasst, dass es absolut unmöglich sein muss, in einer Kommission über das Gute und Rechte nachzudenken? Weiß denn niemand mehr, dass es in der Ethik um etwas mehr als nur darum geht, wer als erster geimpft wird? Womit sich die Ethik beschäftigt, hat in aller Kürze ein Dichter ausgedrückt, der eigentlich nicht als Moralphilosoph in die Literatur eingegangen ist. Und doch hat er das getan, was wir alle tun sollten: Walther von der Vogelweide hat in dem berühmtesten seiner Gedichte, in „Ich saz ûf eime steine“, darüber nachgedacht, wie man in der Welt leben sollte („wie man zer welte solte leben“).
Franz Vonessen (1923-2011) hat sich nicht so lakonisch ausgedrückt, und meines Wissens hat er Walther auch nirgendwo zitiert, aber mit dieser Zeile wäre er ganz gewiss einverstanden gewesen. Mit großem Nachdruck hat er – in diesem Buch wie auch sonst – darauf bestanden, dass es um uns selbst geht, und den Unterschied von Theorie und Praxis hat er als sophistisch abgelehnt. Eine Theorie, die nicht in Praxis mündet – in einen Entschluss –, war ihm nichts wert.
Vonessen war ein Rigorist und Moralist, dessen bekanntestes Werk, „Die Herrschaft des Leviathan“ (1978 / 1996), seit seinem Erscheinen die Gemüter hätte ansprechen sollen. Ginge alles mit rechten Dingen zu, würde es gerade in diesen Tagen heftig diskutiert – in ähnlicher Weise wie „Die Perfektion der Technik“, mit dessen Autor, Georg Friedrich Jünger, Vonessen bekannt war und an dessen Analysen und Einsichten er in mancher Hinsicht anschließt. Tatsächlich aber ist sein Buch vergessen, und die öffentlichen Bibliotheken haben es in ihre Magazine verbannt, damit nur niemand auf es stoße, wenn er nach Lektüre suchend an den Regalen vorbeistromert. Und bei den einschlägigen Händlern im Internet erscheint es nicht gelistet, weil die Stiftung, in deren Buchreihe es in einer erfreulich wohlfeilen und dazu schönen Ausgabe erscheint, die Zusammenarbeit ablehnt.
Thema des Buches ist auch – auch! – die Zerstörung der Natur, die Ende der Siebziger zwar noch bei weitem nicht so weit fortgeschritten war wie heute, aber doch der Mehrheit mehr und mehr bewusst wurde. Hauptsächlich aber ist „Die Herrschaft des Leviathan“ eine Philippika über das Verhalten und das Denken der Menschen, und so findet sich folgerichtig die Rückseite von Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1499) als Vorsatzblatt in diesem Buch. Der Hinweis auf Brants berühmtes Buch (selbst im Englischen ist das „ship of fools“ bis heute sprichwörtlich) zeigt die Richtung an, die der Autor einzuschlagen gedenkt: Er will in aller Strenge auf das Narrentum in dieser Welt hinweisen.
So kühl und distanziert Jünger analysiert und argumentiert, so empört und engagiert schreibt Vonessen. Aber wie Jünger, so geht es auch ihm um die Veränderung unseres Bewusstseins. Zweifellos lag ihm die Vergiftung von Wasser und Luft auf der Seele, und doch ist für Vonessen die „Bewusstseinsverwüstung unter den Menschen […] größer als die Verwüstung der Natur, die sie anrichten.“ Und es ist diese Verwüstung, die er beschreibt und anprangert. Besonders am Ende seines Buches spricht er noch einmal aus, worum es ihm geht: um das Gewissen. Er will die „Bewußtseinskrankheit“ schildern, „die ihrerseits erst die Folgekrankheiten […] bewirkt hat.“
Für Vonessen, der ein entschiedener Gegner der Atomkraft war und besonders die Verschmutzung des Wassers beklagte, ging es also keinesfalls um einzelne Techniken oder diese oder jene „Umweltprobleme“. Das „Umweltproblem“ nennt er sogar, was viele provozierend finden werden, in einer Kapitelüberschrift ein „sogenanntes“. Nein, sein Buch war eine scharfe – manche werden sagen: zu scharfe, zu polemische – Kritik an der Moral unserer Zeit: „Es gibt auch“, heißt es in seinem Buch, „geistig-moralische Brunnenverseuchung.“ Eben der moralischen Vergiftung ist sein Buch gewidmet. Der Leviathan, den es beschreibt, ist das „Wesen, das allem Bösen zugrundeliegt.“ Vonessen sucht dieses Unwesen nirgendwo sonst als in uns selbst.
