Der Saisonauftakt am Thalia Theater war mehr als mutig, geradezu heldenhaft. Der Hunger danach, wieder analog vor Publikum zu stehen und, ja, die gefühlte Notwendigkeit des Theaters, als Spiegel und Experimentierfeld unserer Kultur und Zivilisation zu dienen, hat scheinbar Unmögliches möglich gemacht.
Thalia-Intendant Joachim Lux verkündete der Presse stolz, dass fast alle abgesagten Premieren nun nachgeholt würden. Corona zum Trotz. Ein dicht gedrängtes Programm entstand aus diesem Nachholbedarf. Mit drei der „ungespielten“ Stücke aus der abgebrochenen Spielzeit begann die Saison. So konkurrierte das Thalia schon im August mit dem Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel und brachte eine Bühnenbearbeitung des 1978 mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Films „Opening Night“ „von John Cassavetes zur Aufführung.
Es ist die Geschichte der Schauspielerin Myrtle Gordon, die bei den Proben zu einer Broadway-Uraufführung mit ihrem eigenen Älterwerden, mit Kontrollverlust und Angst konfrontiert ist, und nicht mehr unterscheiden kann zwischen der Rolle der alternden Schauspielerin, die sie spielen soll, und ihrem Leben. Sie boykottiert die Proben, verfällt zunehmend dem Alkohol und meistert schließlich dennoch sturztrunken die Premiere. In Deutschland fand diese großartige Studie einer nicht mehr jungen Schauspielerin mit Cassavetes’ Ehefrau Gena Rowlands in der Hauptrolle erst 25 Jahre später einen Verleih, in Amerika ging er vollständig unter.
Ein typischer Theaterstoff also aus dem Gedärm des Theaters, in dem Schauspieler agieren. Vielleicht erklärt die radikale Insider-Perspektive ein wenig den Misserfolg des Films und den Reiz für Theaterleute, dafür Bilder zu finden. Anselm Weber hat sich vor sieben Jahren in Bochum daran versucht. Am Thalia hat im Frühjahr die junge Regisseurin Charlotte Sprenger begonnen die Fassung von Brigitte Landes mit fünf Schauspieler zu bearbeiten. Dann kam Corona dazwischen. Dennoch blieb die Truppe zusammen, probte hartnäckig per Zoom weiter und fand eine Maßnahmen-konforme Aufführungsform. Klar, dass diese bewundernswerte Überwindung extremer Hürden mit dem Titel „Opening Night“ das Stück zur Eröffnung werden musste.
So treffen sich 115 Zuschauer auf dem Parkplatz vor dem Thalia in der Gaußstraße, ausgestattet mit Kopfhörern auf Einzelstühlen und dadurch mehr getrennt von, als verbunden mit der Außenwelt. Das Publikum sitzt hier, eine schöne Idee, gleichsam hinter der Bühne. Der Eingang ins Theater ist der Vorhang von innen gesehen. Ein Fest für die Spielenden, die sich über Mikroports im Sicherheitsabstand zuflüstern können. Oda Thormeyer ist als Myrtle Gordon unbestreitbar das Zentrum des Abends, liefert in gelb wallender Robe souverän die vermeintliche Diva ab und spielt sich zickig, rauschhaft und immer verletzlicher in ihre Rolle hinein. Rafael Stachowiak als ihr Regisseur und Tilo Werner als Myrtles Spielpartner, Produzent und Ehemann weichen mit Merlin Sandmeyer als Nebenrollen-Schauspieler und Gabriela Maria Schmeide als zynische Autorin nicht unbedingt zielführend ganz weit nach rechts und links aus für ihre Dialoge. Die kommen dann auch wie aufgesagt daher, innere Beteiligung bleibt auf der Strecke. Szenische Ideen sind hier augenscheinlich dem Diktat der Corona-Regeln zum Opfer gefallen.
