Ein einziges kleines, zaghaftes Aber drängt sich mir auf an diesem Premierenabend:
Es will nicht ganz einleuchten, weshalb Paul Schellhorn, der berühmte Schriftsteller, so ganz selbstverständlich in Niederdeutsch plaudert, er, der hochdeutsch schreibt und vorliest und Reden hält. Sollte er seine Kindheit auf dem Land verbracht haben? Oder spricht er Platt, weil wir nun mal bei Ohnsorgs sind? Am ehesten könnte man sich vorstellen, dass er der einfachen, plumpen Anni nach dem Mund redet – zunächst aus Höflichkeit, später aus Angst – so etwa wie Senator Buddenbrook sich, dem Volk gegenüber, zu dergleichen herabließ.
Abgesehen davon ist die Vorstellung perfekt, von den zwei grandiosen Darstellern bis zu Kostümen und Dekoration.
Der Roman des amerikanischen Autors Stephen King wurde vom Engländer Simon Moore zu einem Theaterstück gemacht, von Jürgen Witt ins Plattdeutsche übersetzt und von Herma Koehn selbst bearbeitet. Stephen King macht gern Schriftsteller zu Helden oder Opfern seiner Erzählungen. Dies ist die Geschichte des Autors Paul, der eine Romanheldin erfunden hat, Misery. Deren überwältigender Erfolg fordert immer weitere Fortsetzungen einer Abenteuer-Herz-Schmerz-Serie, obwohl man Paul anmerkt, dass er selbst seine Heldin nicht gerade bedingungslos liebt.
Und es ist die Geschichte seiner Leserin, seines, wie sie selbst meint, größten Fans, Anni. Wie sie hier und da andeutet und wie man ihr ansieht, hat es das Leben nicht gerade gut mit ihr gemeint. Trost, Balsam und emotionaler Angelhaken waren ihr in den letzten Jahren die romantischen Abenteuer der schönen, stolzen und so weiter Misery, einer Frau, die Anni nie war und nie sein kann, in die sie sich hineinträumt aus ihrem kläglichen Dasein. Und nun fällt ihr ausgerechnet der Erfinder dieser Frau in die Hände!
Denn Paul verunglückt in der Einsamkeit und im Schnee mit seinem Wagen. Im Bett, am Tropf, kommt er wieder zu sich. Anni hat ihn aus seinem Auto geklaubt, in ihr bemerkenswert hässliches Heim geschleppt, seine gebrochenen Beine geschient und ihn erst mal intravenös ernährt –sie war früher Krankenschwester und besitzt noch einige entsprechende Utensilien.
Ein Blick in die Papiere des Bewusstlosen, ein Blick in sein bärtiges Gesicht und der Vergleich auf dem Buchrücken verraten ihr, mit wem sie es zu tun hat. Anni schildert ihre Verehrung für Misery und deren Schöpfer, den sie geradezu liebt, wie sie ihm mehrfach versichert.
Paul reagiert darauf zunächst leidlich geschmeichelt und etwas genervt. Er möchte möglichst schnell aus dieser unerfreulichen, unbequemen Umgebung wieder heraus, er möchte gern seine Agentin unterrichten, was mit ihm passiert ist und wo man ihn finden kann. Das liegt jedoch nicht in Annis Interesse. Sie behauptet, im Moment wären die Telefone nicht intakt, Paul soll sich gedulden.
Paul gestattet ihr das, er ist ganz neugierig, wie ihr schlichtes Gemüt auf sein neues Werk reagiert, seiner Meinung nach das Beste, das er je geschrieben hat. Denn endlich handelt es sich nicht mehr um die platte Misery-Saga, sondern um etwas kulturell viel Niveauvolleres.
Leider reagiert Anni mit einem Wutausbruch auf das Niveau, vor allem auf die ständig benutzten schmutzigen Ausdrücke.
Vorher wirkte sie noch auf eine fahrige Art ganz gemütlich, nun wird deutlich, wie gefährlich Pauls stämmige Samariterin sein kann.
Wer das fein geschnittene, liebe, humorvolle Gesicht von Herma Koehn kennt, wer sie als Herzliche, Patente, Niedliche erlebt hat, für den muss sie als kaputte Ex-Krankenschwester ein Schock sein. Kalt sieht sie aus, kalt und böse und zwischendurch guckt sie ganz leer ins Publikum, als suche sie verzweifelt nach einem klaren Gedanken oder nach sich selbst. Sie bringt Paul dazu, sein neues Manuskript zu verbrennen. Dabei begreift sie sich selbst als strenge, aber wohlmeinende Mutterfigur, die ihn zu seinem eigenen Besten zwingt.
Anni will, dass Paul Misery wiederauferstehen lässt. Sie beschafft einen Rollstuhl, eine uralte Schreibmaschine, auf der das N fehlt, sowie Papier, sie bringt den labilen Künstler, der früher nicht gerade kontinuierlich arbeitete, durch geradezu teuflische Methoden dazu, ihr täglich ein Kapitel abzuliefern. So zwingt sie ihn, Spülwasser zu trinken - das Publikum stöhnt vor Schreck, eben noch hat Herma Koehn mit dem Feudel den Bühnenboden abgewischt, und jetzt schöpft sie aus demselben Eimer in ein Glas, das Oskar Ketelhut sich hinunterquält - sie lässt ihn, der nicht laufen kann, tagelang allein liegen, bis er fast verdurstet und schließlich zum Urinbehälter greift (worauf taktvoll das Bühnenlicht ausgeht) – sie macht ihn, zunächst seiner schmerzenden Beine wegen, abhängig von Tabletten, die sie ‚Eiapopeia-Pillen’ nennt, und als der Mann ihr trotzdem zu beweglich wird, greift sie zur Axt, um ihm einen Fuß abzuhacken. Die Amputation ist sehr glaubwürdig gezeigt, weder zu reißerisch noch zu zimperlich; man würde sich nur wünschen, dass Anni das Bein eventuell vernäht, bevor sie es wieder zudeckt, um mit dem abgetrennten Fuß des inzwischen Ohnmächtigen zu verschwinden.
Die Wandlung der Frau von der etwas verstörten, aber netten alten Tante zur Horrorfigur gelingt Herma Koehn atemberaubend.
Absolut gleichrangig ist die Darstellung von Ketelhut. Sein Paul entwickelt sich innerhalb dieser zwei Stunden vom erfolgsverwöhnten schreibenden Bürger über das schockierte, angstgebeutelte Opfer hin zu einer neuen, fatalistischen Stärke, die ihn den ganzen Albtraum teilweise sogar mit Humor betrachten lässt.
Im Anschluss an das Stück wurde Herma Koehn, die seit 40 Jahren dem Haus verbunden ist, mit der Ohnsorg-Verdienstmedaille ausgezeichnet. Die Premiere fand am 19.04.2009 statt.
Copyright Fotos: Jutta Schwöbel
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