Ihren ganz eigenen Charakter gewinnen die Bücher Vonessens durch den Bildungshintergrund des Autors, der als Altphilologe gern die griechischen und lateinischen Klassiker zitiert, nicht selten in eigenen Übersetzungen, sowie durch die Bedeutung, die in seiner Argumentation dem Mythos, dem Märchen und der Symbolik zukommen. Er etymologisiert fleißig, orientiert sich also an der „Weisheit der Sprache“, und schreibt, „daß die Wahrheiten, die uns wesenhaft angehen, uralt sind; nur periphere Wahrheiten wachsen ständig neu aus dem Boden.“ Mit den heute üblichen, formallogisch überaus korrekten, aber auch öden und deshalb sehr, sehr langweiligen Letztbegründungen und messerscharfen Definitionen belästigt er den Leser jedenfalls nicht, sondern beruft sich immer wieder auf altes und ältestes, sehr gerne bildhaftes oder überhaupt sinnliches Wissen: „die Bilder sind der Weg zum Begriff, kein Hindernis für den Logos, sondern dessen Substanz – der mütterliche Boden des Denkens“. In solchen Passagen erinnert seine Argumentation an die Werke des Lebensphilosophen Ludwig Klages. Wie für Klages, so ist auch für Vonessen der „mythische Mensch“ eine Instanz.
Vonessen nimmt Mythen und Märchen oder Weisheitsdichtung aller möglichen Kulturen, um aus ihnen einen moralischen Nutzen zu ziehen. In dieser Weise liest er den „Sonnengesang“ des Franz von Assisi, den Koran oder, mehr noch, die Thora und Bibel. Im Zusammenhang seines Buches ist sie keine religiöse Offenbarung, sondern eine Sammlung von moralischen Kernsprüchen, für die wir lediglich „offene Sinne“ brauchen, um sie zu verstehen, und das heißt für ihn: ganz unvermittelt auf unser eigenes Leben anzuwenden: Wir „können den Mythos nicht deuten, sondern wir werden gedeutet von ihm.“ Dieser Thematik hat Vonessen mehrere Studien und Essays gewidmet, von denen einige in dem Band „Signaturen des Kosmos“ zusammengefasst sind und um die „Welterfahrung in Mythen, Märchen und Träumen“ kreisen, wie es im Untertitel heißt.
Zurück zum „Leviathan“. Wie sehr Vonessens Vorstellungen vom Mainstream abweichen, macht seine Ablehnung des „Umwelt“-Begriffes deutlich. Bereits in ihm, schreibt er, liege der „Verderb“. Was nun kann jemand, der die Verschmutzung von Wasser und Luft beklagt und Autowahn und Atomkraft ablehnt, gegen dieses Wort, gegen den Begriff „Umwelt“ einzuwenden haben? Umwelt hat ein Tier, das diese Umwelt nur von deren Mitte aus erfassen kann. Auch andere Lebewesen nimmt es allein als einen Teil seiner Umwelt wahr. Der Mensch dagegen hat Welt als einen Raum, der alle Wesen umfasst und in den man sich einordnen muss. Wenn wir von der Umweltproblematik sprechen, dann bedeutet das im Grunde einen Rückschritt, nämlich die Übernahme der Perspektive eines Wesens, das alles auf sich selbst projiziert, weil es ihm nicht gelingt, sich von dieser Perspektive zu lösen. Es ist die Perspektive eines animalischen Wesens, eines Tieres. Deshalb bedeutet „Umwelt“ die Aufgabe der Solidarität mit der einen Welt, in der alle Wesen einverträglich leben.