Die farbenprächtigen, schrillen und hautengen Kostüme im Siebziger-Jahre Design von Aleksandra Pavlovic sind jedenfalls ein Hingucker. Ebenso witzig wollen die Requisiten sein, die auf dem Parkplatz auftauchen: Ein Auto, das aus einer Garage geholt und wieder hineingeschoben wird, eine Tribüne, die auseinanderzufallen droht, ein schwarzes eiförmiges Fellmonster mit roten Glutaugen. Doch sie liefern bestenfalls skurrile Bilder und verstärken den Eindruck des ergebnislosen Suchens nach einer Spielform. Wer das Filmsetting und den Plot nicht kennt, ist hier aufgeschmissen.
Ganz anders, nämlich fokussierter und besinnlicher, ging es im Großen Haus weiter. Zunächst sehr besinnlich mit Jens Harzer, der im Wechselspiel mit Musikern aus dem Ensemble Resonanz aus Friedrich Hölderlins posthum erschienenen Briefroman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ las. Ein für den April geplanter, feiner kammermusikalischer Abend, der jetzt vor dem ausgedünnten Publikum im großen Saal eine ergreifende Intimität erzeugte. Wie Harzer sich hineinlegt in den romantisch auftrumpfenden, aufbegehrenden, liebestrunkenen und resignierenden Ton Hölderlins, das ergänzt sich perfekt mit der Musik, die von Fanny Hensel und Beethoven den Bogen in die Moderne schlägt zu Alban Bergs Largo Desolato aus der Lyrischen Suite. Hier entsteht aus der Reduktion auf das Wesentliche, auf Stimme und Ton, ein Freiraum für Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit des Ausdrucks, hinter der Musiker und Schauspieler ganz und gar auf der leeren Bühne zurücktreten. Spielend entsteht so die Freiheit dem eigenen Denken und Fühlen nachzuspüren.
Im Kontrast dazu führte Antu Romero Nunes drei Schillerdramen in seiner „Ode an die Freiheit“ in drei ironisch zugespitzten und unerwartet humoresken Szenen vor. Wie man es freilich von Nunes nicht anders erwartet, der mit dem Schauspieler Jörg Pohl in die Leitung des Schauspiels am Theater Basel wechselt. Schon die thematische Abwandlung von Schillers Gedicht „An die Freude“, die Beethoven in der 9. Symphonie vertonte und die dann zur Hymne Europas wurde, ist „Freiheit“ nicht nur eine Anspielung an die künstlerische Freiheit, die sich Nunes nimmt. Es ist auch die innere und unliebsame Wahrheit der das Patriarchat bejubelnden und nationalistisch verklärenden Rezeption der Beethoven-Ode, die Nunes so lässig zum Vorschein bringt. Selbst Schiller betrachtete seine Dichtung selbstkritisch nicht etwa als großen Wurf, sondern als vergängliches Produkt seiner eigenen vorrevolutionären Begeisterung um 1780. Der Glaube an die einende Kraft der Nationen und der gesellschaftlichen Fundamente in Europa ist heute ebenso fraglich und fragil wie der Begriff der Freiheit selbst. Rosa Luxemburgs Worte „Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden“ stehen auf dem Prüfstand. Wo beginnt, wo endet sie?
Für Nunes kann man Luxemburgs Zitat auf jeden Fall erweitern: um die Freiheit, das Andere zu denken. Geradezu eine Aufforderung an den experimentierfreudigen Regisseur, Schiller gegen den Strich zu lesen und, unter Corona-Bedingungen verschärft, mit neuen Medien zu betrachten. Das begann schon im März, als Nunes zunächst sehr kreativ Teile seiner Probenarbeit in Theaterfilme umwandelte, die das Thalia auf seiner Website zeigen konnte. Es galt, die textimmanente andere Wahrheit der Freiheit zu finden, einen Blick in den Schatten der Freiheit zu werfen.
Dafür hat Nunes jene populären Klassiker, die von der Schullektüre her noch als vertrackte Konstrukte über Schillers Moralbegriff in Erinnerung sein mögen, in Kleinstbesetzung auf jeweils eine einzige Szene heruntergebrochen und zu einer subtilen gedanklichen Schleife verarbeitet. Es beginnt mit Wilhelm Tell, den Paul Schröder vor dem bühnenfüllenden Gemälde einer dräuenden Bergwelt (von Matthias Koch) zum Gegenbild eines unbeugsamen Freiheitskämpfers werden lässt: zu einem knorrigen und halsstarrigen Hinterwäldler, zur Karikatur eines Reichsbürgers. Mit sichtlichem Genuss zelebriert Schröder die kehligen Laute des Schweizerdeutsch, scheucht seinen tumben Sohn Walter aus dem Schlaf und von der Bühne, schwadroniert von der Freiheit der Bergvölker und führt damit die Mystifizierung seiner eigenen Engstirnigkeit vor. Ihm tritt ein gewandelter Landvogt Gessler in Thomas Niehaus entgegen, freundlich, weltgewandt und diplomatisch, ein resignierter Beamter, ein Verwalter der Habsburger wider Willen, der sich zurücksehnt nach Wien, sich abgeschoben fühlt in die Provinz und Tell nichts als Gleichmut und Mitleid entgegenbringt. Die Quittung: Tell zückt den Apfel, den er vom Kopf seines Sohnes schießen will, voll Wut aus der eigenen Tasche, und schießt, obwohl der Landvogt ihn davon abbringen will. Tells Mord an Gessler mit seiner Armbrust hat umso mehr den schalen Nachgeschmack jeder Revolution. Thomas Niehaus, der zuvor auch Tells Sohn gespielt hat, legt sich am Ende wieder in die gleiche Position wie am Anfang und schlüpft in die Rolle des schlafenden Walters zurück. Ein kleiner Ausflug in die andere Wahrheit der Freiheit. Es könnte ein Traum gewesen sein.
Ebenso bemerkenswert ist Nunes’ Destillat von „Kabale und Liebe“. Hier spielen Jörg Pohl und Cathérine Seifert das Ehepaar Miller, das seine Tochter Luise, frech und schnoddrig im Spiel von Lisa Hagmeister, von einer nicht standesgemäßen Heirat mit dem Präsidentensohn abbringen möchte. Im Widerspruch zu den barocken Kostümen, Perücken und dem herrschaftlichen Salon mit übergroßen Familientisch (Kostüme von Victoria Behr) und den toxischen Männlichkeitsbehauptungen von Musikus Miller haben hier die Frauen das Sagen. Was mag in all den scheinbar blutleeren, moralisch integren und hölzernen Frauenfiguren Schillers vorgegangen sein? Nunes gibt Antwort: Es kommt zu einem Vulkanausbruch weiblicher Kraft in Mutter und Tochter. Und es geschieht eben das, was in Schillers Drama keinen Platz hatte. Die drei imaginieren rasant und im Stil des Grand Guignol die bevorstehende Tragödie, indem sie abwechselnd in die Rollen des Präsidenten, seines Sohnes Ferdinands, Lady Milfords und des intriganten Sekretärs Wurms schlüpfen. Auch hier führt der Giftmord in die Anfangsszene am Familientisch zurück, nur stellt Nunes dabei – ganz folgerichtig – den Ausgang der Tragödie auf den Kopf. Überlebenskampf statt Liebestod. Klassenunterschiede gibt es, um sie zu überwinden.
Noch ein wenig weiter treibt er es mit Karin Neuhäuser und Barbara Nüsse beim Blick auf die beiden Königinnen in „Maria Stuart“. Die beiden Grandes Dames des Thalias, ebenfalls in historischen Kostümen und enormen Perücken, liefern sich wortreich ihr Gefecht der Eitelkeiten. Und das ist an sich schon ein Vergnügen. Entlarvt wird hier in einer einzigen Szene, dem Treffen der beiden im Park bei einem dazu erfundenen Picknick auf einer Bank, das trügerische Spiel um Liebe und Macht als Genderdebatte um Weiblichkeitsklischees.
Eine habe die Macht geheiratet und sich in ihre Sklaverei begeben, die andere, ehedem schönere, ein lustbestimmtes Leben geführt. Jede missgönnt der anderen, was sie hatte, und bedient nichts weiter als das Klischee, wie Frauen vermeintlich ticken, der dichterischen Freiheit entsprungen. Aber auch hier findet Nunes die andere Wahrheit in Freiheit. Am Ende tauschen sie einfach die Rollen. Damit alles von vorn beginnen kann.
Thalia Theater Hamburg
Alstertor, Hamburg
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