Für Vonessen, der sich auch hier wieder auf antike Literatur beruft, ist der Mensch „ein Abbild des Kosmos“, also ein Mikrokosmos, und indem er sich auf sich selbst besinnt und sein eigenes, sein wahres Wesen bedenkt, geht er im Makrokosmos auf. So ist die recht verstandene Ökologie für Vonessen Kosmologie. Die innige Beziehung des Selbst mit der Welt, die Spiegelung des Kosmos im Mikrokosmos der eigenen Person macht deutlich, warum die Beherrschung seiner selbst eine wesentliche Tugend sein muss. Es sind antike Tugendlehren, auf die sich Vonessen beruft.
An dieser Stelle sei kurz auf ein anderes Buch hingewiesen, auf José Ortega y Gassets (1883-1955) „Der Aufstand der Massen“ von 1929. Ortega stand den Naturwissenschaften sehr positiv gegenüber und schätzte die Technik seiner Zeit, aber was er beklagte, war unser Verhältnis zu ihr. Thema seines Buches ist weniger die Verwandlung unserer Umgebung durch die Technik, wie sie Friedrich Georg Jünger übte, der in ihr eine „Werkstättenlandschaft“ erblickte, sondern das Psychogramm des Massenmenschen, der von der Technik in ein (so wörtlich!) „verwöhntes Kind“ verwandelt worden sei. Diesen Massenmenschen zeichnet „die ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche“ aus, und so prägt ihn „die grundsätzliche Undankbarkeit gegen alles, was sein reibungsloses Dasein ermöglicht“. Mir fällt dazu der Refrain eines längst vergessenen Schlagers ein, der die Selbstverwirklichung der modernen Frau einforderte: „Ich will alles, ich will alles, und das sofort!“ Das war nun aber wirklich infantil… Vielleicht hat Ortega ja recht? Wie auch immer, diesen Kritikpunkt teilt Vonessen mit Ortega, und dass er dessen Buch kannte, darf man als selbstverständlich voraussetzen.
Der dritten Auflage von Vonessens Buch wurde 1996 ein Kapitel hinzugefügt, in dem der Autor den Tantalos-Mythos interpretiert. Man erinnert sich: Tantalos, selbst göttlicher Herkunft, lud die Götter zu Gast und setzte ihnen seine geschlachteten Kinder als Braten vor. Aber seine Gäste kamen dem Verbrechen auf die Schliche und bestraften ihn, indem sie ihn in die Mitte eines Sees setzten. Wenn ihn der Durst quälte und er sich zum Wasser niederbeugte, dann sank das Wasser in die Tiefe; und wenn ihn der Hunger trieb, nach den Zweigen mit Früchten über seinem Haupt zu greifen, dann beugten diese sich zurück. Vonessen versteht dieses Gleichnis so, dass alles von unseren Bewegungen, von unserem Verhalten abhängt – denn wir alle sind Tantalos.
Es ist für Vonessen zentral, dass der Name des Tantalos etymologisch auf eine Waage zurückweist, darauf. Er schließt daraus, dass sein Verbrechen in einer Störung des Gleichgewichts der Welt gelegen hat – so wie auch wir selbst es durch unser Verhalten tun. Aus dieser Erkenntnis sollte man den Schluss ziehen, dass es eben nicht darauf ankommt, diese oder jene Einzelheit zu ändern – etwa CO2, einzusparen, was ja zweifellos ein löbliches Unterfangen ist –, sondern das System insgesamt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, indem wir unser ganzes Verhalten ändern.
Das zweite, worauf der Mythos in der Deutung Vonessens zurückweist, ist das Verbrechen des Vaters an seinen Kindern: „Das Gemetzel, das wir durch den Luxus, den wir uns leisten, aber nicht zahlen können, an der Nachwelt, an der Zukunft anrichten, muß ungeheuer sein; die Blutbäder auf dem Balkan oder in Ruanda sind gar nichts dagegen.“ Bereits eingangs auch der beiden ersten Auflagen geht es Vonessen um die der Jugend gestohlene Zukunft, wenngleich er sich dort auf die Verschuldung des Staates konzentriert. Natürlich argumentiert er nicht volkswirtschaftlich, sondern findet es fragwürdig, dass „Schulden auf Rechnung der Nachwelt, also der eigenen Kinder“, gemacht werden.
Es gibt noch eine andere Thematik, deren Diskussion sich bis in unsere Tage zieht, ja die erst in den letzten Jahren dank der Fortschritte der Genetik und der Medizin ihre volle Kraft entwickelt hat. Voll aufrichtiger Empörung berichtet Vonessen von dem Vorschlag des Nobelpreisträgers J.B.S. Haldane, ein wenig am Körper des Menschen herumzubasteln, damit er geeigneter für die Raumfahrt sei. Besonders dachte Haldane daran, dem menschlichen Genom Gene des Gibbons einzubauen. Dessen lange Arme, seine Greiffüße und die andere Struktur der Hüfte schienen Haldane dafür disponiert, den menschlichen Körperbau für die Schwerelosigkeit einzurichten, damit diese sich geschickt, wie ein Affe durch das Raumschiff hangeln könne. (Schon zuvor hatten Haldanes Ideen Aldous Huxley angeregt, als dieser an „Schöne neue Welt“ schrieb – der Genetiker hatte zuvor von künstlichen Gebärmüttern phantasiert, und dieser Gedanke erscheint in dem Eingangskapitel des berühmten Buches.) Man kann hieran sehen, dass Vonessen eine bis heute aktuelle Problematik diskutiert, auch wenn er häufiger auf Beispiele zurückgreift, die uns heute schon fast niedlich vorkommen angesichts dessen, was in den letzten Jahren tatsächlich geschehen oder doch ins Auge gefasst worden ist.
„Die Herrschaft des Leviathan“ ist ein schönes und wichtiges, aber eben auch seltsames Buch. Einerseits ist es wie aus der Zeit gefallen – Vonessen gebraucht sogar noch das Verb „sich dünken“ –, und doch ist es hochaktuell und sollte besonders die Jugend ansprechen. Schließlich diskutiert er eine Thematik, welche „Fridays for Future“ umtreibt. Die jungen Leute werden manches sehr verwirrend finden, aber davon sollte sich niemand von der Lektüre abhalten lassen. Sie lohnt sich!
Franz Vonessen: Die Herrschaft des Leviathan. Sieg und Selbstzerstörung des Fortschritts
Dritte, wesentlich erweiterte Auflage. Die Graue Edition
488 Seiten
ISBN 978-3-906336-99-2
Franz Vonessen: Signaturen des Kosmos. Welterfahrung in Mythen, Märchen und Träumen.
Die Graue Edition
383 Seiten
ISBN 978-3-906336-10-7
Franz Vonessen: Krisis der praktischen Vernunft. Ethik nach dem „Tod Gottes“.
Die Graue Edition
291 Seiten
ISBN 978-3-906336-06-0
José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen.
Autorisierte Übersetzung aus dem Spanischen von Helene Weyl. Mit einem Nachwort von Michael Stürmer.
Deutsche Verlagsanstalt
224 Seiten
ISBN 978-3421045775
Abbildungsnachweis:
- Sebastian Brant (1457–1521): Narrenschiff, 1499. Kopie des Originals aus Basel. Quelle: WikiCommons (gemeinfrei)
- Behemoth and Leviathan,1805, Farbradierung von William Blake Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)
- Buchumschlag: Der Aufstand der Massen. Quelle. Deutsche Verlagsanstalt
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